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MEINUNG/037: Wir sind die Weltmeister - Anmerkungen zur Außenhandelsdebatte (UZ)


UZ - Unsere Zeit, Nr. 47 vom 22. November 2013
Sozialistische Wochenzeitung - Zeitung der DKP

Wir sind die Weltmeister
Anmerkungen zur Außenhandelsdebatte

Von Klaus Wagener



1976, Helmut Schmidt war gerade dabei den kurzen Frühling des sozialdemokratischen Demokratieversuchs zu beenden, da wollte der nun nicht mehr kniefällige, dafür umso staatsmännischere Kanzler die Welt, wie sein blitzender Vorgänger am "Modell Deutschland" genesen lassen. Der wilhelminisch-imperiale Gestus überlegener Macht, die andere, natürlich unterlegene Nationen, gnädig-gönnerhaft an seiner unerreichbaren Größe durch nachahmenswerte Zurschaustellung teilhaftig werden lässt, hat sich bis heute erhalten. Wenngleich es Frau Merkel spürbar an der angeborenen Blasiertheit ihrer zackigen Vorgänger gebricht und sie eher an ihren behäbigen Ziehvater, den Oggersheimer Gebrauchtwarenhändler erinnert, ist es gerade sie, die durch die Dynamik der Euro-Krise in eine seit ziemlich exakt 70 Jahren nicht mehr erreichte Position katapultiert wurde.

In dieser Lage mag man keine Kritik. Dumm genug, dass Edward Snowden daran erinnern musste, wie die wahren Machtverhältnisse auf diesem Globus verteilt sind, nun auch noch ein sich versteifendes US-Feuer gegen die deutschen wirtschaftspolitischen Grundorientierungen. Im Fadenkreuz: Die deutschen Handels- und Leistungsbilanzüberschüsse.

US-Ökonom Adam Posen hatte sie im CNBC bündig auf fünf Punkte zusammengefasst: "Erstens zahlt Deutschland seinen Arbeitnehmern keinen der Produktivität entsprechenden Lohn. Es bringt seine Beschäftigten um die Früchte ihrer Arbeit. Zweitens investiert es nichts, weder im öffentlichen noch in den privaten Sektor." Beides zusammen führe drittens dazu, dass "Deutschland als Billiglohnland konkurriert. Viertens zockt Deutschland andere Länder ab, weil seine Exporte durch den schwachen Euro subventioniert werden. Und fünftens nimmt es anderen Ländern Marktanteile weg, indem es Deflation exportiert."

Posen feuere "aus allen Rohren", empörte sich daraufhin "Handelsblattonline"-Chefredakteur Oliver Stock, um zugleich eine fachgerechte und faktengesättigte Entgegnung zu präsentieren: "Herr Posen, wir machen folgendes mit Ihnen: Sie kommen uns zu Weihnachten besuchen. Zur Weihnacht gibt der Deutsche durchschnittlich 273 Euro für den Gabentisch aus. Weil er nicht weiß wofür, rennt er am 24. Dezember vormittags noch verzweifelt durch die Kaufhäuser. So sieht das Land aus, das zu niedrige Löhne zahlt. Halleluja."

Stock steht mit seiner Qualitätsanalyse nicht allein. Die gesamte Qualitätspresse war auf den Plan gerufen. Ein beliebtes "Argument" präsentiert eine Anja Ettel in der Welt: "Ein tieferer Absturz in die Rezession blieb der Währungsunion nur deshalb erspart, weil auf die Wachstumslokomotive Deutschland die gesamte Krise hindurch Verlass war." Und (Danke, Deutschland!) habe Spanien "seine Lohnkosten gesenkt und angesichts knapper Kassen weniger importiert", so dass es "erstmals wieder ein Plus in der Leistungsbilanz ausweisen" wird. Deutschland als Spar-Zuchtmeister. Wer brav macht wie wir, dem geht's auch gut. Wie man ja an den Beifallstürmen aus Südeuropa bestens erkennen kann.


Jean-Baptiste Colbert

Das Problem ist nicht ganz neu. Es entsteht (in der Neuzeit) mit der Herausbildung moderner Flächenstaaten durch den Absolutismus. Die "feudale und zünftige Betriebsweise der Industrie" hatte noch die scholastische Illusion einer gottgefälligen, gerechten Wirtschaftsweise ermöglicht. Nun erforderten die stehenden Heere, der teure höfische Staatsapparat, bislang ungekannte Finanzmittel (Edelmetalle), die, neben der Entwicklung der Binnenproduktivität, eine Fokussierung auf den Außenhandel zwingend erforderlich machten.

Der Klassiker heißt hier bekanntlich Jean-Baptiste Colbert (1619-83), er war der Finanzminister Ludwig XIV. Die Gründung beispielsweise der französischen Ostindien- wie Westindien-Kompanie geht auf sein Konto. Und ganz ähnlich wie heute Herr Schäuble sah auch er das Heil Frankreichs, oder besser das der Krone, in einer "aktiven Außenhandelsbilanz". Seine dazugehörigen Maßnahmen sind die altbekannten: Industriepolitik, Ideenklau, Fachkräfteabwerbung, Zollsenkung, Ausfuhrförderung, Importdrosselung, Senkung der direkten und Erhöhung der indirekten Steuern. Dazu Sklavenhandel und Kolonialpolitik. Und um dem Vorhaben den nötigen Nachdruck zu verleihen, der Aufbau einer schlagkräftigen, französischen Kriegsflotte. Für Colbert war klar: Der Vorteil des Einen ist der Nachteil des Anderen. Damit, so Adam Smith, "wurde jedoch den Völkern eingeredet, ihr Interesse bestünde darin, alle ihre Nachbarn zu Bettlern zu machen (beggaring all their neighbours) und jede Nation wurde soweit gebracht, dass sie mit Neid auf den Wohlstand der anderen zu blicken habe, mit denen sie Handel treibt und deren Gewinn als eigenen Verlust zu betrachten." (Smith, 1776. S. 406).

Wie bei Posen nachzulesen, ist Berlin über dieses Programm nicht sehr weit hinaus gekommen. (Außer dass es statt Edelmetallen Target2-Forderungen importiert.) Selbst die Sklaverei darf, bei 27 Mio. Sklaven weltweit und 900 000 in der EU, wieder als eine, sagen wir, akzeptierte Beschäftigungsform gelten.


Smith und Ricardo

Nun hatte die arbeitswertbasierte, klassische Nationalökonomie durchaus versucht, Formen des Außenhandels zu begründen, der für beide/alle Handelspartner von Vorteil sein sollten. "Der zusammenfassende politische Ökonom der Manufakturperiode", Adam Smith, hatte dies in dem Falle gesehen, wenn beide Handelspartner jeweils einen absoluten Kostenvorteil realisieren können. Ein Warenaustausch mache also dann Sinn wenn das Land X eine Ware A kostengünstiger als das Land Y herstellen kann und das Land Y eine Ware B kostengünstiger als das Land X herstellen kann. Beide Staaten profitierten von einer Spezialisierung auf einem für sie vorteilhaften Sektor. Wie unschwer erkennbar, bildet diese idealtypische Konstruktion nur einen geringen Teil des Außenhandels ab.

Die Realität der Napoleonischen Kriege und der Schutzzollpolitik des Wiener Kongresses brachte den "letzten großen Repräsentanten" der klassischen politischen Ökonomie, David Ricardo, zu einer Modifikation des Smith'schen Ansatzes. Nicht nur der absolute, sondern auch der relative, "komparative" Vorteil rechtfertige den Warenaustausch. Dieser sei selbst dann gegeben, wenn eines der beiden beteiligten Länder in beiden Warenarten über die kostengünstigeren Produktionsmöglichkeiten verfügt. Die Spezialisierung auf den jeweils relativ produktiveren Sektor bei Importierung der Waren aus der relativ weniger produktiveren Sparte ergebe unter dem Strich eine höhere Gesamtproduktivität und auch einen Vorteil für beide am Austausch Beteiligten.

Dieses "Ricardianische Modell", so einleuchtend logisch es daher kommt, gilt allerdings nur bei einem Haufen Rahmenannahmen. Schon bei Ricardo selbst macht dieser recht kurze Passus einen eher begrenzten Teil seiner komplexen Betrachtungen über den Außenhandel aus. Dabei ist die wirtschaftspolitische, besser profitorientierte Motivation ebenso unverkennbar wie die Nichtexistenz wichtiger Voraussetzungen. Gleichwohl, oder wohl besser, eben darum, erlebte es eine kontextuale Isolierung und die Stilisierung zu einer Art "Grundgesetz" des freien Außenhandels. Ein "Grundgesetz", das half, lokale Produzenten weltweit zu ruinieren und England zur Werkbank der Welt zu machen.


Nietzsche

Obwohl noch in der Phase des Konkurrenzkapitalismus, standen sich international keineswegs ebenbürtige Partner gegenüber, welche die Vorteile ihrer natürlichen Gegebenheiten im gegenseitigen Austausch zur Geltung brachten. Eine Idylle, in der Portugal eben Wein produzierte und England Kleidung. Die aufstrebende Wirtschaftsmacht England brauchte für seine expandierende Industrie den freien Zugang zu den Märkten der Welt. Zur Not mit Hilfe der Royal Navy. Der Freie Markt schafft keine Gleichheit, sondern reproduziert die Ungleichheit der Akteure in der Ungleichheit der Verträge. Je ungleicher, umso "kolonialer" die Verhältnisse. Was wollten portugiesische Weinbauern schon gegen britische Großindustrielle ausrichten.

Mit der Herausbildung des Imperialismus hatte sich die universalistische Vorstellung von einer Wohlfahrt der (aller) Nationen, einem "größten Glück der größten Zahl" (Bentham) ohnehin erledigt. Der nietzscheanische Zynismus der "prachtvoll nach Beute und Sieg lüstern schweifende(n) blonde(n) Bestie", hatte im Kampf um den "Platz an der Sonne" ohnehin alle Emanzipations- und Wohlstandsrhetorik in die Asservatenkammer verschoben. Was zählte war der eigene, der nationale Erfolg. Ob nun als von der Vorsehung auserwählten Rasse oder als God's Own Country.


Keynes

Juli 1944. In Bretton Woods, New Hampshire erarbeiten Finanzminister und Notenbankgouverneure von 44 Staaten die neue Nachkriegswährungsordnung. Die Rote Armee war während der Sitzungen gerade dabei die komplette Heeresgruppe Mitte zu zerschlagen. Der Verlust von 28 Divisionen gilt als die verlustreichste Niederlage der deutschen Militärgeschichte. Die "Operation Bagration" machte nach Stalingrad und Kursk endgültig klar, dass es nach dem II. Weltkrieg mit der Beggar-thy-Neighbour-Politik der Großen Depression nicht so weiter gehen konnte. Kooperation war angesagt, hohe Steuersätze, feste Wechselkurse, Kapitalverkehrskontrollen und eben ausgeglichene Handels- und Leistungsbilanzen.

Die daraus erwachsene Boomphase schuf tatsächlich die ökonomische Basis, von der aus der Sozialismus in die Knie gezwungen werden konnte und die ein Überlegenheitsgefühl des Imperialismus, einen (fast) unerschütterlichen Glauben an die Effizienz des Kapitalismus zu etablieren vermochte. Auch nachdem sie in Vietnam und mit der Weltwirtschaftskrise 1974/75 endgültig zu Ende gegangen war.

Ronald Reagan und Margaret Thatcher restaurierten das legendäre "Enrichissez-vous!" (bereichert euch!), das zynisch-offene Glaubensbekenntnis der Börsenzocker des Juste Milieu auf den Trümmern der Volksherrschaft der Französischen Revolution. Eine Art Beta-Version der nun globalen, neoliberalen Gegenreformation.

Noch einmal treibt der Kapitalismus eine grell schimmernde Sumpfblüte des kreditfinanzierten Casinoschwindels. Bevor, nach dem unvermeidlichen Crash, die Ökonomie wieder zu einer Art globalem Kampfplatz mutiert, auf dem es klassisch sozialdarwinistisch um Überleben oder Untergang geht. In einem globalen Unterbietungswettkampf, einem Rattenrennen zu den niedrigsten Standards versuchen die zu Wirtschaftsstandorten degenerierten Staaten sich gegenseitig das Investitions-Wasser abzugraben. Die anti-merkantilistische Kritik ironischerweise eines der Kronzeugen der neoliberalen Vortrommler, Adam Smith, ist aktueller denn je. Insbesondere für die Bundesrepublik. Der wieder entgrenzte Kapitalverkehr und die schiere Größe des akkumulierten Kapitals schaffen hingegen einen gravierenden Unterschied zum klassischen Vorbild: Der Absolutismus als Vermittler des Klassenkompromisses zwischen den alten Feudalherren und aufstrebendem Bürgertum war noch in erheblichem Maße Herr des Verfahrens.

Der Merkantilismus der Bundesrepublik wirkt, wie Merkantilismus immer wirkt: zerstörerisch. Nur handelt es sich bei den Betroffenen nicht mehr nur um ferne Länder, die, nachdem sie ausgesaugt sind, dem Vergessen anheim fallen dürfen. Diesmal sind viele Staaten betroffen, mit denen Deutschland in einer Wirtschaft- und Währungsgemeinschaft steckt. Und obendrein dazu noch die globale Supermacht USA.

Der Vorschlag der Bundesregierung: Man solle der Bundesrepublik ihre "Erfolge" nicht neiden, alle könnten ja schließlich Exportweltmeister werden, ist an Absurdität kaum zu überbieten. Dass sich derartiger Zynismus in regierungsamtlichen Stellungnahmen findet, symptomatisiert den Zustand der "westlichen Wertegemeinschaft" im sechsten Krisenjahr.

Die kurz vor ihrer Installierung befindliche schwarz-rosa Koalition dürfte hier kaum für eine Wende stehen. Der Theaterdonner vor der SPD-Mitgliederbefragung dürfte schnell verklungen sein. Die Pläne für eine "Agenda 2020" liegen vor. Selbst ein Mindestlohn von 8,50 Euro sowie andere marginale Verbesserungen, als "soziale Wohltaten" diskriminiert, gelten den Industriebossen als "hoch gefährlich".

Durch die Verarmung des Südens ist Eurozonien bilanztechnisch dem von Berlin verordneten Ziel einer aktiven Außenhandelsbilanz ein Stück näher gekommen. Allerdings nur durch einen massiven Einbruch des Imports. Dadurch entstehen in Italien, Spanien oder Griechenland noch keine neuen Fabriken und keine neuen Arbeitsplätze. Würde die Eurozone tatsächlich eine Art XXL-Exportweltmeister nach dem Vorbild des Musterschülers, wäre die Welt nicht genug. Der 80-Millionen-Staat erreicht einen Handelsbilanzüberschuss von mehr als 200 Mrd. Euro. Dem stehen naturgemäß gegenläufige Geldströme gegenüber. Eurozonien hat 330 Mio. Einwohner. Niemand wäre in der Lage die Menge an Waren aufzunehmen, geschweige die aus den Überschüssen resultierenden Kredite dauerhaft zu bedienen. Frau Merkel mag Ambitionen hegen, aus Eurozonien ein vergrößertes Deutschland zu sparen, davon wird aber aus der Welt keine vergrößerte Eurozone. Wie zu hören ist, ist Widerstand programmiert.

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Quelle:
Unsere Zeit (UZ) - Zeitung der DKP, 45. Jahrgang, Nr. 47 vom 22. November 2013, Seite 12
Herausgeber: Parteivorstand der DKP
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Dezember 2013