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FRAGEN/016: Die Macht von Moody's und Co. ist eine Frage der Rezeption (BI.research - Uni Bielefeld)


BI.research 39.2011
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld

"Die Macht von Moody's und Co. ist eine Frage der Rezeption"
Wirtschaftshistoriker Jan-Otmar Hesse hält Ratings für notwendig

Interview von Sabine Schulze



Ende 2011 setzten Rating-Agenturen die Staaten der Europäischen Union unter Druck. Die Agentur Standard & Poor's drohte der EU mit der Herabstufung ihrer Kreditbewertung.

Auch wenn Rating-Agenturen heute mit einer gewissen Skepsis und Kritik betrachtet werden: Ihre Entstehung hat einen Grund, ihre Einschätzungen haben eine Funktion. Wie das Kaninchen auf die Schlange muss man aber nicht auf Standard & Poor's, Moody's oder Fitch starren, meint Prof. Dr. Jan-Otmar Hesse, Wirtschaftshistoriker an der Universität Bielefeld.


Frage: Der deutsche Gewerkschaftschef Michael Sommer hat die US-Rating-Agenturen als die wirkungsvollsten Cruise Missiles der Wall Street bezeichnet. Passt dieser Vergleich mit fliegenden Sprengköpfen für die Vergleichsagenturen?

Jan-Otmar Hesse: Wenn eine Cruise Missile auf den Weg geschickt ist, ist nichts mehr zu machen. Die Rating-Agenturen aber können ihre Wirkung nur entfalten, wenn es jemanden gibt, der ihre Botschaften aufnimmt, der Angst davor hat oder sie für sich nutzt. Die Macht von Moody's und Co. ist also schlicht eine Frage der Rezeption. Darüber hinaus: Wenn Merkel oder Sarkozy sich äußern, ist das ebenso machtvoll. Und schließlich: Die Europäer haben die Ratings auch für sich genutzt, ihre Position bewusst aufgebaut. Die Europäische Zentralbank darf nur Staatspapiere annehmen, die von diesen drei US-Agenturen mit Triple A bewertet sind.

Frage: Wann und warum, in welcher Situation sind die Rating-Agenturen entstanden?

Jan-Otmar Hesse: Sie sind in einer völlig anderen Zeit und Funktionsweise des Kapitalismus im 19. Jahrhundert in den USA entstanden. Damals war die Hälfte der US-Bevölkerung jünger als 25, es herrschte eine Aufbruchstimmung, und die Gesellschaft war mobil. In dieser Situation brauchte man jemanden, der entscheiden konnte, ob ein kleiner Kaufmann in Chicago kreditwürdig ist.

Frage: Warum haben diesen Job nicht die Banken übernommen?

Jan-Otmar Hesse: Es gab schlicht kein etabliertes Bankenwesen wie in Europa. Hier haben allerdings die Banken - häufig Privatbanken - über die Kreditwürdigkeit befunden: Man kannte seine Kunden, die Banken kannten sich untereinander und verliehen untereinander Geld; es gab Verwandtschaftsnetzwerke. Die Strategie war eine kontinentaleuropäische. Und die Bank überprüfte selbst die Solvenz eines Unternehmens oder entschied, ob sie einem König Geld leihen wollte. Das Prinzip der Hausbank war noch bis in die 70er Jahre in Deutschland verbreitet. Und nicht selten war oder ist ein Bankenvertreter auch noch im Aufsichtsrat eines Unternehmens - was Wissen über Interna bedeutet.

Frage: Was ist denn jetzt anders?

Jan-Otmar Hesse: Die US-amerikanische und die deutsche Marktwirtschaft mischen sich seit 30, 40 Jahren. Das erleben wir im Moment schockartig. Die Rating-Agenturen betreiben ein uns eigentlich fremdes System der Kreditüberprüfung.

Frage: Man hat das Gefühl, dass wir geradezu hypnotisiert darauf warten, dass bald womöglich Deutschland und Frankreich herabgestuft werden. Greift eine Bewertung wie Triple A oder B nicht zu kurz?

Jan-Otmar Hesse: Anfangs haben die Rating-Agenturen - und es gab im 19. Jahrhundert viele, von denen aber die wenigsten überlebten - auch ausführliche Kreditreporte geschrieben. Standard & Poor's und Moody's haben dann aber das Ratingsystem mit A, B, C und so weiter eingeführt. Das war eine Form der Produktverbesserung. Und es erlaubte, jede Branche zu analysieren: die Eisenbahngesellschaften ebenso wie den kleinen Einzelhändler.

Frage: Warum zittern denn jetzt Staaten und Banken? Haben die Rating-Agenturen einen Informationsvorsprung?

Jan-Otmar Hesse: Das Produkt dieser Agenturen ist letztlich geheim - und das muss es auch sein, weil es eben ihr Produkt ist. Auch Oetker gibt nicht jede Rezeptur preis. Und die Algorithmen, Formeln und Modelle, nach denen die Rating-Agenturen rechnen, sind eben ihr Rezept. Sie behaupten jeweils, dass ihr Rezept besonders erfolgreich sei, weil damit Risiken besser zu erfassen seien.

Frage: Und: Können die Agenturen tatsächlich mehr vorhersagen?

Jan-Otmar Hesse: Das ist letztlich eine Glaubensfrage.

Frage: Haben Moody's und Kollegen nicht ihre Unschuld verloren? Sie haben schließlich in der Finanzkrise durchaus deutlich falsch gelegen.

Jan-Otmar Hesse: Das würde ich persönlich auch so sehen. Es stellt sich auch die Frage nach Geschäftsinteressen, danach, ob ein Rating kalkuliert war, es den Auftrag gab, ein Finanzprodukt zu bewerten oder ob es Beteiligungen am Gewinn gab ... Zwischenzeitlich ist ja bekannt geworden, dass die Ratingagenturen für Unternehmensbewertungen hohe Provisionen kassiert haben und daher bei den Bewertungen von Bankprodukten ein eigenes Geschäftsinteresse hatten, während sie für Staatsbewertungen keine Provisionen erhalten - was vielleicht auch zu geringerem Interesse und geringerem Aufwand führt. Aber man muss auch sehen, dass keiner gezwungen ist, das zu kaufen.

Frage: Was halten Sie von einer europäischen Rating-Agentur, die Angela Merkel ja auch schon ins Spiel gebracht hat? Wenn verglichen wird, können wir das auch selber ...

Jan-Otmar Hesse: Derzeit gibt es ein Oligopol, das ist für uns ungünstig. Es wäre prima, das zu durchbrechen. Die Initiative dazu hätte spätestens nach Lehman kommen können. Aber: Auch diese Agentur müsste sich am Markt durchsetzen.

Frage: Wer könnte die Bewertungen vornehmen? Europäische Banken?

Jan-Otmar Hesse: Warum nicht? Sie sind allerdings in der Zwickmühle, dass sie das Rating benutzt haben, um zu kaschieren, dass sie Pleitestaaten Geld geliehen haben. Denkbar wären deshalb auch andere, wissenschaftlich gespeiste Institutionen. Die Hauptsache ist, dass getrennt wird zwischen denen, die Kredite vergeben und denen, die sie bewerten.

Frage: Braucht es denn wirklich diese Agenturen?

Jan-Otmar Hesse: Die Marktwirtschaft und die Märkte sind komplex, man benötigt diese Vergleiche. Es braucht eine zuverlässige Stelle, die Kriterien für die Qualität von Produkten nennt - ob es sich um Autoreifen oder Kaffeemaschinen handelt. Jeder, der heute eine neue Matratze kauft, informiert sich vorab bei der Stiftung Warentest oder im Internet. Für den Finanzsektor gibt es eben die Rating-Agenturen. Und für die schnelle Kommunikation braucht man standardisierte Vergleiche - die aber auch Probleme erzeugen. Denn womöglich reichen die Schemata nicht aus: Wenn so unterschiedliche Länder wie die USA, Italien oder Griechenland eine gleiche Bewertung erhalten, hält man diese sehr unterschiedlichen Volkswirtschaften im Hinblick auf deren Kreditwürdigkeit auch für vergleichbar - obwohl eben riesige Unterschiede bestehen. Und die Akteure am Finanzmarkt reagieren prompt, selbst wenn ein Urteil undifferenziert ist.

Frage: Wie steht es denn um die Zuverlässigkeit oder Parteilichkeit der Agenturen?

Jan-Otmar Hesse: Derzeit sind sie in Generalverdacht - zumal sich der US-Präsident selbst eingemischt hat. Aber noch einmal: Das Rating ist autorisiert, weil es sich als Produkt auf dem Markt durchgesetzt hat. Der springende Punkt ist: Wir haben die Beurteilung der Kreditwürdigkeit von Staaten dem Markt überlassen; wir haben uns dem letztlich ohne Not hingegeben. Aber dazu zwingt uns ja keiner!

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Quelle:
BI.research 39.2011, Seite 12-15
Herausgeber:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. August 2012