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MELDUNG/277: Bundesverfassungsgericht verweigert NATO-Opfern Entschädigung (ECCHR)


European Center for Constitutional and Human Rights e.V. (ECCHR) Pressemitteilung vom 4. September 2013

Bundesverfassungsgericht verweigert NATO-Opfern Entschädigung

Beschwerde zum Luftangriff auf die Brücke von Varvarin trotz verfassungsrechtlicher Bedenken abgelehnt



Berlin, 4. September 2013 - Das Bundesverfassungsgericht hat in einem lang erwarteten Beschluss (Az. 2 BvR 2660/06) die Beschwerde von 34 Opfern und Hinterbliebenen des NATO-Luftangriffs auf eine Brücke im serbischen Dorf Varvarin im Jahr 1999 abgelehnt. Die Betroffenen hatten bereits 1999 die Bundesrepublik Deutschland vor dem Landgericht Bonn auf Entschädigung verklagt. Ihnen bleibt durch den Spruch aus Karlsruhe weiterhin der Zugang zu einem Entschädigungsverfahren verwehrt. Das ECCHR wird daher mit den Klägern die Erhebung einer Beschwerde zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) prüfen.

"Es ist skandalös, dass die Geschädigten dieses Kriegsverbrechens auch knapp fünfzehn Jahre nach der Bombardierung noch keinen gerechten Ausgleich ihrer Schäden erhalten und dies obwohl die Bundesrepublik Deutschland und ihre NATO-Bündnispartner für sich in Anspruch nehmen, den Krieg aus humanitären Gründen geführt zu haben", sagte Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck zum Ausgang dieses Verfahrens.

Trotz der Ablehnung kritisiert das Gericht in dem Beschluss einige Aspekte der Entscheidungen der Vorinstanzen, die für aktuelle und zukünftige Verfahren von Bedeutung sind.

Das Bundesverfassungsgericht rügte zum einen ausdrücklich, dass die Vorinstanzen den Klägern die volle Beweis- und Darlegungslast für den tatsächlichen Geschehensablauf, also die Planung und Durchführung der Bombardierung, militärische Interna auferlegt hatten, obwohl dies für serbischen Kläger offenkundig unmöglich war. Dies wird für aktuelle und künftige Verfahren weitreichende Bedeutung haben, wie etwa im laufenden Zivilverfahren zum Luftangriff bei Kunduz.

Zum anderen beanstandete das Bundesverfassungsgericht, dass die Fachgerichte der Bundesregierung einen gerichtlich nicht überprüfbaren Beurteilungsspielraum für die Erstellung so genannter Ziellisten eingeräumt hatten. Diese Listen enthalten Objekte, die ein vermeintlich legitimes militärisches Angriffsziel darstellten. Das Oberlandesgericht Köln und der Bundesgerichtshof waren in ihren Entscheidungen der Auffassung der Bundesregierung gefolgt, demzufolge eine Überprüfung derartiger Listungen im außen- und verteidigungspolitischen Ermessen stehen und nicht justiziabel sei.

Mit der Entscheidung des Verfassungsgerichts bleibt allerdings den Betroffenen weiterhin der Zugang zu Entschädigungsklagen für den rechtswidrigen Angriff der NATO verwehrt. Weder gegen die NATO direkt, noch gegen am NATO-Einsatz beteiligte Nationen wie die Bundesrepublik Deutschland konnte bislang eine Entschädigung für den Verlust der Angehörigen erreicht werden. Die Forderung, den Geschädigten von Kriegshandlungen einen Weg vor die ordentlichen Gerichte zu eröffnen, bleibt damit aktuell.

Dem Verfahren lag die Bombardierung einer Brücke im serbischen Hinterland während der NATO-Operation Allied Force im Zuge des Kosovo-Krieges zugrunde. Am 30. Mai 1999, einem hohen kirchlichen Feiertag und Markttag mit vielen Menschen auf den Straßen und Plätzen, hatten die Flugzeuge die Brücke in der Kleinstadt Varvarin zweimal angegriffen und dabei zehn Menschen getötet und 30 weitere, davon 17 schwer, verletzt. Nachdem mehrere deutsche Gerichte Schadensersatzansprüche bislang ablehnten, wandten sich die Vertreter der Betroffenen an das Bundesverfassungsgericht.

Das ECCHR hat die Rechtsanwälte Sönke Hilbrans und Wolfgang Kaleck in dem Verfahren unterstützt. Die Professoren Michael Bothe (Frankfurt am Main) und Andreas Fischer-Lescano (Bremen) reichten als Gutachter zwei Stellungnahmen auf Seiten der Betroffenen ein.

Schriftsätze, Urteile und mehr:
http://www.ecchr.de/index.php/varvarin.html

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Quelle:
Pressemitteilung vom 4. September 2013
European Center for Constitutional and Human Rights e.V. (ECCHR)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. September 2013