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INTERNATIONAL/106: Genossenschaftsverband in Venezuela - 20.000 Mitglieder, keine Chefs (DER RABE RALF)


DER RABE RALF
Nr. 169 - August/September 2012
Die Berliner Umweltzeitung

Geheimnisvolle Verbundenheit
Ein erfolgreicher Genossenschaftsverband in Venezuela hat 20.000 Mitglieder, aber keine Chefs

von Ute Scheub



Ein Modell wollen sie nicht sein. Auf keinen Fall. "Es gibt kein Patentrezept, jeder muss seine eigenen Lösungen finden", sagen sie eins ums andere Mal. Und doch sind sie eine Inspiration dafür, dass eine Assoziation von Freien und Gleichen scheinbar auch mit zehntausenden Menschen zu realisieren ist. Ein Leben ohne Chefs, wie ist das möglich? Es muss ein Geheimnis geben bei Cecosesola. Dieses Geheimnis zu ergründen, dafür bietet die Deutschlandreise von drei "Cooperativistas" eine gute Gelegenheit. Im Mai stellen sie in einem Berliner Nachbarschaftsprojekt ihr "Nicht-Modell" vor. Viele Fragezeichen stehen im Raum, wohl die Hälfte des Publikums hat eigene Erfahrungen mit gescheiterten Kollektiven. Dass sich so viele Menschen andauernd im Konsensverfahren verständigen, wie soll das denn gehen? Und kommt man da überhaupt noch zu Muße, Leben und Lieben? "Wenn wir unsere Kommunikation als Arbeit sehen würden, wäre das furchtbar", lacht die 34-jährige Carolina Colmenaves, die seit 16 Jahren bei Cecosesola ist und zwischen Gesundheitsbereich und Wochenmärkten rotiert. "Aber wir gehen auch in Parks oder machen Liebe, sonst hätten wir keine Kinder. Und wir haben viele!"

Lebendige Selbstorganisation

Womöglich ist das Geheimnis in der besonderen Geschichte von Cecosesola zu finden. Allerdings nicht in ihrer Gründung. Ausgerechnet US-Präsident John F. Kennedy hebt 1961 die "Allianz für den Fortschritt" aus der Taufe, um mit Sozialprogrammen die Guerillabewegung in Lateinamerika einzudämmen. Mit Mitteln der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung und der katholischen Caritas unterstützt das jesuitische "Centro Cumila" in Venezuela die Gründung von Genossenschaften. Cecosesola wird 1967 als Dachverband initiiert, und die erste Kooperative ist ausgerechnet ein - hierarchisch organisierter - Bestattungsbetrieb.

Doch 1972 kündigen ihre Begründer die Allianz mit der Allianz auf und schließen sich der "Stiftung für kommunitäre Organisierung der Marginalisierten" an. Cecosesola ist bis heute linksorientiert, doch zur Regierung von Hugo Chavéz hält sie Distanz. Die lebendige Selbstorganisation passt nicht in dessen autoritären Staatssozialismus - und ist diesem weit voraus. Als die rechte Opposition im Jahr 2002 mit einem Streik Venezuela lähmt, unterstützt Cecosesola weder den Streik noch Chavéz.

Cecosesolas Geschichte ist manchmal geradezu dramatisch bewegt. Mitten im Kampf gegen städtische Fahrpreiserhöhungen wird 1974 eine Transportgenossenschaft gegründet, "von privaten Busbetreibern und der Stadt heftig bekämpft", wie Jorge Rath in Berlin erzählt. Der 61-jährige gebürtige Deutsche arbeitet seit 13 Jahren bei Cecosesola. Die Kerngruppe habe sich damals täglich getroffen und alles gemeinsam entschieden. Dadurch sei eine besondere Gesprächskultur entstanden, die bis heute wirksam sei. Durch den Abbau von Hierarchie und den Aufbau von Vertrauen sei die "kollektive Energie" geradezu explodiert. Solidarität vervielfache sich "genau dann, wenn wir verschwenderisch mit ihr umgehen. Dadurch wird sie zur Kraft der Veränderung".

Wenn der Kampf um die Macht wegfällt

In den 1970er Jahren organisiert die Buskooperative viele Demonstrationen, Märsche und Umsonst-Transporte für die Bevölkerung. Aber viele Busse werden beschlagnahmt und zerstört, die Kooperative steht vor dem Ruin. 1983 findet sie einen Ausweg: Sie baut die restlichen Busse zu mobilen Gemüsemärkten um. Die - inzwischen stationären - Märkte werden zu einem Riesenerfolg, zumal die Cooperativistas Gemüse viel billiger und zum Einheitspreis pro Kilo verkaufen. Aber das war wohl nicht der einzige Grund: "Offensichtlich wird, sobald in einer Organisation der Kampf um die Macht als zentrales Motiv zum Verschwinden gebracht wird, eine kollektive Energie freigesetzt, die unter anderem in einer vorher ungekannten wirtschaftlichen Produktivität zum Ausdruck kommt", ist in einem Buch über Cecosesola zu lesen, das die Genossenschaft vor kurzem selbst veröffentlicht hat.

Die 40-jährige Ilse Marquez, die unter anderem in der Buchhaltung arbeitet, weiß viel über die "patriarchalisch-kapitalistische Kultur" zu sagen, "die uns alle prägt" und die sie überwinden wollen. Auch deshalb habe man sich entschlossen, "Frauen-Aufgaben" wie Kloputzen oder Kochen rotieren zu lassen. In der Küche etwa wechseln sich Frauen und Männer wöchentlich ab.

Die gemeinsame Entscheidungsfindung im Konsens sei vielleicht ihr größter Erfolg, glaubt Ilse Marquez. In allen Betrieben werden wöchentliche Versammlungen abgehalten, dazu gibt es weitere Treffen zur Koordination oder zur Pflege und Analyse ihrer Beziehungen. Das Publikum löchert sie: Wie geht ihr mit informeller Macht um? Mit menschlichem Fehlverhalten? "Wenn einer was klaut, fragen wir in seiner Gegenwart: Was steckt dahinter? Warum haben wir als Kollektiv es nicht geschafft, ihm zu helfen?" Für Außenstehende, gibt sie zu, sei das alles "nicht leicht zu erklären". Sie praktizierten eben eine neue Form zu denken. "Kommunikation wird überraschend flüssig", heißt es dazu in dem Buch. "Manchmal brauchen wir nicht einmal mehr darüber zu reden, um zu wissen, was wir alle denken. Telepathie wird greifbar." Womöglich sei man schon "auf dem Weg zum kollektiven Gehirn".

Vielleicht liegt darin das Geheimnis: Die Cooperativistas sehen das Unsichtbare, die menschliche Verbundenheit, als ihren kostbarsten Schatz, den sie hegen und pflegen.

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Cecosesola

heißt übersetzt "Dachverband der Genossenschaften für soziale Dienstleistungen im Bundesstaat Lara" und besteht seit 1967. In Laras Hauptstadt Barquisimeto mit einer Million Einwohnern betreibt Cecosesola drei Wochenmärkte, auf denen sich rund 55.000 Familien mit Gemüse, größtenteils von verbandseigenen Landkooperativen, versorgen. Zum Verbund gehören über 50 Basisorganisationen mit rund 20.000 Mitgliedern: ein Transportbetrieb, eine Sparkasse, ein Solidaritätsfonds, Läden für Möbel und Haushaltsgeräte, ein Beerdigungsbetrieb sowie sechs Gesundheitsprojekte einschließlich Krankenhaus, in dem jährlich knapp 200.000 Menschen behandelt werden. Jahresumsatz: etwa 100 Millionen US-Dollar.

Chefs gibt es nicht, Konsens-Entscheidungen sind ebenso üblich wie Job-Rotation. 2011 hielten die 1.200 "Hauptamtlichen" insgesamt 3.300 kleine und große Treffen während der Arbeitszeit ab. Sie erhalten einen Einheits-"Vorschuss", der dem Doppelten des staatlichen Mindestlohns entspricht. Nur Ärzte bekommen "wegen ihrer größeren Verantwortung" eine prozentuale Bezahlung pro Patient und rotieren nicht. Der chilenische Neurobiologe und Philosoph Humberto Maturada hat mit seinem Konzept der Autopoiesis (Selbstentwicklung) Cecosesola wesentlich beeinflusst. Maturada glaubt, dass alle lebenden Systeme zur Selbstorganisation ohne hierarchische Steuerung fähig sind. Kommunikation sieht er als Verhaltenskoordination durch wechselseitige Kopplungen: "Wir erzeugen die Welt, in der wir leben, buchstäblich dadurch, dass wir sie leben." "Wir sind organisierter als eine Bewegung und bewegter als eine Organisation", sagen die Cooperativistas von sich selbst.

Zum 45-jährigen Bestehen hat Cecosesola ein Buch veröffentlicht, das jetzt auch auf Deutsch erscheint: "Cecosesola: Auf dem Weg - Gelebte Utopie einer Kooperative in Venezuela", Verlag Buchmacherei, 168 Seiten, 9 Euro - www.diebuchmacherei.de

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Quelle:
DER RABE RALF - 22. Jahrgang, Nr. 169 - August/September 2012, S. 19
Herausgeber:
GRÜNE LIGA Berlin e.V. - Netzwerk ökologischer Bewegungen
Prenzlauer Allee 8, 10405 Berlin-Prenzlauer Berg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. September 2012