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MEINUNG/034: Als Betrug Routine wurde - Lehren aus der Finanzkrise (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 140/Juni 2013
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Als Betrug Routine wurde
Lehren aus der Finanzkrise: Transparenz, überschaubare Größe und das Ende falscher Anreize sind gefragt

Neil Fligstein im Interview



Nicht nur Staatsanwälte, Parlamente und Verbraucherverbände befassen sich mit den betrügerischen Aktivitäten der Finanzindustrie. Auch für die Wissenschaft bieten die Ereignisse der letzten Jahre Stoff für grundlegende Fragen. Paul Stoop sprach mit Neil Fligstein, im März Gast des WZB.

Wenn wir über die Finanzindustrie reden, sprechen wir von Korruption und Gier. Wie nennt es der Forscher?

Viele der gängigen Bezeichnungen sind nicht präzise definiert. Was genau macht eine Handlung unethisch oder unmoralisch? Darüber lässt sich natürlich streiten. Aber eindeutig rechtlich als Straftat definiert ist Betrug. Betrügerische Handlungen sind bei vielen Banken zur täglichen Routine geworden. Es lässt sich belegen, dass es im Hypotheken- und Finanzsystem auf allen Ebenen Leute gab, die betrogen haben. Und zwar nicht als Einzelpersonen mit individuellen Motiven, sondern als Teil des Alltagsgeschäfts im Bankenwesen. Dass eine ganze Branche systematisch gegen das Gesetz verstößt, ist sehr selten.

Wie definieren Sie Betrug?

Zum Betrug gehören juristisch betrachtet zwei Aspekte. Zum einen muss Vorsatz im Spiel sein. Zum anderen gehört dazu, dass die betrogene Person sich nicht an der Transaktion beteiligt hätte, wenn ihr bewusst gewesen wäre, was wirklich vor sich geht. Während der Hypothekenkrise gab es Betrug auf allen Seiten und bei allen Transaktionen. Die größten amerikanischen Banken, die auf dem Hypotheken-, Verbriefungs- und Wertpapiermarkt aktiv waren, haben mit der US-Regierung bereits Vergleiche geschlossen, die sich um Betrugsfälle drehen. Die größten Banken haben sehr hohe Summen gezahlt bei diesen Vergleichen, bis zu mehreren Milliarden US-Dollar.

Gab es denn wirklich niemanden mit weißer Weste?

Auf allen Seiten wurde nachweislich betrogen. Privatpersonen reichten gefälschte Dokumente ein, um an Hypothekendarlehen zu kommen. Die Banker vergaben aggressiv Kredite, was als predatory lending bezeichnet wird. Sie versuchten unter anderem, Kredite an Menschen zu verkaufen, die nicht über ausreichende Bonität verfügten oder ganz offensichtlich nicht in der Lage waren, den Kredit zurückzuzahlen. Sie taten das, um höhere Gebühren für die Vergabe nehmen zu können. Noch mehr Geld konnten sie durch den Verkauf der Darlehensforderungen an Verbriefungszweckgesellschaften verdienen, die aus den Forderungen handelbare Wertpapiere machten. Warum zum Beispiel sollte eine Bank jemandem ein Darlehen gewähren, der keine Kreditauskunft vorlegen kann? Weil der Zinssatz, den man für eine solche Hypothek verlangen kann, um mindestens einen Prozentpunkt höher liegt als der Satz für jemanden, der über eine Kreditauskunft verfügt.

Aber am Ende dieser Kette wurden die Leute hereingelegt - oder gab es auch hier eine Komplizenschaft?

Wenn der Verkäufer Hypothekenforderungen zum Zweck der Verbriefung veräußert, weiß der Käufer in der Regel, dass an der Hypothek etwas faul ist. Aber ein Kunde, der die Wertpapiere auf dem Kapitalmarkt erwirbt, verfügt nicht über so viele Informationen über die zugrunde liegende Hypothek wie der Emittent der Wertpapiere. Wenn der ursprüngliche Hauskäufer kein guter Kandidat für ein Hypothekendarlehen war, ist das im Zuge der Verbriefung und Weitergabe der Kreditforderungen allen bekannt - nur nicht der Person ganz am Ende der Kette. Es hat private Vergleiche gegeben, bei denen die Käufer von besonders toxischen Wertpapieren ihr Geld zurückbekommen haben. Sie konnten beweisen, dass der Verkäufer der Papiere von deren schlechter Qualität Kenntnis hatte.

Außer dieser Akkumulation individueller Handlungen gab es aber auch einen groß angelegten Plan.

Der am wenigsten bekannte Betrug ist die Manipulation des Libor, des London Interbank Offered Rate. Das ist der täglich festgelegte Referenzzinssatz im Interbankengeschäft. Die Banken liehen sich Geld, um Hypothekenforderungen zu erwerben und Wertpapiere zu emittieren, und gleichzeitig kauften sie diese Wertpapiere für ihre eigenen Konten. Zu diesem Zweck liehen sie Geld zum Libor-Zinssatz. Dabei sprachen sie sich heimlich ab, um diesen Zinssatz niedrig zu halten und so ihre Rendite aus der Differenz zwischen den erworbenen Papieren und dem aktuellen Libor-Zinssatz zu steigern. Anscheinend lief das schon seit Jahren so.

Was sind die gängigen Erklärungen für dieses Verhalten?

Es gibt Theorien über das kriminelle Verhalten von Geschäftsleuten. Diese Theorie besagt, dass wir uns vor allem um das "eine schwarze Schaf" sorgen sollten. Ein Großteil der Theorie dreht sich deshalb darum, wie man dieses schwarze Schaf, etwa einen Finanzmanipulator wie Bernie Madoff, am effektivsten kontrolliert. Viele der Regulierungsdiskussionen zielen daher auf Beschränkungen, die Leute wie Madoff von betrügerischen Machenschaften abhalten sollen. Eine andere Sichtweise vertritt die Chicagoer Schule, die eine Regulierung grundsätzlich ablehnt. Sie meint, dass betrügerisch vorgehende Marktakteure früher oder später einen schlechten Ruf kriegen niemand mehr mit ihnen Geschäfte machen wird, sobald sich das herumspricht. So werde dieses Problem größtenteils durch den Markt gelöst.

Was sagt die Soziologie dazu?

Die soziologische These lautet, dass Finanzmärkte besonders anfällig für Korruption sind. Weil Finanztransaktionen häufig so schwer verständlich sind, ist es schwierig, das Verbrecherische darin zu entdecken. Einer der Gründe, warum es so viele Finanzdelikte gibt, ist der Umstand, dass man sowohl Insiderinformationen über das Delikt als solches benötigt als auch geheime Informationen darüber, wie das Delikt funktioniert. Daher der Ruf nach stärkerer Regulierung und einem hohen Maß an Transparenz bei Finanztransaktionen. Als Soziologe nehme ich an, dass jemand Betrugsmöglichkeiten höchstwahrscheinlich nutzt, wenn die Wahrscheinlichkeit, erwischt zu werden, relativ gering ist. Auf Finanztransaktionen treffen beide Merkmale zu, und aus soziologischer Sicht ist es nicht überraschend, dass sie so weitverbreitet sind.

Wissen wir genug, um diese Dinge zu verstehen?

Wir haben schon andere Fälle gehabt, zum Beispiel die US-Sparkassenkrise Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre. Damals landeten rund 2.500 Bankvorstände im Gefängnis, weil sie letztlich ihre Unternehmen ausgeplündert hatten. Um die Jahrtausendwende herum gab es dann die Skandale um die Firmen Enron und WorldCom, deren Zusammenbruch ebenfalls durch Finanzbetrug ausgelöst wurde. Die meisten dieser Finanzdelikte sind nur sehr schwer zu verstehen. Ein Problem bei vielen dieser Skandale besteht darin, dass die betrügerischen Akte Einzelner Teil der Alltagsroutine der Banken geworden sind. Betrügen wurde Teil des Geschäftsmodells. Aus der Organisationstheorie wissen wir, dass etwas nicht mehr hinterfragt wird, sobald es zu einer Standardvorgehensweise geworden ist. Die Leute denken nicht mehr darüber nach; sie tun es einfach. Obwohl also zum Beispiel die Verkäufer der Hypothekendarlehen wussten, dass die ausgegebenen Kredite wohl kaum zurückgezahlt würden, hingen ihre Arbeitsplätze davon ab, dass sie weiter Darlehen verkauften, die die Wertpapier-Emittenten wollten. So kam es, dass die Vergabe von Krediten ohne ausreichende Bonität als nicht besonders riskant angesehen wurde.

Was müssen Regulierungsbehörden und Staatsanwaltschaft tun?

Die Regulierungsbehörden müssen sich ganz neu aufstellen. In diesem Fall gab es viele Warnsignale. Dem FBI lagen Tausende Beschwerden über predatory lending vor. Aber die Struktur der Regulierungsbehörden war stark zersplittert. Die Leute, die solchen Delikten nachgehen müssen, saßen in unterschiedlichen Behörden und merkten nicht, dass diese Kriminalität so weitverbreitet und oft sogar Teil des Geschäftsmodells war. Das FBI bekam also Beschwerden über predatory lending. Die US-Börsenaufsichtsbehörde Securities and Exchange Commission, die SEC, ist dafür nicht zuständig. Die SEC ist für die Kontrolle des Wertpapierhandels zuständig und bekam daher von diesen Beschwerden gar nichts mit. Die US-Notenbank, die Federal Reserve, ist für die Zahlungsfähigkeit der Geschäftsbanken zuständig. Sich Sorgen um predatory lending zu machen, gehörte nicht zu ihren Aufgaben. Also legte das FBI los und steckte ein paar Leute ins Gefängnis. Aber niemand kam auf die Idee, dass die aggressiven Kreditverkäufer ihre Forderungen an Verbriefungszweckgesellschaften veräußerten, die dann die problematische Grundlage der Darlehen dadurch verschleierten, dass sie sie im Paket mit anderen Darlehen an nichts ahnende Investoren verkauften.

Wie könnte man diese Art Kriminalität verhindern?

Es muss bei Finanzprodukten viel mehr Transparenz geben. Es wird den Firmen viel zu leicht gemacht, ihre Praktiken zu verbergen. Und für die Regulierungsbehörden ist es zu schwierig, die Zusammenhänge zwischen diesen Vorgängen zu erkennen. Ich bin ein großer Anhänger einer Aufspaltung des Finanzsystems in deutlich kleinere Teile und davon, die Banken zu streng regulierten öffentlichen Einrichtungen zu machen. Als Gesellschaft müssen wir uns die Frage stellen: Was erwarten wir von den Banken? Wenn wir wollen, dass die Banken zum Beispiel unser Geld hüten und uns Geld leihen, dann können wir nicht erwarten, dass sie immer größere Profite erwirtschaften. Ich bin dafür, die unterschiedlichen Funktionen von Banken klar voneinander zu trennen.

Wäre das in den USA denkbar?

Wir hatten bis 1999 den Glass-Steagall Act. Dieses Gesetz trennte das klassische Einlagen- und Kreditgeschäft vom Wertpapiergeschäft. Aber die Grenzen zwischen diesen Geschäftsbereichen waren schon lange vorher verwischt. Wir brauchen wieder gesetzliche Regelungen, die die riskanten und weniger riskanten Geschäfte der Banken voneinander trennen. Und zwar deshalb, weil der Wunsch, sich am predatory lending zu beteiligen, nicht zuletzt dadurch motiviert war, dass die Makler diese Hypothekenforderungen in Form von Wertpapieren benötigten, weil sich damit am Kapitalmarkt größere Gewinne erzielen ließen. Die Broker in der Wertpapierabteilung einer Bank übten hohen Druck auf ihre Kollegen in der Kreditabteilung aus, ihnen immer noch mehr und riskantere Hypotheken zu liefern. Wenn man das Kreditgeschäft vom Verbriefungsgeschäft und dem Handel mit diesen verbrieften Hypotheken-Papieren trennt, verschwindet auch der Anreiz zum predatory lending. Man muss die Banken zwingen, sich für einen Geschäftsbereich zu entscheiden.

Also kommt es auch auf die Größe an?

Es wird immer wieder die Ansicht vertreten, bestimmte Banken seien too big to fail. Vor ein paar Wochen sagte US-Justizminister Eric Holder, er könne solche Großbanken nicht aggressiv wegen Betrug und anderer Straftaten angehen, weil das ganze Finanzsystem ins Wanken geraten könnte, wenn eine dieser Banken zerschlagen würde. Das ist eine gefährliche Haltung für den obersten Gesetzeshüter der USA, denn sie ermutigt Großbanken zu riskantem und gesetzeswidrigem Verhalten. Eine Rückkehr zum alten System der Banken mit getrennten Funktionen ist ein Weg, die schlimmsten Auswüchse zu verhindern. Wenn wir die Anreize für Betrug verringern, haben wir weniger Betrug. Natürlich ist es nicht so, dass es dann überhaupt keine Finanzkriminalität und keinen Betrug mehr gäbe. Aber wir sollten wenigstens versuchen, die Kreisläufe zu durchbrechen, die Menschen in diese Richtung ziehen.

Welche Form der Regulierung würden Sie auf internationaler Ebene vorschlagen?

Das ist schon schwieriger. Ein Problem dabei sind diese ganzen Offshore-Banken, die einzig zu dem Zweck errichtet wurden, sich der Regulierung zu entziehen. Die größten Banken der Welt befinden sich alle auf den Kaimaninseln, auf Zypern, in Singapur, Hongkong, Luxemburg und so weiter. Dort sieht man überall riesige Bankgebäude mit den Namenszügen der vertrauten Banken: HSBC, Deutsche Bank, Citibank, Bank of America und so weiter. Ich denke, es liegt auf der Hand, dass Menschen diese Banken wählen, weil sie nicht möchten, dass irgendjemand etwas über sie erfährt. Da sollten bei uns die Warnlampen signalisieren, dass hier etwas nicht stimmt. Wenn keine Transparenz herrscht und wir nicht wissen, was da vor sich geht, welche geheimen Finanztransaktionen da ablaufen, dann sind das genau die Bedingungen, unter denen erfahrungsgemäß Finanzkriminalität stattfindet.

Wie lange wird es dauern, die Kriminalität im Zusammenhang mit der Krise aufzuklären?

Hier sollte man die Fälle ansehen, die schon beigelegt wurden. Warum lassen sich Banken auf Vergleiche ein und zahlen bereitwillig riesige Bußgelder? Sie tun es, weil der Staat sie danach in Ruhe lässt. Ebenso wichtig ist aber, dass die meisten dieser Vergleiche kein Schuldeingeständnis seitens der Banken enthalten. Folglich sind die Dokumente, die die Staatsanwaltschaft für die Anklage zusammengetragen hat, der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Dies erschwert es privaten Parteien, ihre Verluste erstattet zu bekommen, selbst wenn die Bank eine Strafe gezahlt hat. Denn jede Privatperson, die eine Klage anstrengen will, muss bei der Beweisführung ganz von vorne anfangen. Dies wird erschwert, weil potenzielle Prozessparteien keinen Zugang zu den Dokumenten haben, die für die Anklage genutzt worden sind. Der Staat lässt sie in Ruhe, und Privatpersonen können nicht mit dem Argument klagen, die Bank habe ihre Schuld ja bereits eingestanden. Gleichzeitig ist es für Einzelpersonen schwierig, einen Prozess ohne Unterlagen zu führen, die das Wesen der Straftat dokumentieren. Dafür braucht man sehr viel Geld, denn um einen Prozess zu führen, braucht man Zeugenaussagen, Vorladungen und so weiter. Wer nicht über Millionen von Dollars verfügt, kann ein solches Gerichtsverfahren überhaupt nicht durchhalten. Dennoch wollen viele private Kläger es versuchen. Die Gerichtsverfahren im Enron-Fall sind nun endlich abgeschlossen. Und Enron ist vor zehn Jahren Pleite gegangen! Und das ist nur eine einzige Firma. Also sprechen wir ungefähr vom Jahr 2018, wenn wir den Beginn der Krise im Jahr 2008 ansetzen. Das Thema bleibt uns also erstmal erhalten.


Neil Fligstein ist Class of 1939 Chancellor's Professor an der University of California Berkeley. Er unterrichtet Soziologie und ist außerdem Direktor des Center for Culture, Organization and Politics am Institute for Research on Labor and Employment seiner Universität. Im März hat er die neue WZB Distinguished Lecture Series in Social Sciences eröffnet.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 140, Juni 2013, Seite 13 - 16
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juli 2013