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ENERGIE/2405: Preisdeckel auf russisches Erdöl - "Ein Schuss in das eigene Knie" (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 2. Dezember 2022
german-foreign-policy.com

"Ein Schuss in das eigene Knie"

Preisdeckel auf russisches Erdöl könnte der EU stärker schaden als Russland. USA dringen auf einen hohen Preisdeckel - als gesichtswahrenden Ausweg aus einer Fehlleistung der EU.


BERLIN/MOSKAU (Eigener Bericht) - Der für Montag angekündigte Versuch von EU und G7, einen Preisdeckel für russisches Erdöl zu oktroyieren, könnte der EU mehr schaden als Russland. Dies geht aus Einschätzungen von Experten hervor. Brüssel will den Preisdeckel nicht unterhalb von 60 US-Dollar pro Barrel festsetzen; damit entspricht er annähernd dem Preis, den Russland zur Zeit erzielt. Lediglich Polen und die baltischen Staaten wollen ihn auf 30 US-Dollar drücken; weil Russland in diesem Fall aber überhaupt nicht liefern würde, fehlte sein Erdöl dann auf dem Weltmarkt; eine auch für den Westen verheerende Preisexplosion wäre die Folge. Dies ist der Grund, weshalb mittlerweile selbst Washington auf einen Preisdeckel von mindestens 60 US-Dollar dringt. Ist ein solcher Preisdeckel nicht geeignet, Russland ernsthaft zu schädigen, so sind Reeder und Schiffsversicherer aus Europa dabei, Marktanteile zu verlieren: Die Drohung mit dem Preisdeckel hat Russland und mutmaßlich auch Indien und China dazu gebracht, ihre eigenen Tanker- und Versicherungskapazitäten auszubauen. Ein US-Experte urteilt über EU und G7: "Sie haben sich selbst in das Knie geschossen." Eine Preisexplosion ist wegen des EU-Ölembargos dennoch möglich.

Das Ölembargo

Der Preisdeckel für russisches Erdöl soll am kommenden Montag in Kraft treten - parallel zum EU-Embargo auf per Schiff transportiertes russisches Öl. Nicht betroffen ist Öl, das per Pipeline nach Ungarn, in die Slowakei und nach Tschechien geliefert wird; diese haben als Binnenländer deutlich größere Schwierigkeiten, sich Zugang zu alternativen Ölquellen zu verschaffen, und deshalb eine Ausnahmegenehmigung erhalten. Ursprünglich war geplant, gleichzeitig mit dem Ölembargo ein Verbot für Firmen aus der EU zu verhängen, russisches Öl per Schiff zu transportieren, Öltransporte zu versichern oder sich auf irgendeine andere Art und Weise an ihnen zu beteiligen. Dies hätte wohl gravierende Folgen mit sich gebracht. Griechenland besitzt laut Branchenangaben 21 Prozent aller Tankschiffe für den Transport flüssiger Stoffe weltweit; griechische Reeder transportieren große Mengen russischen Öls; weitere Kapazitäten in Zypern, Malta und in anderen westlichen Ländern kommen hinzu.[1] Finanzunternehmen in der EU und vor allem in Großbritannien versichern rund 90 Prozent des Seehandels. Dürften sie alle keinerlei Geschäft mehr mit russischem Erdöl machen, dann verlören sie nicht nur einen lukrativen Markt; es stünde auch zu befürchten, dass größere Mengen russischen Öls nicht mehr auf den Weltmarkt gelangten, die Preise in astronomische Höhen schnellten und die Wirtschaft im Westen in eine weitere dramatische Krise stürzte.

Der Ölpreisdeckel

Das ist der Grund dafür, dass die G7 und in ihrem Gefolge auch die EU den Plan verfolgen, sämtliche Geschäfte mit russischem Öl - Schiffstransport, Versicherungen und anderes mehr - an einen Preisdeckel zu binden: Sämtliche Geschäfte sind erlaubt, sofern der Preis, den Russland für die Öllieferungen kassiert, eine von der EU diktierte Höhe nicht überschreitet. Mit dem Preisdeckel wollen Brüssel und die G7 die russischen Einnahmen aus dem Ölexport reduzieren, gleichzeitig aber verhindern, dass zu wenig russisches Erdöl auf den Weltmarkt gelangt und die Preise explodieren. Dass dies gelingt, ist durchaus ungewiss: Moskau hat angekündigt, sich Preisdiktate nicht bieten zu lassen und Staaten, die den Preisdeckel einführen, nicht mehr zu beliefern. Damit droht die befürchtete Preisexplosion erneut. Es kommt hinzu, dass sich Russland mit ganzer Energie bemüht, eine vom Westen unabhängige Tankerflotte zusammenzustellen und vom Westen unabhängige Versicherer aufzutun - vor allem im eigenen Land, in China und in Indien. Damit wären Reeder und Versicherer aus der EU sowie aus Großbritannien tendenziell aus dem Geschäft und müssten nicht nur konkrete Einbußen, sondern perspektivisch auch den Verlust ihrer bislang starken, teilweise sogar dominanten Weltmarktposition hinnehmen.

Washington greift ein

Dies wiederum hat die EU veranlasst, den Preisdeckel so anzusetzen, dass er in etwa dem Preis entspricht, den Russland aktuell mit seinen Erdölexporten erzielt. Verlässliche Angaben über den Preis liegen nicht vor; Schätzungen belaufen sich auf Werte zwischen 17 und 23 US-Dollar unterhalb des Preises der Nordseesorte Brent.[2] Die Hoffnung lautet, Moskau sei womöglich bereit, einen Preisdeckel, der ihm kaum schade, stillschweigend zu akzeptieren; die Schäden für Reeder und Versicherer aus Europa blieben dann aus oder wären gering, der Ölpreis schnellte nicht in die Höhe - und man könnte den Preisdeckel später schrittweise verschärfen. Im Gespräch war zunächst ein Deckel zwischen 65 und 70 US-Dollar pro Barrel; er wurde von den USA unterstützt. Blockiert wurde dies allerdings vor allem von Polen, Estland und Litauen, die auf einem Preisdeckel von 30 US-Dollar pro Barrel bestanden, um Russland so massiv wie möglich zu schaden.[3] Die Wahrscheinlichkeit, dass Russland einen solchen Preisdeckel akzeptieren würde, ist faktisch null; Polen, Estland und Litauen nahmen also einen plötzlich auftretenden Ölmangel auf dem Weltmarkt, eine Preisexplosion sowie gravierende Folgen für alle Länder in Kauf. Laut Berichten hat Washington ihre Widerstände, die die EU nicht ausräumen konnte, jetzt per Machtwort beseitigt. Der Preisdeckel soll, so heißt es, bei 60 US-Dollar liegen.[4]

Kaum Kontrollen

Zu der Tatsache, dass der Preisdeckel nun sehr nah an dem ohnehin von Russland erzielten Preis liegen soll, kommt hinzu, dass die Kontrollbestimmungen offenbar recht locker gehalten sind. So heißt es etwa, Versicherer seien nicht dazu verpflichtet, schriftliche Zusicherungen der Ölkäufer, den Preisdeckel einzuhalten, bei einer zentralen Registerstelle einzureichen.[5] Zudem sollen Verstöße nicht mehr, wie ursprünglich geplant, mit einem dauerhaften Ausschluss vom EU-Markt bestraft werden, sondern nur mit einer drei Monate währenden Sperre.[6] Der Preisdeckel werde vor allem die Öllieferströme umleiten, wird Daniel Ahn, einst ein hochrangiger Ökonom im US-Außenministerium, zitiert. Allerdings scheinen europäische Reeder und Versicherer wegen des Versuchs, Russland mit dem Preisdeckel zu schaden, Marktanteile zu verlieren. So wird ein Experte der Schweizer Bank Julius Baer mit dem Hinweis zitiert, Ölhändler operierten heute weniger von Genf oder London aus, sondern zunehmend aus dem Mittleren Osten. Der ehemalige Mitarbeiter des State Department Daniel Ahn urteilt: "Sie haben sich selbst in das Knie geschossen, und nun versuchen sie sozusagen, es irgendwie zu bandagieren."[7] Mittlerweile deutet - wohl mit Blick auf die für Russland günstige Gesamtlage - Moskau eine gewisse Bereitschaft zu einem flexiblen Umgang mit dem Preisdeckel an.[8]

Va banque

Bei alledem ist freilich nicht ausgeschlossen, dass der Preisdeckel-Oktroy nicht nach Plan läuft und der Ölpreis explodiert. Dies könne etwa dann geschehen, wenn Russland sich dem Preisdeckel verweigere und nicht genügend Versicherer jenseits des Westens bereitstünden, um Öltransporte mit Hilfe nichtwestlicher Schiffe abzudecken, warnte jüngst die britische Zeitschrift The Economist.[9] Unklar ist vor allem auch, ob die Umleitung der globalen Erdöllieferungen gelingt, die das EU-Embargo erzwingt. Noch im Oktober importierten die EU-Staaten rund 2,5 Millionen Barrel Erdöl und Erdölprodukte pro Tag aus Russland. Öl darf ab Montag, Ölprodukte dürfen ab dem 5. Februar nicht mehr eingeführt werden.[10] Woher die EU dann Öl und Ölprodukte beziehen wird, ist nicht ganz klar. Die Lieferungen, die sie sich sichert, werden anderen - vorzugsweise ärmeren - Staaten fehlen. Können die russischen Öltransporte nicht schnell genug umgeleitet werden, entstehen Angebotslücken, die den Preis rasant in die Höhe treiben könnten. Die EU spielt mit dem Embargo einmal mehr va banque - zu Lasten vor allem ärmerer Bevölkerungsteile und ärmerer Länder.


Anmerkungen:

[1] Christian Schubert: Griechische Tanker füllen Putins Kasse. faz.net 09.07.2022.

[2] U.S. Urges Caution on Low-Quoted Russian Oil Prices as EU Debates Price Cap. usnews.com 30.11.2022.

[3] Alexandra Brzozowski, Kira Taylor: EU struggles to agree on Russian oil price cap as deadline looms. euractiv.com 29.11.2022.

[4] Laurence Norman: EU Asks Members to Set Russia Oil-Price Cap at $60. wsj.com 01.12.2022.

[5] Russia poised to largely skirt new G7 oil price cap. thedailystar.net 22.10.2022.

[6] Joe Wallace, Anna Hirtenstein: Oil Prices Face Fresh Volatility With New Russia Sanctions, OPEC Decision. wsj.com 27.11.2022.

[7] Russia poised to largely skirt new G7 oil price cap. thedailystar.net 22.10.2022.

[8] Noah Brenner: Kremlin 'Analyzing' Price Cap Response. energyintel.com 24.11.2022.

[9] How the West's price cap on Russian oil could roil energy markets. economist.com 30.11.2022.

[10] Emily Gosden: Europe's price cap on Russian oil is no one-size-fits-all answer. thetimes.co.uk 28.11.2022.


Hinweis der Schattenblick-Redaktion: Am 2. Dezember 2022 haben sich die EU-Staaten auf einen Preisdeckel von 60 US-Dollar pro Barrel für russisches Öl geeinigt, der am Montag, den 5. Dezember 2022, in Kraft getreten ist.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 6. Dezember 2022

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