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MEINUNG/041: Zum "Neuaufguss" der ostdeutschen Transferfrage (Karl Mai)


Zum "Neuaufguss" der ostdeutschen Transferfrage

Ein aktueller Debatten-Anstoß

von Karl Mai, 26. Mai 2014



Die Quantifizierung der "Kosten der deutschen Einheit" und ihres Hauptbestandteils der ostdeutschen Transfereinkommen hat in jüngster Zeit in der deutschen medialen Öffentlichkeit "viel Staub aufgewirbelt". Dabei wurden z.B. von Prof. Klaus Schröder (Berlin) die gigantische Summe von ca. 2 Billionen Euro netto geleistete "Kosten der deutschen Einheit" genannt, die von anderen Experten und von Politikern als unsachliche bzw. unkorrekte, ja maßlose Übertreibung zurückgewiesen wurden.

Am Ende der ersten emotionalen Aufwallung der Debatte klagte Prof. Schröder, die Bundesregierung solle endlich die Wirtschaftsforschung beauftragen, die genauen Daten zu ermitteln und zu veröffentlichen. Diese Forderung übergeht, dass in der Literatur schon längst umfangreiche, wenn auch nicht bis zum Jahre 2013 reichende Untersuchungen zum Problemkreis der innerdeutschen "Transferzahlungen" vorliegen. Auf einige oft verkannte Aspekte des deutschen Transferproblems wird nachstehend, in knapper Auswahl, näher eingegangen.


Westdeutsche Sonderkonjunktur und ihre Dauerwirkungen

Die deutsche Vereinigung brachte ab 1990 für die westdeutsche Wirtschaft eine Sonderkonjunktur, die sich als Folge der finanziellen West-Ost-Transfers einstellte und permanente Wirkungseffekte zeitigte. Die tatsächliche westdeutsche Entwicklung des BIP gewann durch die Transfers eine Dynamik, die bedeutend über jener lag, die ohne die Vereinigung trendmäßig prognostiziert werden konnte, was in einer umfangreichen Simulationsstudie aufgezeigt wurde. "Der Nachfrageimpuls durch die Wiedervereinigung führte in Westdeutschland zur Ausdehnung der Produktion sowie der Beschäftigung. Seither liegt die Bruttowertschöpfung in Westdeutschland deutlich über dem vom IWH-Modell ohne Wiedervereinigung für Westdeutschland simulierten Niveau. In der Summe (für die Jahre 1990 bis 1999) entspricht die Differenz in etwa dem von West- nach Ostdeutschland geleisteten Nettofinanztransfers." (G. Müller in: Brümmerhoff, a.a. O., S. 58 und 51) Diese Wertung wurde von Ulrich Busch ergänzt durch die Bemerkung: "Anfangs überstieg der derart ermittelte 'Vereinigungsgewinn' Westdeutschlands sogar die 'Kosten' der Transferzahlungen, wodurch Westdeutschland eindeutig als der ökonomische Nettogewinner des Einigungsprozesses erschien." U. Busch, a.a.O., Fußnote 219, S.350) (Hervorhebung von mir - K.M.)

Die Beachtung dieses transferbedingten Mechanismus des gesamtdeutschen Wirtschaftskreislaufes lässt den ideologisch motivierten Horror vor der "Höhe der Netto-Transfers" verblassen. Rechnet man den volkwirtschaftlichen Effekt der demografischen Ost-West-Migrationsgewinne extra, so kam das IWH-Halle schon 2009 zur Einschätzung, dass die Bruttowertschöpfung dadurch in Westdeutschland um 60 bis 70 Milliarden Euro pro Jahr anstieg. Entsprechend wuchsen die fiskalischen Einnahmen der öffentliche Haushalte dort gewaltig an.


Zur Höhe des derzeitigen ostdeutschen Exportüberschusses

Kaum bekannt ist die Tatsache, dass die ostdeutsche Wirtschaft in ihrer eigenen Leistungsbilanz seit dem Jahre 2001 permanent Überschüsse ausweist, die der privaten Exportoffensive entspringen und die ins Ausland abfließen. Dadurch gehen dem deutschen Fiskus jährlich, etwa seit 2005, ca. 40 Mrd. Euro an inländischem "Faktoreinkommen" verloren, welches an gebietsfremde Eigentümer abfließt. (IWH-Halle, Sonderheft 1/2009, S. 86, Grafik) Die Höhe dieser Summe müsste in die Anrechnung auf die empfangenen Mittel für die Wirtschaftsförderung als Gegenrechnung unbedingt ausgewiesen werden. Hier stehen von 1991 bis 1998 aufsummierte 46 Mrd. Euro für die Wirtschaftsförderung und obige jährliche 40 Mrd. Euro aus privaten ostdeutschen Kapitalexporten zum Vergleich an. (Brümmerhoff, a.a.O., S. 17, Tabelle 2-1, Umrechnung aus DM-Angaben)

Allein schon diese Tatsache kann die politisch motivierte Heuchelei der über die Höhe der Transfers empörten Experten und Medienvertreter offenbaren.


Zum Faktor fiskalische Auslandsverschuldung

Hier ist daran zu erinnern, dass der deutsche Fiskus jahrelang öffentlich kaum bemerkt, aber erfolgreich seine innere Verschuldung wegen staatlicher West-Ost-Transfers zunehmend durch ausländische Gläubiger refinanziert hat, so dass die deutschen originären Kapitaleinkommen und Kapitalvermögen geschont wurden. Das Volumen der fiskalischen Auslandskredite wuchs z.B. allein zwischen 1990 bis Ende 2003 um gigantische 426,3 Mrd. Euro an. (Karl Mai in: Busch/Mai/Steinitz (Hrsg.) a.a.O., S. 222, 247 f.) Ende 2013 betrug der Anteil ausländischer Gläubiger des Fiskus ca. 40 % oder 1,26 Billionen Euro (!) - darunter 1,1 Billionen Euro langfristige Wertpapiere - der bestehenden Gesamtschulden aller öffentlichen Haushalte. (Bundesbank, Zahlungsbilanzstatistik März 2014).

Daraus kann nur die Erkenntnis folgen, dass auf diese Weise der Anstieg der staatlich-fiskalischen gesamtdeutschen Vereinigungsverschuldung nach 1990 in keiner Weise die Marktexpansion der Westkonzerne in den östlichen Bundesländern sowie ihre globale Investitionsstrategie behindert hat, denn der westdeutsche Kapitalexportüberschuss (ebenso wie der ostdeutsche) erreichte neue Rekorde. Es besteht vielmehr der gesicherte Eindruck, dass das Ausland den deutschen Staatshaushalt überaus massiv und hochgradig bei den innerdeutschen Transferzahlungen gestützt hat.


Fazit

Es ist im Grunde beschämend, wenn sich fast 25 Jahre nach der deutschen Vereinigung einige deutsche Ökonomen und Politiker noch mit längst als "erledigt" anmutenden Fragestellungen herumschlagen. Diese Leute beweisen immer wieder ihre anhaltende Ignoranz und hartnäckigen Vorurteile. Dabei entsteht der Eindruck, dass z.B. neoliberal dominierten Politologen grundlegende Schwächen unterliefen: 1. sie verzichteten auf eine zeitliche Abgrenzung der Transfers nebst deren Unterteilung nach verschiedenen Etappen und 2. sie haben keine hinreichende inhaltlich-strukturelle Aufgliederung der Transfereinkommen sowie keine Angaben zu deren zeitlich-institutionellem Wandel aufgezeigt.

Ein Hilferuf nach regierungsoffiziellen Bekundungen zum Transferproblem zeigt damit für einen Wissenschaftler beinahe groteske Züge, bestätigt gleichzeitig aber auch, wie wenig der deutsche medienhörige Leser im allgemeinen die Zeitgeschichte durchschaut.

Zum Schluss noch ein denkwürdiges Zitat von Autoren aus der AG Alternative Wirtschaftspolitik: "Von nachhaltiger wirtschaftlicher Bedeutung ist, dass die Transfers ... nicht in Ost-, sondern in Westdeutschland einkommenswirksam werden und letztlich dort für zusätzlichen Konsum und zusätzliche Investitionen sowie zur Ersparnisbildung zur Verfügung stehen. ... In den alten (West-) Ländern dagegen führt der Transferkreislauf zu einem permanenten Einkommens- und Produktionsüberschuss und zu einer Zunahme des Produktionspotentials, insbesondere im Bereich handelbarer Güter, sowie zu einem Zuwachs an Vermögen... Es erhöhte sich die Kapazitätsauslastung, das Produktionsniveau stieg, ebenso die Beschäftigung, die Faktoreinkommen, die Steuer- und Beitragseinnahmen usw. Allein letztere belaufen sich auf mehr als 40 Milliarden Euro jährlich..." (AG Alternative usw., a.a.O. S. 102, 103)

Diese knappe Erläuterung des Transferkreislaufs für Westdeutschlands permanenten Nutzen aus dem innerdeutschen Wirtschaftsablauf ist wenig hinzuzufügen - sie spricht für sich selbst.


Literaturauswahl:

AG Alternative Wirtschaftspolitik "Deutsche Zweiheit ... Bilanz der Vereinigungspolitik" , 2010, PapyRossa Verlag

Brümmerhoff, Dieter (Hrsg.) "Nutzen und Kosten der Wiedervereinigung", 2000, Nomos Verlagsg.

Busch, Ulrich "Am Tropf. Die ostdeutsche Transfergesellschaft", 2002, trafo-Verlag Berlin

Busch/Mai/Steinitz (Hrsg.) "Ostdeutschland zwischen Währungsunion und Solidarpakt II", Buchreihe GWF Band 36, 2006, trafo-Verlag

DIW-Berlin, Vierteljahreshefte zur Wirtschaftsforschung Nr. 2/2009

IWH-Halle, "Ostdeutschlands Transformation seit 1990 etc.", Sonderheft 1/2009

Ritter, Gerhard A. "Der Preis der deutschen Einheit", 2006, C.H.Beck München

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Quelle:
© 2014 by Karl Mai, Halle/S.
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Mai 2014