Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → WIRTSCHAFT

GEWERKSCHAFT/495: Bsirske mahnt "Rückkehr des Sozialen" an (ver.di)


ver.di - Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft - Presseinformation vom 20. September 2011

Bsirske mahnt "Rückkehr des Sozialen" an und fordert dazu eine neue Architektur der europäischen Wirtschafts- und Finanzpolitik und mehr Europa - Dafür soll die deutsche Verfassung geändert werden


Berlin, 20.09.2011 - Frank Bsirske, gestern mit 94,7 Prozent in seinem Amt als Vorsitzender der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) bestätigt, hat in seiner Grundsatzrede vor den Delegierten des dritten ordentlichen ver.di-Bundeskongresses in Leipzig eine "Rückgewinnung des Sozialen" angemahnt. Vor dem Hintergrund des "Krisenmarathons der vergangenen drei Jahre" seien Weichenstellungen erforderlich, die sich deutlich vom "hektischen und bei weitem zu kurz greifenden Krisenmanagement der vergangenen Tage und Monate" unterschieden. Dazu gehöre die "Abkehr von einer Ökonomie der Maßlosigkeit und die Hinwendung zu einer verantwortungsbewussten und sozial gerechteren Gestaltung der Gesellschaft", sagte Bsirske.

"Wir wollen, dass mit dem Regime von Maß- und Verantwortungslosigkeit, rücksichtsloser Profitmaximierung und fortgesetzter Aushöhlung der sozialen Sicherung gebrochen wird. Wir wollen den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken, wir wollen bessere Lebensbedingungen für die Menschen: in der Arbeit und in der Gesellschaft." Angesichts fortschreitender sozialer Spaltung und einer immer stärker um sich greifenden Prekarisierung der Arbeitswelt habe das Grundversprechen, dass Leistung sozialen Aufstieg möglich mache, seine Gültigkeit verloren. So seien junge Menschen nicht nur häufiger von Arbeitslosigkeit betroffen als die Gesamtbevölkerung, sondern auch öfter in sogenannten atypischen Beschäftigungsverhältnissen tätig, mit befristeten Arbeitsverträgen, in ungewollter Teilzeit, in geringfügiger Beschäftigung oder in der Leiharbeit: "Das schafft Verunsicherung, auch Wut und Empörung - führt auf der anderen Seite aber auch zu Ratlosigkeit und Ohnmachtsgefühlen", stellte Bsirske fest.

"Zwingender Bezugspunkt gewerkschaftlichen Handelns" sei daher, die Zusammenhänge, die die Wirtschafts- und Finanzkrisen bedingen, offen zu legen und jede Ursache gezielt zu bekämpfen: "Wir brauchen eine Strategie für qualitatives Wachstum und Beschäftigung. Eine Strategie, die einen europäischen Marshallplan für die Länder des Südens verbindet mit einer Ankurbelung des Binnenmarkts in den Überschussländern. Das gilt besonders für Deutschland. Darüber hinaus muss die harte Sparpolitik in Großbritannien, Irland, Portugal und Griechenland gestoppt werden", forderte Bsirske.

Gleichzeitig mahnte er eine andere Architektur der Wirtschaftspolitik in der Eurozone an: "Bis heute hat die gemeinsame Währung einen gravierenden Konstruktionsfehler. Es gibt keine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik. Damit die Währung funktionieren kann, brauchen die Eurostaaten eine gemeinsame Wirtschafts-, Währungs- und auch Steuerpolitik. Sie soll mit einer eigenen Einnahmebasis etwa in Form der Finanztransaktionssteuer ausgestattet sein, demokratisch gewählt und kontrolliert durch ein mit Initiativrechten ausgestattetes EU-Parlament", führte Bsirske aus.

Um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, müsse die deutsche Politik mit einer Verfassungsänderung die Voraussetzung schaffen, um die Einigung Europas fortzusetzen - getreu der Präambel des Grundgesetzes, wonach Deutschland "als gleichberechtigtes Mitglied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen" habe. ver.di sage "Ja zu mehr Europa"-"Aber anders als bisher". So müsse der Standortwettbewerb über Steuer-, Sozial- und Lohndumping durch eine Koordinierung der Steuer- und Sozialpolitik und eine bessere Abstimmung der Gewerkschaften untereinander bei der Lohnfindung: "Lohnpolitischen Anpassungsdruck sehen wir dabei allerdings zuallererst in den Überschussländern und nicht, wie Frau Merkel meint, nur bei den Defizitländern."

Die Eurokrise zeige darüber hinaus, wie notwendig es sei, die Staaten aus dem Würgegriff der Finanzmärkte zu befreien.

Dazu müssten neue Regeln für die Finanzmärkte eingeführt werden: "Finanzinstitute, die zu groß sind, um scheitern zu dürfen, können ganze Volkswirtschaften in den Abgrund reißen. Damit muss Schluss sein. Solche Institute müssen in voneinander unabhängige Teile zerlegt werden. Finanzprodukte, die keinen Nutzen haben, müssen durch einen Finanz-TÜV verboten werden", forderte Bsirske und drängte auf eine zeitnahe Einführung von Eurobonds: "Eurobonds können als gemeinsame Anleihen aller Euroländer die Spekulation gegen die Staaten stoppen und bündeln die gesamte Finanzkraft der Eurozone. Da das Risiko eines Zahlungsverzuges oder Staatsbankrotts in der gesamten Eurozone gegen Null geht, gibt es auch keinen Grund, warum die Zinsen für Eurobonds wesentlich höher sein sollten als in Ländern wie Deutschland oder Frankreich. Für die derzeitigen Wackelstaaten aber hätten Eurobonds den Vorteil, dass ihre Refinanzierungskosten auf einen Schlag drastisch sinken würden: In jedem Fall dürften die Kosten für Deutschland weitaus geringer ausfallen als die Kosten, die ein Zusammenbruch der Eurozone für die deutsche Wirtschaft nach sich zöge."

Um den Zusammenhalt der Gesellschaft aufrecht zu erhalten, müsste darüber hinaus die Arbeit, die direkt für die Menschen geleistet werde, einen höheren Stellenwert eingeräumt bekommen: "Viele gesellschaftliche Bedarfe liegen zurzeit brach. Menschen können Beruf und Familie nicht in Einklang bringen, weil die notwendigen Betreuungseinrichtungen fehlen. Viele Schüler erreichen keinen Abschluss, weil es für eine individuelle Förderung zu wenige Lehrkräfte gibt. Für viele ist eine gute Versorgung im Krankheitsfall nicht mehr garantiert, weil nicht ausreichend Personal da ist. Andere Menschen wiederum können nicht in Würde alt werden, weil es an guter Pflege mangelt." Offenkundig würden notwendige gesellschaftliche Dienstleistungen nicht im erforderlichen Umfang erbracht. Das sei "Ausdruck krassen Politikversagens", indem die Bundesregierung auf eine zukunftsfähige Dienstleistungspolitik verzichte.

Dabei beschäftige der Dienstleistungssektor über 70 Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland und sorge - mit steigender Tendenz - für mehr als 70 Prozent der gesellschaftlichen Wertschöpfung. Ver.di werde sich stark machen für einen Ausbau der vorhandenen Dienstleistungen und für Investitionen in neue Dienstleistungen sowie eine entsprechende Forschung. Es gelte, den Weg in eine neue Dienstleistungsökonomie mithilfe einer neuen Dienstleistungspolitik erfolgreich zu gestalten: "Diese neue Dienstleistungspolitik muss den gesamten Bereich der Dienstleistungen in all ihrer Vielfalt in den Blick nehmen. Sie setzt auf Forschung und Entwicklung für neue und bessere Dienstleistungen, soll den Interessen der Beschäftigten Rechnung tragen und legt einen Schwerpunkt auf die Aufwertung und Professionalisierung der Dienstleistungsarbeit", forderte Bsirske.

Das Thema Dienstleistungsökonomie stellt auch in den kommenden Tagen einen Schwerpunkt der Beratungen des ver.di-Bundeskongresses dar. Die Themen prekäre Beschäftigung mit der Forderung nach Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns sowie das Streikrecht für Beschäftigte kirchlicher Einrichtungen bilden weitere Schwerpunkte und werden in der Antragsberatung eine zentrale Rolle einnehmen.

Weitere Informationen über den Verlauf des Kongresses finden Sie auch unter www.verdi.de


*


Quelle:
Presseinformation vom 20.09.2011
ver.di - Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft
Cornelia Haß - ver.di-Bundesvorstand
Paula-Thiede-Ufer 10, 10179 Berlin
Telefon: 030/6956-1011 und -1012, Fax: 030/6956-3001
E-Mail: pressestelle@verdi.de
Internet: www.verdi.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. September 2011