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INTERNATIONAL/071: Kolumbien - Gericht ordnet Abbau von Militäranlagen auf Indigenengebiet an (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 6. August 2012

Kolumbien: Verfassungsgericht ordnet Abbau von Militäranlagen auf Indigenengebiet an

von Constanza Vieira



Bogotá, 6. August (IPS) - In Kolumbien hat das Verfassungsgericht die Streitkräfte aufgefordert, Militärinstallationen aus den Territorien der indigenen Jiw und Nükak im Süden des Landes zu entfernen. Als Begründung hieß es, die beiden Ethnien seien infolge des Bürgerkriegs und fehlender staatlicher Schutzvorkehrungen physisch und kulturell vom Aussterben bedroht. Die Armeeführung kündigte an, das Urteil anzufechten.

Die feindliche Reaktion der Militärspitze auf das Urteil und deren Zorn über die Ankündigung der ethnischen Nasa, alle Kriegsakteure aus ihren Territorien im südwestlichen Departement Cauca zu entfernen, veranlasste die Vereinigung der nationalen Indigenenführer zu massiver Kritik an der Regierung von Staatspräsident Juan Manuel Santos. Diese versuche die ersten Völker des Landes durch eine Schmutzkampagne in Misskredit zu bringen.

Die 'drängende Sicherheitsmaßnahme' des Verfassungsgerichts zugunsten der zwei der insgesamt 34 kolumbianischen Ethnien datiert bereits vom 25. Juli, wurde aber erst am 2. August bekannt. Für die Jiw und Nükak muss die Regierung nun Schutzvorkehrungen ergreifen, um ihren Untergang zu verhindern.

Eile ist geboten. Das Volk der Jiw besteht nur noch aus 1.300 Mitgliedern. Drei Viertel von ihnen sind durch den Bürgerkrieg aus ihrem angestammten Lebensraum, dem Amazonas-Gebiet, vertrieben worden. Die Nükak-Nomaden sind mit 500 Angehörigen noch schlechter dran. Sie sind die letzten Überlebenden dieses 1988 offiziell letzten in Kolumbien entdeckten Volkes.

Nach Schätzungen der Beratungsstelle für Menschenrechte und Vertreibung (Codhes) sind 6,5 Prozent der durch den Binnenkrieg vertriebenen 5,2 Millionen Kolumbianer Indigene. Der Anteil der Ureinwohner an der 46 Millionen Einwohner zählenden Bevölkerung liegt bei höchstens 3,4 Prozent.


Frist von einem halben Jahr

Nun hat die Armee bis Februar 2013 Zeit, um die Anlagen auf einem sechs Hektar großen Areal auf Jiw zu entfernen. Das Gelände liegt in der Reservation der Jiw. An diesem Ort im südlichen Departement von Guaviare unterhält das Heer eine Schule für Sondereinsatztruppen und die Marineinfanterie 19 Installationen, darunter ein Schwimmbad, einen Beobachtungsposten, ein Aquädukt, eine Schule und zwei militärische Übungsplätze.

1988 hatte das Verteidigungsministerium die Genehmigung für die Verwendung von 250 Hektar Land in der gleichen Zone erhalten. Dem Verfassungsgericht zufolge können die Militärs sich auch weiterhin in dem Gebiet aufhalten, ohne für die indigenen Gemeinschaften eine Gefahr darzustellen.

"Die nationale Sicherheit wird in keiner Weise durch einen Umzug dieser Anlagen beeinträchtigt. Wohl aber gefährden die Installationen die indigenen Jiw, die in dem Schutzgebiet Barrancón leben", erläuterte der Verfassungsrichter Luis Ernesto Vargas.

Der Oberkommandierende der Streitkräfte, General Alejandro Navas, reagierte auf den Beschluss mit der Ankündigung einer "juristischen Schlacht". Das umstrittene Gebiet sei ein Drogenkorridor und somit für die territoriale Kontrolle von strategischer Bedeutung. Auch Verteidigungsminister Juan Carlos Pinzón kündigte an, das Urteil des Verfassungsgerichts anzufechten. "Die Streitkräfte bleiben."

Dem Gericht zufolge leben die Jiw und Nükak in ständiger Gefahr, von den Akteuren des Bürgerkriegs sowie von anderen bewaffneten Gruppen und Siedlern zwangsrekrutiert, bedroht und ermordet zu werden. Sie würden zum Drogenanbau gezwungen und mit Jagd- und Fischereiverboten belegt.

Im Februar 2007 wurden bei der Explosion eines Sprengsatzes 16 erwachsene und minderjährige Jiw verletzt. Zuvor hatten die Streitkräfte eine indigene Autorität dazu gebracht, ein Papier zu unterschreiben, das dem Militär einen Teil des Territoriums zur Errichtung seiner Basis zusprach, wie aus Unterlagen der von Jesuiten geführten Datenbank für Menschenrechte und politische Gewalt hervorgeht.


Nasa machen mobil

Das Urteil des Verfassungsgerichts hat auch deshalb für Aufruhr gesorgt, weil es in etwa zeitgleich mit der Bekanntgabe der Nasa zusammenfiel, den Krieg auf ihren Territorien nicht länger zu dulden und alle Konfliktparteien - Militärs, Aufstandspolizei, linke und rechte Kämpfer - aus ihrem Land zu entfernen.

Tatsächlich hatten mit Stöcken bewaffnete Nasa im Juli eine Armeeeinheit von deren lokalem Stützpunkt vertrieben. Stunden später eroberten die Soldaten das Terrain zurück - etliche Indigene wurden dabei verletzt. Ferner nahmen die Nasa die Mitglieder einer Militäreinheit fest, die einen Indigenen getötet hatten und zerstörten mehrere Guerilla-Camps, verhafteten die Rebellen und stellten einige von ihnen vor ein indigenes Gericht.

In den Medien wurde die Demilitarisierungsaktion der Nasa mehrheitlich kritisiert. Gespräche mit der Regierung sind bislang gescheitert.

"Das Beste, was uns Indigenen passieren kann, ist die Umsetzung der Beschlüsse des Verfassungsgerichts", meinte Leonor Zalabat, Führerin der indigenen Arhuaca und Menschenrechtsbeauftragte der Vereinigung der indigenen Tayrona. "Wir Indigenen sind wie die Vögel. Wir ändern unser Federkleid, doch nie unseren Gesang", sagte sie. "Unsere Territorien sind für den Erhalt allen Lebens wichtig. Was den indigenen Territorien zustößt, wird sich auf die Menschheit auswirken." (Ende/IPS/kb/2012)


Links:

http://www.codhes.org/
http://resguardoarhuacocit.com.co/
http://www.ipsnoticias.net/nota.asp?idnews=101327

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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. August 2012