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MELDUNG/051: Kundus-Opferanwälte fordern Entschädigung und Fortführung des Ermittlungsverfahrens (ECCHR)


European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) - Pressemitteilung vom 10. Juni 2010

Kundus-Opferanwälte fordern Entschädigung und Fortführung des Ermittlungsverfahrens


Berlin, 10. Juni 2010. - Die Rechtsanwälte der Opfer und Hinterbliebenen des Luftangriffs vom 4. September 2009 bei Kundus (Afghanistan), Karim Popal, Bernhard Docke, Dr. Reiner Geulen, Dr. Remo Klinger sowie Wolfgang Kaleck, Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), haben auf einer Pressekonferenz am 10. Juni 2010 in Berlin konkrete rechtliche Schritte angekündigt. Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck hat beantragt, dass die strafrechtlichen Ermittlungen gegen Oberst Klein, die die Bundesanwaltschaft am 19. April 2010 einstellte, von der Generalstaatsanwaltschaft Dresden fortgeführt werden.

Am 4. September 2009 bombardierten amerikanische F-15 Kampfjets zwei von Talibankämpfern entführte Tanklastzüge, die in einem Flussbett nahe der nordafghanischen Stadt Kundus feststeckten. Der Einsatzbefehl kam vom deutschen Bundeswehr-Oberst Georg Klein und wurde den Piloten von Hauptfeldwebel Markus Wilhelm übermittelt. Bei dem Angriff kamen über 100 Menschen ums Leben. Die meisten waren Zivilisten, darunter auch Jugendliche und Kinder.

Die Anwälte der Opfer und Hinterbliebenen teilen die Auffassung des Bundesministers der Verteidigung, dass das Bombardement vom 04. September 2009 "unangemessen" war. Inzwischen ist bekannt - und auch im Wesentlichen unstrittig -, dass die Vertreter der Bundeswehr mit ihrem Einsatz bei Kundus zwingende Einsatzregeln und völkerrechtliche Grundsätze verletzt haben.

Die Rechtsanwälte Geulen und Klinger haben daher mit Schreiben vom 20. Mai 2010 gegenüber dem Bundesministerium der Verteidigung substantiiert dargelegt, dass die Opfer und Hinterbliebenen gegen die Bundesrepublik Schadensersatzansprüche, insbesondere aus dem Staatshaftungsrechts geltend machen können, da sich der Einsatz - jedenfalls rückblickend - als "unangemessen" (und daher rechtswidrig) erweist.

Das Bundesministerium der Verteidigung hatte zunächst im April 2010 die Verhandlungen mit den bisherigen Rechtsvertretern der Opfer und Hinterbliebenen abgebrochen. Aufgrund der dezidierten Darlegungen im Schreiben der jetzt (neben den Rechtsanwälten Popal und Docke) vertretenden Rechtsanwälte Geulen und Klinger vom 20. Mai 2010 hat das Ministerium jedoch in einem gestern eingegangenen Schreiben einen neuen Gesprächstermin vorgeschlagen, den die Anwälte angenommen haben; der Termin wird noch im Juni 2010 stattfinden.

Die Rechtsanwälte Geulen und Klinger erklärten, das bisherige Verhalten des Bundesministeriums der Verteidigung sei nicht akzeptabel:

a) "Es ist zunächst scharf zurückzuweisen, dass das Bundesministerium der Verteidigung die Verhandlungen mit den bisherigen Rechtsanwälten der Opfer und Hinterbliebenen abgebrochen hat. In ihrem Schreiben vom 20. Mai 2010 haben die Rechtsanwälte Geulen und Klinger im einzelnen dargelegt, dass nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Bundesregierung (bzw. ein Bundesministerium) die zwingende Verpflichtung hat, die Vertretung Betroffener durch bevollmächtigte deutsche Rechtsanwälte zu respektieren. In besonderem Maße gilt dies für ausländische Mandanten, die im deutschen Recht nicht sachkundig sind.

Hieraus folgt, dass es rechtlich ausgeschlossen ist, dass das Bundesministerium der Verteidigung versucht, unter Umgehung der bevollmächtigten Rechtsanwälte mit den Opfern und Hinterbliebenen zu verhandeln.

b) Wir erklären hierzu, dass unsere Mandanten es nachdrücklich abgelehnt haben und weiter ablehnen werden, mit dem Bundesministerium der Verteidigung unmittelbar über Entschädigungsfragen zu verhandeln, dass solche Verhandlungen auch bisher nicht stattgefunden haben und dass insbesondere keinerlei Zahlungen oder Entschädigungen an die Opfer und Hinterbliebenen geleistet worden sind.

c) Wir machen gegenüber dem Bundesministerium der Verteidigung bei getöteten Personen die Forderungen geltend, die das Ministerium in der Vergangenheit auch in anderen vergleichbaren Fällen (wie an Straßensperren getöteten Personen) gezahlt hat. Dies sind 33.000 USD (etwa 28.000,00 EUR); dieser Betrag ist bewusst maßvoll gewählt und liegt an der unteren Grenze dessen, was nach deutschem Recht in einer Schadensersatzklage zu fordern ist."

Rechtsanwalt Dr. Klinger erklärte weiter:

"Sollten die jetzt wieder beginnenden Gespräche nicht zu einem erfolgreichen Abschluss führen, werden wir für die Opfer und Hinterbliebenen umgehend Schadensersatzklagen gegen das Bundesministerium der Verteidigung erheben und die Zahlung der Schadensersatzforderungen gerichtlich durchsetzen. Wir sind uns eines Klageerfolgs sicher. Denn anders als im Strafrecht kommt es im Zivilrecht nicht darauf an, ob Oberst Klein schon in der Nacht des Bombardements erkennen konnte, dass der Angriff Unschuldige töten wird. Ausreichend ist, dass sich das Bombardement jedenfalls nachträglich als "unangemessen" darstellte. Dies hat der Verteidigungsminister selbst bestätigt. Nach den Grundsätzen des deutschen Staatshaftungsrechts geben wir dem Bundesministerium der Verteidigung in einem Schadensersatzverfahren keine Chancen."

Rechtsanwalt Dr. Geulen sagte:

"Wir erwarten, dass bei den in Kürze zu führenden Verhandlungen die Schadensersatzforderungen anerkannt werden und die Verhandlungen und abschließenden Zahlungen umgehend abgeschlossen sind."

In dem Strafverfahren gegen Oberst Klein hat Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck am 9. Juni 2010 bei der Generalstaatsanwaltschaft Dresden die Fortführung der Ermittlungen beantragt. Diese ist zuständig für Straftaten nach dem Strafgesetzbuch, die Oberst Klein durch den Luftangriff bei Kundus begangen haben könnte. Die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe war nur für Taten nach dem Völkerstrafrecht, namentlich Kriegsverbrechen, zuständig. Da gegen die Einstellung dieser Ermittlungen derzeit nicht vorgegangen wird, ist nunmehr ausschließlich die Generalstaatsanwaltschaft Dresden zuständig.

Die Rechtsanwälte der Geschädigten werfen der Bundesanwaltschaft die eklatante Missachtung grundlegender Opferrechte vor: Bis heute haben die Anwälte trotz eines rechtlichen Anspruchs keinen förmlichen Einstellungsbescheid erhalten, obwohl sie schon vor Monaten die rechtliche Vertretung von Opfern und Hinterbliebenen angezeigt hatten. Das erschwert ein rechtliches Vorgehen erheblich, denn die Gründe der Einstellung werden lediglich in der Pressemitteilung der Bundesanwaltschaft vom 19. April 2010 wiedergegeben. Diese ist in ihren Ausführungen jedoch derart knapp gehalten, dass zum Teil nicht einmal erkennbar ist, von welcher Faktenlage die Bundesanwaltschaft ausgegangen ist. Mit wechselnden und noch dazu wenig überzeugenden Begründungen hat die Bundesanwaltschaft den Rechtsanwälten bislang auch jede Einsicht in die Verfahrensakten verweigert.

Die Rechtsanwälte werfen der Bundesanwaltschaft außerdem eine völlig unzureichende Ermittlungsarbeit vor. So hat die Bundesanwaltschaft noch keinen einzigen Geschädigten des Luftangriffs als Zeugen vernommen und in ihrer Presseerklärung vom 19. April 2010 selbst ausgeführt, dass "zur genauen Anzahl der Opfer des Luftangriffs ... die hier zur Verfügung stehenden Ermittlungsmöglichkeiten keine hinreichend sichere Aufklärung bringen konnten". Eine Liste der afghanischen Regierung, die belegen soll, dass jedenfalls die meisten Opfer bewaffnete Kämpfer und damit legitime Ziele des Angriffs waren, erweist sich in wesentlichen Punkten als falsch. Mit einer derart ungenauen Aufklärung des Sachverhalts verletzt die Staatsanwaltschaft die rechtliche Pflicht, strafrechtlich relevanten Tatsachen erschöpfend zu ermitteln.

Das European Center for Constitutional and Human Rights e.V. hat nun ein Gutachten zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Oberst Klein und Hauptfeldwebel Wilhelm veröffentlicht (abrufbar unter http://www.ecchr.eu/FALL_KUNDUS.html). Angesichts der wenigen öffentlichen Informationen zum Luftangriff kann es sich dabei nur um eine vorläufige Einschätzung handeln.

Rechtsanwalt Wolfgang Kaleck sagte:

"Die Generalstaatsanwaltschaft Dresden muss die strafrechtlichen Ermittlungen im Fall Klein sorgfältig und umfassend führen. Dabei werden die Untersuchungen der Anzahl und der Identität der Opfer ergeben, dass viele Zivilisten getötet wurden. Bereits unsere Analyse der öffentlich zugänglichen Fakten ergibt genügend Anhaltspunkte für eine Strafbarkeit von Oberst Klein wegen Mordes, zumindest aber wegen Fahrlässiger Tötung."


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Quelle:
Pressemitteilung vom 10. Juni 2010
European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) e. V.
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Internet: www.ecchr.eu


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juni 2010