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GEWERKSCHAFT/993: Gescheiterter Korporatismus (spw)


spw - Ausgabe 2/2014 - Heft 201
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Gescheiterter Korporatismus
Ein kritischer Rückblick auf Kanzlerrunden und Arbeitsbündnisse

von Wolfgang Uellenberg - van Dawen



Das Ende des Korporatismus, wie wir ihn kannten: Die Agenda 2010

Am 14. März 2003 verkündete Gerhard Schröder im Deutschen Bundestag die Agenda 2010. Obwohl von der Arbeitsmarkt- über die Sozial-, die Tarif- bis hin zur Bildungs- und Innovationspolitik viele Bereiche angesprochen wurden, konzentrierte sich die öffentliche Aufmerksamkeit vor allem auf die Aussagen zur Arbeitsmarkt-, Sozialstaats- und Tarifpolitik. Die Deregulierung und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, die Senkung der Lohnnebenkosten für die Arbeitgeber und eine stärkere Belastung von Beitragszahlern und Leistungsempfängern sowie die Ankündigung des Kanzlers, dass der Gesetzgeber auch in die Tarifautonomie gesetzlich eingreifen würde, wurden in der Öffentlichkeit als Reformsignal, im DGB und seinen Gewerkschaften überwiegend als Kampfansage verstanden. Dabei waren es anfangs weniger die Aussagen zur Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, die in den Gewerkschaften auf deutlichen Widerspruch stießen, als die drohenden Eingriffe in die Tarifautonomie. Denn damit verstieß Schröder gegen die Geschäftsgrundlage der Zusammenarbeit von Gewerkschaften und Bundesregierung, in welchen Formen sie auch immer stattgefunden hatte. Man konnte über Reformvorhaben unterschiedlicher Meinung sein, die Tarifautonomie war in jedem Fall zu respektieren.

In den Folgemonaten konzentrierten sich die Gewerkschaften darauf, auf Konferenzen, Demonstrationen und Interventionen bei der SPD-Bundestagsfraktion und den SPD-geführten Ländern, einen solchen Eingriff zu verhindern.

Mit Ausnahme der Tarifautonomie, die von den Gewerkschaften und ihren Bündnispartnern in der SPD am Ende erfolgreich verteidigt werden konnte, folgte die Agenda 2010 (1) im Wesentlichen dem neoliberalen Drehbuch einer "erfolgreichen Beschäftigungspolitik" wie sie die OECD in ihrer Job-Strategie 1994 angemahnt hatte. Lockerung des Kündigungsschutzes und Entsicherung der Arbeitsverhältnisse, Kürzung der Leistungen der Arbeitslosenversicherung, Beitragssenkungen und Leistungskürzungen in der Arbeitsmarktpolitik. Im Fortgang der Agenda-Politik sollte es noch gravierende Veränderungen geben. Die große Koalition verschärfte die Agenda mit der Rente ab 67, auch wenn sie in der Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes und in ersten Branchenmindestlöhnen erste Korrekturen vornahm. Die schwarz-gelbe Koalition beschloss dann noch einmal gravierende Einschnitte zu Lasten der Arbeitslosen. Aber die Agenda-Politik Schröders markierte im Wesentlichen das Ende der dreiseitigen Kooperation zwischen Arbeitgebern, Gewerkschaften und Bundesregierung seit der konzertierten Aktion.

Klassischer Korporatismus: Konzertierte Aktion und Kanzlerrunden

In der ersten Krise der deutschen Nachkriegswirtschaft hatte Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller mit der Konzertierten Aktion den Versuch unternommen, alle für die Wirtschafts-, Finanz-, Währungs-, Arbeitsmarkt-, Sozial-, und Tarifpolitik wichtigen Akteure zu gemeinsamem Handeln zu bewegen. Mit der schnellen Überwindung der Krise schien diese Politik erfolgreich zu sein. Die spontanen Streiks im Herbst 1969 zeigten vor allem den Gewerkschaften schnell, dass sich Lohnleitlinien und eine abgestimmte maßvolle Tarifpolitik angesichts hoher Erwartungshaltungen kampfstarker Belegschaften nicht durchhalten lassen. Seitdem fürchteten die Gewerkschaften in solchen Kooperationsrunden auf Lohnleitlinien festgelegt zu werden und unterstrichen die unabdingbare Geltung der Tarifautonomie. Noch während die Gespräche der Konzertierten Aktion liefen, streikte die ÖTV für ein zweistelliges Tarifergebnis von 11 Prozent mehr Lohn. Ihr folgte 1975 die IG Metall mit der Forderung nach 12 Prozent mehr Lohn.

Schon vor dem Scheitern der Konzertierten Aktion, die die Gewerkschaften auf Grund der Klage der Arbeitgeber gegen das Mitbestimmungsgesetz 1976 formell verließen, hatte Bundeskanzler Helmut Schmidt in streng vertraulichen Gesprächen im Kanzlerbungalow die Regierungspolitik mit Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden abzustimmen versucht. Vor allem im Umfeld der ersten Schritte zu einer gemeinsamem Währungsunion - einer abgestimmten Wechselkurspolitik - im Jahre 1978 fanden diese Treffen mehrmals statt, ebenso in den folgenden Jahren zu Themen der Energie- und Wachstumspolitik.(2) Gegen Ende der Kanzlerschaft Schmidts und mit Beginn der Kürzungspolitik nahmen die Konflikte zwischen Bundesregierung und Gewerkschaften zu. Kamingespräche fanden nicht mehr statt.

Die Regierung Kohl war an einer Kooperation mit den Gewerkschaften nicht interessiert und suchte den Konflikt durch ihre Absage an die Wochenarbeitszeitverkürzung sowie den Großkonflikt um die Verschärfung des § 145 AfG, um eine Unterstützung kalt Ausgesperrter aus der Arbeitslosenversicherung zu verhindern und die Streikfähigkeit der IG Metall zu brechen. Ein Kanzlergespräch zur Ausbildung vor der Bundestagswahl 1983 hatte Wahlkampfcharakter, ein zweites 1987 zur Stahlindustrie betraf eine Krisenbranche.

Die deutsche Einheit und der für fast alle westdeutschen Akteure völlig unerwartete Zusammenbruch der Wirtschaft der DDR schuf eine nationale Notsituation, in der die Regierung Kohl schnell begriff, dass sie ohne oder gegen die Gewerkschaften die sozialen Folgen der Einheit nicht bewältigen konnte. Sie begann eine lösungsorientierte und auch für die Gewerkschaften konstruktive Serie von Gesprächen, auf denen Weichen für die zusammenbrechende ostdeutsche Wirtschaft gestellt wurden: Ausbau der Infrastruktur, die mit großem finanziellen Aufwand verbundene Rettung industrieller Kerne durch die Treuhandanstalt und vor allem großzügige Abfindungs- und Vorruhestandregelungen sowie umfangreiche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für die Beschäftigten der ostdeutschen Unternehmen verhinderten den vollständigen Zusammenbruch des Arbeitsmarktes. Die Gewerkschaften blockierten jeden Versuch aus dem Arbeitgeberlager, die Tarifautonomie in den neuen Ländern außer Kraft zu setzen, auch wenn sie eine schnelle Erosion der Tarifbindung hinnehmen mussten. In den Folgejahren standen die Gespräche im Zeichen der Wirtschafts- und Währungsunion, auf deren soziale Ausgestaltung die Gewerkschaften großen Wert legten. Vor allem die Mitbestimmung in den europäischen Unternehmen durch die Eurobetriebsräte sowie die Mitbestimmung in der Europäischen Aktiengesellschaft, die dann von der Schröder Regierung in der europäischen Gesetzgebung verankert werden konnte, erleichterte ihnen die Zustimmung zu einer gemeinsamen Wirtschafts- und Währungspolitik in Europa.

Zu einem Bündnis für Arbeit mutierten die Kanzlerrunden 1995 in Folge des Vorschlages von Klaus Zwickel, der in Verhandlungen der Tarifparteien wie durch Gespräche mit der Bundesregierung eine kontrollierte Einführung eines speziellen Niedriglohnsektors als Gegenleistung für die Beschäftigung Langzeitarbeitsloser schaffen wollte. In diesem ersten Bündnis verständigten sich die Teilnehmer im Wesentlichen auf eine Agenda von Investitionen und Innovationen. Im Mittelpunkt stand aber die Grenze von 40 Prozent für die Lohnnebenkosten. Die Arbeitgeber sahen darin einen Einstieg in Leistungskürzungen, die Gewerkschaften in eine stärkere Steuerfinanzierung gesellschaftlicher Aufgaben der Sozialversicherung. Im Februar 1996 konnte dann in diesem Rahmen und nach längeren Auseinandersetzungen ein tragfähiger Kompromiss zur Ablösung des Vorruhestandes und zur Einführung der staatlich geförderten Altersteilzeit mit großzügigen Übergangsregelungen erzielt werden. Er schuf die Basis für tarifliche Altersteilzeitmodelle bis in die Gegenwart. Das erste Bündnis hielt jedoch nur wenige Monate: mit der von den Fraktionen von Union und FDP gegen den Willen Kohls erzwungenen Absenkung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall sowie der Lockerung des Kündigungsschutzes war der Konsens gebrochen. Die Gewerkschaften starteten ihre Kampagne für Arbeit und soziale Gerechtigkeit, die zur Abwahl der Regierung Kohl beitrug.

Brüchiger Konsens: Das Bündnis für Arbeit

Im Wahlkampf 1998 sowie in den folgenden Monaten verfolgten die Gewerkschaften eine zweigleisige Strategie: Auf der einen Seite übten sie Druck auf die SPD aus, die Einschnitte bei Kündigungsschutz und Lohnfortzahlung zurückzunehmen sowie in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik geringfügige Beschäftigung und Scheinselbständigkeit zu bekämpfen. Auf der anderen Seite sahen sie in einem Bündnis für Arbeit die beste Möglichkeit, ihren Einfluss auf eine sozialdemokratisch geführte Bundesregierung, sei es in Kooperation mit der Union oder mit den Grünen zu stärken. Zudem benötigten sie eine Flankierung der über Tarifverträge und Altersteilzeitmodelle zu vereinbarenden Rente ab 60 sowie Moderation und Fördermittel für branchenspezifische Investitionen und Innovationen zur Modernisierung der Industrie. Zudem wollten sie den Kanzler dahingehend beeinflussen, die im Schröder-Blair-Papier formulierten neoliberalen Politikansätze des dritten Weges nicht weiter zu verfolgen. Die Arbeitgeberverbände, die mit ihrer Unterstützung von FDP und Union auf das falsche Pferd gesetzt hatten, sprachen sich für ein Bündnis aus, das ihnen wieder einen Zugang zu den Entscheidungszentren der neuen Regierung ermöglichen sollte. Im Kern, so der damalige Hauptgeschäftsführer des BDI Ludolf von Wartenberg, braucht man in einer "funktionierenden marktwirtschaftlichen Ordnung mit einem flexiblen Arbeitsmarkt (...) kein Konstrukt wie ein Bündnis für Arbeit." (zit. in Fickinger S. 21). Sie beteiligten sich, um ihre Themen meist öffentlichkeitswirksam vorzubringen und einen Weg zu finden, um die Regierung vor allem in der Arbeitsmarkt- wie in der Sozialpolitik zu beeinflussen. Ihr wesentliches Anliegen war jedoch eine Moderation der Tarifpolitik im Konsens mit den Gewerkschaften zu erreichen. Für Gerhard Schröder war das Bündnis Ausdruck seiner Überzeugung, dass es keine rechte oder linke, sondern nur eine moderne Wirtschaftspolitik geben sollte, die er im Wesentlichen durch die Moderation unterschiedlicher Interessen der Arbeitsmarktparteien mit dem Ergebnis einer möglichst verlässlichen Tarifpolitik flankieren wollte. Zudem bot das Bündnis die Möglichkeit, widerstreitende Positionen in der Bundesregierung einzubinden sowie gegenüber der SPD-Bundestagsfraktion unter Verweis auf die Bündnisgespräche eigene Reformprojekte durchzusetzen. Zugleich reihte sich die Bundesregierung mit dem Bündnis für Arbeit in die westeuropäischen Länder ein, die mit Sozialpakten oder Sozialabkommen beschäftigungswirksame Arbeitsmarktreformen auf den Weg gebracht hatten. Vor allem der Akkord von Wassenaar zwischen Regierung, Gewerkschaften und Arbeitgebern in den Niederlanden bot das erfolgreiche Modell einer Arbeitsmarktpolitik, die durch eine sozial flankierte Teilzeitbeschäftigung und eine Lohnmoderation Arbeitslosigkeit abgebaut hatte.(3) Während so auf der einen Seite die rot-grüne Regierung ihre Wahlversprechen gegenüber den Gewerkschaften abarbeitete, entstand auf der anderen Seite eine vielfältige Bündnisstruktur, in die das Bundeskanzleramt, mehrere Bundesministerien, Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften eingebunden waren. Diese vielfältigen Gesprächsrunden kulminierten in insgesamt neun Spitzengesprächen. Im ersten dieser Gespräche wurde im Dezember 1998 eine umfangreiche Agenda verabschiedet, die die Vorschläge der Arbeitgeber wie der Gewerkschaften auflistete. Dazu wurden neun Arbeitsgruppen sowie eine wissenschaftliche Beratergruppe, die so genannte Benchmarking AG, eingerichtet, der Wolfgang Streeck (Max Planck Institut für Gesellschaftsforschung), Rolf Heinze (Universität Bochum), Gerhard Fels (IW) und Heide Pfarr (WSI) angehörten. Die Benchmarking AG sollte eine gemeinsame Sichtweise auf die anstehenden Politikfelder erarbeiten sowie mit im Konsens abgestimmten Vorschlägen gemeinsame Verabredungen ermöglichen. Ihr von der Bertelsmann Stiftung unterstützter Bericht wurde in Buchform veröffentlicht, jedoch im Bündnis nicht behandelt, da vor allem die Gewerkschaften in dieser umfangreichen Reformagenda keine Grundlage für eine praktikable Verständigung sahen. Denn weder in den Spitzenrunden noch in den AGs gelang es, eine gemeinsame Sicht der wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen zu erzielen, noch sich auf umfassende Lösungen zu verständigen. Dafür waren die Interessen von Gewerkschaften und Arbeitgebern dem Grunde nach zu unterschiedlich. Zu Absprachen kam es in einer Reihe von praktischen Fragen. Dazu gehörten:

  • der Ausbildungskonsens und Steigerung der Ausbildung in der IT Branche,
  • Tarifverträge zur Weiterbildung,
  • Die Insolvenzsicherung von Arbeitszeitkonten,
  • Modelle zur Integration von Langzeitarbeitslosen mit Lohnkostenzuschüssen,
  • Eckpunkte einer Unternehmenssteuerreform, die allerdings von den Gewerkschaften intern nicht mitgetragen wurden, und
  • weitreichende Übergangfristen bei der Öffnung der Arbeits- und Dienstleistungsmärkte der EU für die mittel- und osteuropäischen EU-Beitrittsländer.

Die für die Arbeitgeber wie die Bundesregierung wesentlichste Frage war die, ob es gelang, in der Tarifpolitik mit den Gewerkschaften einen Konsens zu erzielen. Lohnleitlinien aber lehnten die Gewerkschaften grundsätzlich ab. Sie verwiesen auf die unterschiedliche Entwicklung in den Branchen sowie die innergewerkschaftliche Willensbildung in den Tarifkommissionen sowie die erheblichen Widerstände, die eine Lohnmoderation im Bündnis in ihren Organisationen hervorrufen musste. Während der gesamten Zeit gab es zwischen den DGB-Gewerkschaften im Grunde keinen Konsens über eine weitgehende Beteiligung im Bündnis. Zwar plädierte kein Mitglied des DGB-Bundesvorstandes dafür, sich einer Einladung des Bundeskanzlers zu verweigern. Aber die IG Medien sowie die HBV ebenso wie starke Minderheiten in der IG Metall wie der ÖTV begleiteten das Bündnis mit Skepsis und Misstrauen.

Andererseits mussten die Gewerkschaften erkennen, dass sich vor allem in den neuen und zunehmend in den alten Bundesländern in den Betrieben vom Tarifvertrag abweichende Regelungen ausbreiteten oder konkret gesprochen, entweder mit Zustimmung der örtlichen Gewerkschaften oder an ihr vorbei von den Betriebsparteien getroffen wurden. Handlungsbedarf bestand auch in der Arbeitszeitgestaltung. Ein wesentliches Motiv für die Industriegewerkschaften, dem Bündnis beizutreten, war die Ausgestaltung der Altersteilzeit. Was Klaus Zwickel unter der Rente mit 60 verstand, war nicht die Rückkehr zum Vorruhestand, sondern eine über 10 Jahre hinweg tarifvertraglich zu vereinbarende Altersteilzeit. Dafür aber mussten die Rahmenbedingungen geklärt werden. Die Phasen der ATZ mussten verblockt werden. Das heißt, Beschäftigte sollten fünf Jahre ein geringeres Entgelt beziehen und dann fünf Jahre bei gleichem Entgelt von der Arbeit frei gestellt werden. Um die Einkommensverluste auszugleichen sollten neben dem steuerfreien Zuschuss der Arbeitgeber von 20 Prozent auf das Teilzeitentgelt auch Arbeitszeitguthaben aktiviert werden können. Um die Überstunden zu begrenzen, die für die Langzeitguthaben geleistet werden mussten, wurden Regeln für den Ausgleich der monatlichen und jährlichen Arbeitszeit geschaffen. Diese Regeln sowie eine beschäftigungsorientierte interne Flexibilisierung der Arbeitszeit waren der wesentliche Gegenstand der gemeinsamen Erklärung von DGB und BDA, die in mehreren Gesprächen zwischen dem DGB-Vorsitzenden Dieter Schulte und BDA-Präsident Dieter Hundt ausgehandelt und von den Gewerkschaften gebilligt worden war. Um jedoch den Eindruck zu vermeiden, es werde im Bündnis über die Tarifpolitik gesprochen, wurde in der Erklärung des Bündnisses vom Juli 1999 lediglich das gemeinsame Papier von BDA und DGB begrüßt. Der für die Jahre 2000 und 2001 zwischen Klaus Zwickel und Gesamtmetall-Präsident Werner Stumpfe verabredete moderate Tarifabschluss war keine direkte Folge des Bündnisses, passte jedoch in den Rahmen der Bündnisgespräche.

Zwei andere große "Reformthemen" wurden zwar nicht in den offiziellen Bündnisgesprächen, aber im Rahmen der Verhandlungskultur des Bündnisses zwischen Gewerkschaften und Bundesregierung abgestimmt: Die Rentenreform und die Reform der Betriebsverfassung. Pläne des Arbeitsministers, die Dynamik des Anstiegs der gesetzlichen Rente zu brechen und die zu erwartenden Einkommensverluste der Rentnerinnen und Rentner durch eine staatlich geförderte private Altersversicherung zu kompensieren, wurden von den Rentenexperten der Gewerkschaften wie der gesetzlichen Rentenversicherung selbst vehement abgelehnt. Nachdem die Bundesregierung erkennen musste, dass sie diese Pläne nicht mit der Opposition, der sie nicht weit genug gingen, auf parlamentarischem Wege verabschieden konnte und der Widerstand in der SPD wachsen würde, entschloss sie sich, diese Pläne mit den Sozialpartnern abzustimmen. In langen Gesprächsrunden im Kanzleramt und im Arbeitsministerium konnten die Gewerkschaften wie die Arbeitgeber Rahmenbedingungen für eine tarifvertraglich auszugestaltende betriebliche Altersvorsorge durchsetzen. Unter dieser Bedingung billigten sie die Rentenreform.

Keinen Konsens mit den Arbeitgebern konnte die Bundesregierung bei der Reform der Betriebsverfassung erzielen. Nach langen Verhandlungen mit den Gewerkschaften und Überwindung des Widerstandes des Bundeswirtschaftsministers wurde die Betriebsverfassung so geändert, dass die Strukturen der Betriebsräte den sich schnell wandelnden Unternehmensstrukturen (Aufspaltungen, Verkäufe usw.) folgen konnten und die Zahl der freigestellten Betriebsräte erhöht wurde. Zudem wurde das Wahlverfahren in KMUs erleichtert und dem Betriebsrat ein Initiativrecht zur Beschäftigungssicherung eingeräumt.

Die Arbeitgeberverbände rückten nun nach und nach vom Bündnis ab. Gesprächsrunden endeten ergebnislos. Auch in den Gewerkschaften wuchs die Kritik. Als die Union 2002 mit Edmund Stoiber einen Kanzlerkandidaten mit hohen Umfragewerten präsentierte, liefen die Arbeitgeberverbände zu Stoiber über und blockierten das Bündnis komplett. Schröder, der sich nicht vorführen lassen wollte, reagierte harsch mit dem faktischen Abbruch der Gespräche und einer deutlichen Annäherung an die Gewerkschaften. Diese Nähe zwischen dem wiedergewählten Kanzler und den Arbeitnehmervertretungen hielt dann bis zum 3. März 2003, der letzten Bündnisrunde. Inzwischen hatte Schröder die Hartzkommission zur Reform der Arbeitsmarktpolitik eingesetzt, Walter Riester als Arbeitsminister entlassen, das Arbeits- mit den Wirtschaftsministerium verschmolzen und den "Radikalreformer" Clement zum Superminister ernannt. Seinem Reformprogramm einer durchgreifenden Deregulierung des Arbeitsmarktes konnten und wollten die Gewerkschaften nicht zustimmen. Das Bündnis endete im Dissens.

Folgt man der durch zahlreiche Gespräche mit Beteiligten und Auswertung von Dokumenten gut recherchierte Darstellung Fickingers, so scheiterte das Bündnis im Wesentlichen daran, dass sich Arbeitgeber und Gewerkschaften nicht auf eine gemeinsame Sicht der wirtschaftlichen Lage einigen konnten. Dabei hätten sich vor allem die Gewerkschaften Einsicht verweigert, dass Bündnisvereinbarungen für mehr Ausbildungsplätze und mehr Arbeitsplätze durch die strukturelle Schwäche der Arbeitgeberverbände kaum belastbar waren. Ein weiterer Grund für das Scheitern war laut Fickinger der Tatsache geschuldet, dass die Bundesregierung nicht entschlossen führte, sondern sich auf eine mehr oder weniger gelungene Moderation beschränkte. Jochem kritisiert, die Regierung stelle ihre wohlfahrtsstaatlichen Reformen nicht in das Zentrum des Bündnisses, sondern leite diese am Bündnis vorbei und versäume es, weitere Reformen im Bündnis zu beraten. Auch hatten die Blockade der Gewerkschaften, die Lohnpolitik im Bündnis ebenso zum Scheitern beigetragen. "Zum Teil waren die Präferenzen der Akteure von Arbeit und Kapital zu weit auseinander."(4)

Selbstkritischer Rückblick

Ein Rückblick in zeitlichem Abstand und aus der Sicht eines der damals an der Vorbereitung von Kanzlerrunden und Arbeitsbündnissen Beteiligten (5) führt zu drei Erkenntnissen:

  • Ein erheblicher Teil der Bündnisarbeit diente der öffentlichen Selbstdarstellung. Dabei wurden oftmals Kompromisse in Erklärungen geschrieben, hinter denen sich tiefe Unterschiede verbargen und die mehr Misstrauen und Kritik auslösten, als tatsächlich in der Sache weiterzuführen. Eine ehrliche Darlegung, wo es überhaupt Konsens gab und wo Kompromisse erzielt wurden, wäre klarer und zielführender gewesen.
  • Tarifpolitik gehört in keine Kanzlerrunde. Dafür ist sie zu stark vom Interessensgegensatz von Arbeit und Kapital, von Arbeitgebern und Gewerkschaften bestimmt.
  • Verabredungen zwischen Staat, Gewerkschaften und Arbeitgebern haben nur eine begrenzte Haltbarkeit, da die Arbeitgeberverbände nur schwerlich eine konstruktive Umsetzung von Vereinbarungen garantieren können. Es gibt eben keinen organisierten Kapitalismus. Sinnvoll sind sie nur, wenn sie verschiedene Politikfelder, in denen die Akteure bereits tätig sind, zusammen diskutierbar machen und eventuell eine besser verzahnte Politik ermöglichen: Das gilt für die Aus- und die Weiterbildung oder für die Dienstleistungs- und Industriepolitik. Entscheidend aber ist, dass die grundsätzliche Richtung stimmt. Gewerkschaften werden sich nicht wieder auf einen neoliberalen Mainstream verpflichten lassen und Arbeitgeberverbände bisher noch nicht auf eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik.


Dr. Wolfgang Uellenberg - van Dawen ist Bereichsleiter Politik und Planung in der ver.di Bundesverwaltung.



Anmerkungen

(1) Die beste Übersicht über die Entstehung, den Verlauf und das Scheitern des Bündnisses für Arbeit hat der frühere Wirtschaftskorrespondent der FAZ in Berlin, Niko Fickinger erarbeitet. Erfolg oder Scheitern des Bündnisses misst er an den Notwendigkeiten neoliberaler Politik. Niko Fickinger: Der verschenkte Konsens Das Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit 1998 - 2002, Wiesbaden 2005

(2) Durch den Zugang zum DGB Archiv sowie der Auswertung von Pressemeldungen konnte Anita Schmidt in ihrer Magisterarbeit im Fach Politikwissenschaft an der Universität Köln eine Chronologie der Kanzlerrunden unter Schmidt und Kohl bis 1996 nachzeichnen: Anita Schmidt, Stiefkind der deutschen Korporatismusforschung? Eine Chronologie der Kanzlerrunden, unveröffentlichtes Manuskript Köln 2002

(3) Siehe dazu zusammenfassend für eine zahlreiche Literatur: Sven Jochem: Soziale Pakte in Europa, in: Britta Rehder: Interessensvermittlung in Politikfeldern, Vergleichbare Befunde der Politcy und Verbändeforschung, Wiesbaden 2009. Bündnisse und Pakte gab es u.a. in den Niederlanden, Italien, Frankreich, Schweden und Norwegen, Finnland und Irland. Fickinger S. 79 gibt einen tabellarischen Überblick.

(4) Jochem: Soziale Pakte S. 225

(5) Der Autor war als Leiter des Vorstandssekretariats und später als Bundesvorstandssekretär des DGB an der Vorbereitung von Kanzlerrunden der Ära Kohl wie der Bündnisse beteiligt.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 2/2014, Heft 201, Seite 26-31
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Mai 2014