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MELDUNG/584: Polizeigesetz Sachsen - Kritik an geplanter Gesichtserkennung im Grenzgebiet (Digitalcourage)


digitalcourage e.V. - Pressemitteilung vom 12. November 2018

Polizeigesetz Sachsen: tschechische, polnische und deutsche Kritik an geplanter Gesichtserkennung im Grenzgebiet


Die Grundrechteorganisation Digitalcourage, ihre tschechische Partnerorganisationen IURE und die polnische Panoptykon Foundation kritisieren die geplante präemptive [1] automatische Gesichtserkennung im Grenzgebiet zwischen Sachsen, Tschechien und Polen scharf. Der Entwurf für ein neues Sächsisches Polizeirecht wird am Montag, 12. November 2018 im sächsischen Landtag im Rahmen einer Expertenanhörung diskutiert.

In einer Stellungnahme kritisiert Digitalcourage darüber hinaus den Kurs der Überwachungspolitik, den die Regierungskoalition aus CDU und SPD mit der geplanten Reform verfolgt. Digitalcourage warnt insbesondere vor dem geplanten Einsatz von V-Personen und Maschinengewehren, vor dem Begriff der "abstrakten Gefahr", der Betroffenheit von Kontakt- und Begleitpersonen und vor der geplanten präemptiven Überwachung der Telekommunikation [2].

Präemptive automatische Gesichtserkennung im Grenzgebiet Digitalcourage kritisiert in einer Stellungnahme unter anderem § 59 des geplanten neuen Sächsischen Polizeivollzugsdienstgesetzes (SächsPVDG): "Einsatz technischer Mittel zur Verhütung schwerer grenzüberschreitender Kriminalität".

"Die geplante Grenzüberwachung verhängt über große Teile Sachsens eine Art Ausnahmezustand und ist ein Akt des Misstrauens gegenüber unseren tschechischen und polnischen Nachbarn", sagt Friedemann Ebelt von Digitalcourage. "Artikel 12 der Verfassung des Freistaates fordert grenzüberschreitende regionale Zusammenarbeit - nicht präemptive, automatisierte Überwachung."

IURE und Abgeordnete der tschechischen Piraten-Partei haben angekündigt, sich zum Thema an den tschechischen Außenminister Tomáš Petříček zu wenden:

"Aus der Sicht der tschechischen Bürger betrachten wir die geplanten Kamerasysteme in einer Tiefe von 30 Kilometern entlang der Grenze als Gefahr. (...) Obwohl das erklärte Ziel die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität ist, darf nicht übersehen werden, dass es sich um einen umfassenderen Eingriff in die Rechte aller Grenzüberschreitenden handelt.", sagt der IURE-Anwalt Jan Vobořil [3].

"Der Einsatz von Systemen zur Gesichtserkennung bedeutet, dass jede Person als potenziell verdächtig behandelt wird. Diese Pläne demonstrieren einen Mangel an Vertrauen zwischen polnischen und deutschen Polizeibeamten", sagt Wojciech Klicki, Leiter der Rechtsabteilung der polnischen Panoptykon Foundation. "Die Erfassung von personenbezogenen Daten kann nur in konkreten und begründeten Einzelfällen gerechtfertigt sein. In allen anderen Fällen sind derartige Systeme im Kern ein Mittel der Massenüberwachung der lokalen Bevölkerung und Pendlerinnen und Pendlern aus Polen."

"Digitalcourage beobachtet mit großer Sorge, dass Justiz und Polizei in Sachsen mit den geplanten Änderungen einen präemptionsstaatlichen Charakter erhalten sollen", sagt Friedemann Ebelt von Digitalcourage. "Die geplante präemptive Telekommunikations- und Videoüberwachung inklusive der Datenverarbeitungsbefugnisse verlagern den Fokus polizeilicher Arbeit von Ermittlungsarbeit zu Überwachungsarbeit."

Große Teile Sachsens betroffen

Zur intensiven Überwachungszone vorgesehen sind 30 % bis 50 % der gesamten Fläche des Freistaats, genauer: nahezu die gesamten Landkreise Görlitz, Sächsische Schweiz-Osterzgebirge, der Erzgebirgskreis, weite Teile des Vogtlandkreises sowie des Landkreises Mittelsachsen. Das definierte Grenzgebiet erstreckt sich bis Dresden und Chemnitz.

Kriminalität mit Grenzbezug sinkt

"Die Zahl der Straftaten in den Gemeinden entlang der sächsischen Außengrenze zu Polen und Tschechien ist so niedrig, wie seit zehn Jahren nicht mehr." (PM der Polizei Sachsen vom 23.03.2018) https://www.polizei.sachsen.de/de/MI_2017_55718.htm

Videoüberwachung

Die Konferenz der unabhängigen Datenschutzbehörden des Bundes und der Länder kommt in ihrer Entschließung vom 30. März 2017 zum Ergebnis: "Der Einsatz von Videokameras mit biometrischer Gesichtserkennung kann die Freiheit, sich in der Öffentlichkeit anonym zu bewegen, gänzlich zerstören. Es ist kaum möglich, sich solcher Überwachung zu entziehen oder diese gar zu kontrollieren" (Datenschutzkonferenz 2017)
https://www.datenschutzkonferenz-online.de/media/en/20170330_en_gesichtserkennung.pdf

Digitalcourage fordert Abbruch des Gesetzgebungsverfahrens Das Sächsische Innenministerium hat Nachfragen von Digitalcourage zu den geplanten Änderungen bisher nicht beantwortet. Nach Einschätzung von Digitalcourage ist zur Zeit davon auszugehen, dass mildere Mittel als Alternativen für die geplante Grenzüberwachung nicht geprüft wurden und, dass eine notwendige Datenschutzfolgeabschätzung für § 59 nicht erstellt wurde. Aus diesen Gründen fordert Digitalcourage einen Stopp des Gesetzgebungsverfahrens, besonders weil die Sorgfaltspflicht bei derart gravierenden Grundrechtseingriffen Vorrang hat.


Demonstration am 17. November in Dresden und weitere Termine Am 17.11. ruft das Bündnis "Polizeigesetz stoppen" zu einer Demonstration gegen das geplante neue Polizeirecht auf:
https://polizeigesetz-stoppen.de/termine/?mc_id=48

Das Bündnis Polizeigesetz stoppen! ruft zu Aktionswoche vom 10. bis 18. November 2018 auf:
https://polizeigesetz-stoppen.de

Weitere Termine:
https://polizeigesetz-stoppen.de/termine/


Anmerkungen

[1] Zum Begriff präemptiv siehe S. 5 der Stellungnahme von Digitalcourage. Kurz: Nach Einschätzung von Digitalcourage sind die geplanten verschärfenden Maßnahmen nicht als präventiv (verhindernd, vorbeugend) zu bewerten, sondern als präemptiv (im Voraus eingreifend).

[2] https://digitalcourage.de/blog/2018/stellungnahme-polizeigesetz-sachsen
PDF: https://digitalcourage.de/sites/default/files/2018-11/Digitalcourage_Stellungnahme_Polizeirecht_Sachsen_Nov_2018_0.pdf

[3] Pressemitteilung von IURE und tschechischen Piraten:
http://www.iure.org/15/tiskova-zprava-saska-policie-se-chysta-podel-hranic-s-cr-instalovat-kamery-s-rozpoznavanim-oblice


Weitere Informationen:

• Pressemitteilung von Amnesty International:
http://amnesty-sachsen.de/pressemitteilungen/pm-neues-saechsisches-polizeigesetz-stellt-buerger_innen-unter-generalverdacht-und-gefaehrdet-die-menschenrechte/

• Entwurf der Sächsischen Polizeireform
http://edas.landtag.sachsen.de/viewer.aspx?dok_nr=14791&dok_art=Drs&leg_per=6&pos_dok=0&dok_id=undefined
(§ 59 auf PDF-Seite 45 & Stellungnahmen ab PDF-Seite 287)

• Polizeiliche Kriminalstatistik vorgestellt
https://www.polizei.sachsen.de/de/MI_2017_55718.htm

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Quelle
Pressemitteilung vom 12. November 2018
digitalcourage e.V.
Marktstraße 18, 33602 Bielefeld
Telefon: +49-521-1639-1639, Fax: +49-521-61172
E-Mail: mail@digitalcourage.de
Internet: www.digitalcourage.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. November 2018

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