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ARBEIT/2747: We stand united? - Neue Bruchlinien und Ansätze für eine solidarische Arbeitswelt ... (spw)


spw - Ausgabe 5/2017 - Heft 222
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

We stand united?
Neue Bruchlinien und Ansätze für eine solidarische Arbeitswelt in der digitalen Transformation

von Constanze Kurz, Katharina Oerder und Christina Schildmann(1)


Arbeit wird von Sozialdemokratie und Gewerkschaften als das Sinn und Zusammenhalt stiftende Moment in Gesellschaft gesehen. Voraussetzung dafür ist, dass die Arbeitswelt fair geregelt ist; das Orientierung stiftende Leitbild einer solidarischen Arbeitsgesellschaft beinhaltet gute Arbeitsbedingungen sowie sichere und planbare Erwerbsbiografien, hergestellt durch kollektive Regelungen im Betrieb, zwischen Sozialpartnern und sozialstaatliche Absicherung. Dieses Leitbild ist jedoch unter Druck; herkömmliche Konzepte und Instrumente von Mitbestimmung und Sozialstaat sind herausgefordert. In der Arbeitswelt verstärken sich nicht zuletzt durch die Digitalisierung schon länger bestehende Bruchlinien und Konflikte, neue kommen hinzu. Diese Entwicklung erfordert neue konzeptionelle Ansätze und Instrumente, die Gestaltungsansprüche offensiv artikulieren und damit Optionen für die Organisation von Solidarität in der (digitalen) Arbeitswelt schaffen. Um das soziale Potenzial der Digitalisierung zu mobilisieren und den Faktor Mensch nicht zum bloßen Anhängsel der Digitalisierung werden zu lassen, können Gewerkschaften, Interessenvertretungen und Beschäftigte zahlreiche Ideen und konkrete Ansatzpunkte liefern - dies spiegelt sich aktuell in vielen betrieblichen Beispielen wider. Diese arbeits- und betriebspolitischen Aktivitäten bewegen sich indes im eng geschnürten Korsett begrenzter Mitbestimmungsmöglichkeiten und reichen allein nicht aus. Sie müssen aus ihrer privatistischen Verengung herausgeführt und in eine umfassende Demokratisierungsstrategie eingebettet werden, welche die kulturellen, sozialen und technischen Potenziale freilegt, die wir besitzen und benötigen, um die Transformation zu bewältigen.

Diskurse der Entsolidarisierung und die Erosion der (alten) Solidaritätsbasis

Spätestens mit dem Schock der Wahl von Donald Trump im November 2016 hat die Welt eine Idee davon, was passiert, wenn man den Digitalisierungsdiskurs dem Silicon Valley überlässt. Dieser hatte sich, in seiner Mischung aus Disruptions- und Weltverbesserungsrhetorik, getrieben vom Finanzmarktkapitalismus, völlig entkoppelt von den alten Industriezentren, vom Rust Belt und der Provinz. Er war das Gegenteil einer solidarischen Bewältigung des wirtschaftlichen Umbruchs. In Deutschland schaut man seitdem etwas weniger neidisch und beeindruckt in Richtung USA, auch sieht man die Vorboten der Entkopplung bereits im eigenen Land. Die Medien warten regelmäßig mit Horrorszenarien auf, wie viele Arbeitsplätze in den nächsten Jahren dem technischen Wandel zum Opfer fallen könnten; diese Prognosen (so falsch sie auch sein mögen) sorgen für Verunsicherung bis tief in die Mitte der Arbeitsgesellschaft - sogar Hochqualifizierte werden von ihr erfasst. Die Folge ist ein immer lauterer Ruf nach dem bedingungslosen Grundeinkommen als dem "Generalschlüssel", der alle Problem lösen soll; eine Lösung, die die alten, Solidarität organisierenden Institutionen der sozialen Marktwirtschaft hinwegfegen und zu einer weiteren Partikularisierung oder Spaltung der Gesellschaft der führen dürfte. Die Zukunftsängste sorgen aktuell nicht für einen neuen Solidaritätsschub, sondern im Gegenteil für Abgrenzung und Abschottung. Hier ist der Wahlerfolg der AfD nur ein Symptom. Eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung zu den Einstellungsmustern von Bürgerinnen und Bürgern mit AfD-Affinität bringt ein ganzes "Sorgenbündel" zum Vorschein: das Gefühl, stärker als früher auf sich selbst gestellt zu sein, (technologischen) Veränderungen hilflos ausgeliefert zu sein (Kontrollverlust über das eigene Leben) und die Angst vor Entwertung der eigenen Biografie, also des einst erlernten Berufs (Hilmer/Kohlrausch et al. 2017). Sie fühlen sich offensichtlich vor möglichen Krisen in der Zukunft nicht geschützt - weder vertrauen sie auf das Solidaritätsversprechen der sozialen Marktwirtschaft noch sind sie selber zu Solidarität jenseits des eigenen unmittelbaren Umfelds bereit.

Die berufliche Mitte - also die Trägerschicht von gewerkschaftlicher und betrieblicher Solidarität - droht zu erodieren. Die Digitalisierung der Produktion insbesondere in den großen Unternehmen schreitet voran. Ob und in welcher Weise der digitale Wandel für die Beschäftigten einen Nutzen bringt, ob er ihre Arbeitsbedingungen verbessern oder verschlechtern oder am Ende Arbeitsplätze kosten wird, ist derzeit alles andere als klar. Was von den Unternehmen vielfach als digitale Bereicherung der Arbeit beschrieben wird, heißt in der Realität oft Mehrarbeit, weitere Rationalisierung und die Abkopplung von Beschäftigen, die qualifikatorisch nicht mithalten können. Auch wenn es beim transformativen Storytelling auf den Podien der Republik zurzeit hoch im Kurs ist, "den Menschen in den Mittelpunkt zu rücken": Viele Unternehmen tun sich schwer damit, Konzepte für Weiterbildung, lernförderliche Formen der Arbeitsorganisation oder eine zukunftsorientierte Personalentwicklung für Angelernte wie für Facharbeiter/innen auf den Tisch zu legen. Obwohl die Handlungsnotwendigkeit wissenschaftlich gut untermauert ist, mangelt es oft an Umsetzungswillen, Umsetzungskraft und nicht zuletzt auch Umsetzungskompetenz für ein "Upskilling" der Beschäftigten. Statt Chancen und Gestaltungsmöglichkeiten zu nutzen, findet die Digitalisierung derzeit vielfach nicht in einem Klima der Ermöglichung und Beteiligung, sondern eines Weiter-wie-bisher statt, in dem die Digitalisierung vor allem als Kostenvorteil und Jagd auf Produktivitätsvorteile in Szene gesetzt wird. Dies impliziert nicht nur die weitere Rationalisierung von Arbeitsplätzen in der industriellen Fertigung wie in den indirekten Bereichen und im Dienstleistungsbereich; es werden auch die hohen Zugangsbarrieren für Beschäftigte mit mittleren Qualifikationen in den Bereich der industriellen Dienstleistungen (innerhalb der Unternehmen) zementiert. Deutlich spürbar ist auch: Die neue Internet- und Plattformkultur (z.B. internes und externes Crowdsourcing) steht in scharfem Gegensatz zu den bisherigen Kompetenzen und Arbeitsweisen der Produktion. Was sich in der Cloud und auf der Plattform abspielt, liest sich aus der Perspektive der Fertigung ebenso neu wie hoch abstrakt. Die harte Seite der Veränderung, die digitale, softwarebasierte Neustrukturierung von Abläufen, Verfahren, Prozessen wie auch von Produkten und Geschäftsmodellen, spielt sich weitgehend hinter dem Rücken der Produktionsbeschäftigten in den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen ab. Von diesen Bereichen und Kompetenzen sind die Produktionsbeschäftigten bislang weitgehend ausgeschlossen. Es wächst die Gefahr der Abkopplung von Beschäftigten sowohl mit Angelernten- als auch mit Facharbeiterprofil und mit ihr die Unsicherheit darüber, ob die analoge Welt der industriell hergestellten Produkte noch Teil der Erfolgsgeschichte der Unternehmen sein kann. Bislang gestaltet sich dieser Prozess eher nicht als Win-Win-Situation - vielmehr entstehen neue Konkurrenzen und Ausschlüsse, und es wächst die Angst bei den Beschäftigten der "Old Economy", zur verlängerten Werkbank des Silicon Valley zu werden. Gleichzeitig entstehen in den neuen, plattformgestützten Sphären der Arbeitswelt immer mehr Räume, in denen die traditionellen Institutionen der Arbeitnehmer/innen-Solidarität kaum eine Rolle spielen.

Neue Bruchlinien und erste Antworten

Die daraus entstehenden neuen Bruchlinien innerhalb unserer Arbeitsgesellschaft sollen im Folgenden analysiert und erste politische, gewerkschaftliche und betriebliche Strategien zur Bewältigung andiskutiert werden.

Bruchlinie 1: Der geschützte Kern und der unsichere Rand. Der Arbeitsmarkt differenziert sich aus. In vielen Betrieben arbeiten Beschäftigte im "Normalarbeitsverhältnis", Leiharbeiter/innen und Werkvertragsnehmer/innen nebeneinander. Die Grenzen der Betriebe werden diffuser, z.B. durch die Einbeziehung von Arbeiter/innen auf digitalen Plattformen. In der Dreiecks-Konstellation der digitalen Plattform (Auftragnehmer/in, Auftraggeber und die Plattform als sogenannter "Intermediär") verschwindet der Arbeitgeber als verantwortliche Instanz, auch der Ort der Arbeitserbringung spielt keine Rolle mehr. Digitale Plattformen können die technische Grundlage für kollaborative Arbeitsformen sein, in der Praxis handelt es sich aber zumeist um eine "Gig Economy", den Wettbewerb jeder gegen jeden - ein Geschäftsmodell der Entsolidarisierung und der Entsicherung. Digitale Plattformen, Netzwerkbetriebe etc. werfen dabei neue Fragen auf: Wenn Solidarität bislang um den Betrieb als Einheit organisiert ist - was passiert, wenn die Grenzen der Betriebe durchlässig werden, wenn Arbeit sich zunehmend enträumlicht? Was sind die zukünftigen Bezugspunkte von Solidarität? Wie müssen sich sozialstaatliche Regelungen neu ausrichten, um die Heterogenität der Beschäftigungsformen und veränderte Erwerbsbiografien zu erfassen?

Zwei Ansätze zur Bewältigung dieser Probleme liegen auf dem Tisch: die Arbeitsversicherung und die Ausweitung des Arbeitnehmerbegriffs/Betriebsbegriffs. Die sozialdemokratische Idee der Arbeitsversicherung ist zwar schon rund 20 Jahre alt (siehe z.B. Mikfeld/Wischmeier, spw 4/1998), scheint aber wie gemacht zu sein für die Arbeitswelt in der digitalen Transformation mit ihren brüchigen Erwerbsbiografien. Es ist also Zeit für einen neuen Anlauf. Die Debatte über einen neuen Arbeitnehmerbegriff bzw. einen neuen Betriebsbegriff steckt politisch noch in den Kinderschuhen, wird in der juristischen Fachwelt aber lebhaft geführt (vgl. z.B. Arbeiten von Thomas Klebe, Rüdiger Krause, Martin Risak und Peter Wedde). Die Idee, durch eine konzeptionelle Erweiterung und Enträumlichung der beiden Begriffe die Solidaritätszone auszuweiten, ist eine plausible Antwort auf die (digitalisierungsbedingte) Entstofflichung und Entgrenzung von Arbeitsprozessen. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie man die kollaborativen und solidarischen Potenziale der Plattformökonomie heben kann (z.B. durch die Förderungen von digitalen Plattformen als Genossenschaften).

Bruchlinie 2: Wir sind keine Analogen! Der Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft verändert nicht nur das Verhältnis von Dienstleitungs- und Produktionstätigkeiten auf sektoraler Ebene. Es verändern sich auch die Arbeits- und Beschäftigungsstrukturen innerhalb der produzierenden Unternehmen, in denen der Anteil hochqualifizierter industrieller Dienstleistungstätigkeiten beständig wächst. Diese Entwicklung ist nicht neu, sie gewinnt aber mit der Digitalisierung an Dynamik und befördert derzeit die Spaltung in eine "alte" produzierende und eine "neue" forschende und entwickelnde Arbeitswelt. Parallel dazu schreitet der Prozess der Abwertung "alter", analoger und die Inwertsetzung "neuer" digitaler Kompetenzen voran. Mit der Einführung von Tablets oder Smartphones bekommen die Beschäftigten zwar einen Zipfel des Wandels hin zu interaktiver Arbeit zu fassen. Aber sie haben keinen Zugang zu den Abteilungen, in denen die digitale, softwarebasierte Neustrukturierung von Abläufen, Verfahren, Prozessen, Produkten und Geschäftsmodellen derzeit stattfindet. Weil die Rekrutierung junger, akademisch ausgebildeter Arbeitskräfte eindeutig vor der Weiterbildung industrieerfahrener Belegschaftsangehöriger rangiert, droht eine Abkopplung der Produktionsbeschäftigten - Facharbeitern wie Geringqualifizierten - vom digitalen Wandel.

Mit steigender Orientierung der Unternehmen auf digitale Produkte und Prozesse und damit einhergehend veränderten Qualifikationsanforderungen ist eine umfängliche Weiterbildung für die Industriearbeiter/innen unerlässlich geworden. Diese Aktivitäten müssen verbunden werden mit der Gestaltung einer lernförderlichen Arbeitsorganisation, die den Beschäftigten mehr Möglichkeiten (fachlich, zeitlich, hierarchisch) gibt, ihre Tätigkeitsmuster zu erweitern und anzureichern - etwa in Richtung einer stärkeren Mischung aus produzierenden und dienstleitenden Tätigkeiten. Die Beschäftigten können "Digitalisierung" (vgl. Pfeiffer 2017). Was sie vor allem brauchen, ist eine Arbeitsorganisation, die neue, zusätzlich entstehende digitale Arbeitsinhalte nicht in Spezialabteilungen konzentriert, sondern organisatorisch der Produktion zuordnet. Erst dann kann Weiterbildung im Sinne neuer beruflicher Entwicklungsmöglichkeiten tatsächlich umfassend greifen. Auch hier ist die Arbeitsversicherung als wichtiges Instrument für eine neue Kultur der Weiterbildung in Unternehmen zu nennen. Da die Weiterbildung die Herkulesaufgabe in der digitalen Transformation ist, sind jedoch alle Ebenen gefragt: das Individuum, der Betrieb, die Sozialpartner und der Staat (Weiterbildungsteilzeit). Jeremy Corbyn fordert beispielsweise für England gerade - analog zum National Health Service - einen National Education Service. Auch wenn die Systeme nicht vergleichbar mit denen in Deutschland sind, so ist der Gedanke doch richtig: Think big.

Bruchlinie 3: Kopfarbeit am Scheideweg. Mit der digitalen Transformation und dem Einzug neuer Formen der Arbeitsorganisation werden sehr grundlegende Veränderungen und Umbrüche in der Wissensarbeit angestoßen. Eine Spaltung tut sich auf, zwischen denjenigen, für die die Entwicklung einen Zugewinn an Freiheit und Selbstbestimmung bedeutet (z.B. in gut laufenden agilen Teams, eher in höher qualifizierten Bereichen), und denjenigen, deren Arbeit standardisiert und auf Effizienz getrimmt wird (Stichwort: Taylorisierung der Kopfarbeit). Gerade in den Dienstleistungen (insb. Banken und Versicherungen) und in den produktionsfernen Bereichen der Industrie ist das zu erwarten; einige Unternehmen experimentieren schon mit IT-basierten Ticket-Systemen oder Shared-Service-Centers. Manche Autoren bezeichnen diese Entwicklung als "Arbeitswelt am Scheideweg" (Boes, Kämpf, Langes & Lühr, 2016).

Es ist darum Zeit für eine neue Welle der Humanisierung der Arbeitswelt, wie wir sie aus den 1970ern und 1980ern für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Industrie kennen - nur dass es dieses Mal insbesondere auch um die "entstofflichten" Tätigkeiten geht, um die "Humanisierung der Arbeit 4.0."

Bruchlinie 4: Das Team als neues Feld der Auseinandersetzung. Wo aufgrund zunehmender Vereinbarkeitsbedarfe (Kinder, Pflege, Weiterbildung) immer mehr Zeitbedarfe aufeinanderprallen, und wo gleichzeitig immer mehr Verantwortung an untere Hierarchieebenen delegiert wird, verlagern sich Konflikte zunehmend von der Ebene Arbeitgeber-Arbeitnehmer in die Teams, sie werden also innerhalb der Arbeitnehmer/innenschaft ausgefochten und damit individualisiert. Das führt zu Überforderung und an manchen Stellen wieder zum Ruf nach dem "starken Chef"; das emanzipatorische Potenzial neuer Arbeitsorganisation droht, verloren zu gehen. Interne Konflikte in Teams treten vor allem dann auf, wenn den Beschäftigten keine ausreichenden Ressourcen zur Verfügung stehen, die ihnen gestellten Aufgaben zu lösen, oder die Mittel so "Spitz-auf-Knopf" kalkuliert sind, dass ein einzelner Krankheitstag im Team oder eine familiär bedingt verschobene Sitzung das Erreichen der gesteckten Ziele bereits in Frage stellt. Diese stresserzeugende Ressourcenknappheit ist für viele Beschäftigte mittlerweile Alltag.

Ein wichtiger Schlüssel ist die Personalbemessung, hier haben Betriebsräte und Arbeitnehmervertreter/innen bisher kaum Mitspracherechte. Sie können zwar darüber (mit)entscheiden, "wann" (Arbeitszeit) und neuerdings zunehmend auch "wo" (mobiles Arbeiten"), nicht aber "wie viel" (Arbeitsvolumen) ein Beschäftigter zu leisten hat. In Kombination mit indirekter Steuerung, bei der Arbeitgeber lediglich ein Arbeitsergebnis, nicht jedoch den Weg dorthin überwachen wollen, führt dies immer häufiger zu Selbstausbeutung. Ein Weg aus dem Dilemma sind sozialpartnerschaftlich ausgehandelte (oder in manchen Bereichen auch gesetzlich festgelegte) Personalschlüssel. Ein wegweisendes Beispiel ist der Tarifvertrag, den ver.di mit der Berliner Charité ausgehandelt hat (und der gerade neu verhandelt wird). Auch weitere Aushandlungsmechanismen wie z.B. die von Andrea Nahles vorgeschlagene Wahlarbeitszeit, nach der Beschäftigte das Recht bekommen, alle zwei Jahre mit ihrem Arbeitgeber die von ihnen gewünschte Stundenzahl neu zu verhandeln und Mitbestimmungsrechte von Arbeitnehmervertreter/innen bei Zielvorgaben sind wichtige Schritte, um aus scheinbaren gewonnen Freiheitsgrade für Arbeitnehmer/innen einen tatsächlichen Entscheidungs- und Freiheitsgewinn zu machen.

Bruchlinie 5: Aufweichung oder Zementierung der Geschlechtergrenze: Ganz oben auf der Liste der "gefährdeten" (also "wegdigitalisierbaren" Berufe) stehen Büro- und Sekretariatskräfte, Berufe im Verkauf und Berufe in der Gastronomie - also Bereiche, in den überwiegend Frauen arbeiten. Dennoch stehen im Fokus der Debatte über Modernisierungsverlierer insbesondere Männer; befeuert doch die Automatisierung Ängste vor Abstieg und Arbeitslosigkeit offenbar hier besonders. Der Topos vom "zornigen weißen Mann" beschäftigt das Feuilleton ebenso wie die politische Sphäre; Erfolge von rechtspopulistischen Parteien in Europa oder der Wahlsieg Donald Trumps in den USA werden in diesem Zusammenhang interpretiert. In diesem Debattenumfeld drohen Geschlechterfragen zum "blinden Fleck" zu werden. Man könnte zugespitzt sogar sagen: Wenn Digitalisierung, Feminisierung und Migration Haupttreiber von Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt sind, dann bringen sie in dieser Kombination genau den antifeministischen Reflex hervor, den rechtspopulistische Parteien nutzen. Es wird also wichtig sein, dem Impuls zu widerstehen, Genderthemen zu verstecken oder zu meiden, vielmehr besteht der Clou darin, sie angemessen mit anderen Differenzkategorien wie Klasse und Herkunft zu verbinden. Bislang spielt das Thema "Geschlecht" auch kaum eine Rolle in den zahlreichen Gremien und Plattformen, die sich mit Digitalisierung befassen (Nationaler IT-Gipfel, "Bündnis Zukunft der Industrie" etc.) - hier ist in Zukunft ein Gender-Blick gefragt. Auch sollten die Förderkriterien in der Start-up-Branche geschlechtersensibel überprüft werden, damit dieses Segment der Arbeitswelt, in dem wortwörtlich die Zukunft programmiert wird, keine Männerdomäne bleibt.

Bruchlinie 6: Interessenkonflikte entlang der (globalen) Wertschöpfungskette: Wie weit reicht die Solidarität des Kerns? Einerseits lautet der eindeutige Befund, dass bezüglich weiterer Verlagerung von Produktions- und Entwicklungstätigkeiten - insbesondere nach Mittelosteuropa - kein Ende abzusehen ist. Die einheimischen Belegschaften sind unter Druck, sei es mit Blick auf das Lohnkostendifferential, sei es mit Blick auf die Verfügbarkeit hoch qualifizierter, billiger Spezialisten mit digitalen Kompetenzen an den ausländischen Standorten. Anderseits kann Verlagerung die Innovationsfähigkeit der Unternehmen entlang der Wertschöpfungskette stärken und produktive Allianzen begründen. Von daher lautet die Frage nicht, ob, sondern wie sich die Zusammenarbeit der Arbeitnehmer/innen entlang der Wertschöpfungskette entfalten kann und unterschiedliche Interessenlagen dabei angemessen berücksichtigt werden.

Den kollektiven Mitbestimmungsinstitutionen fällt die wichtige Aufgabe zu, die Verlagerungskonzepte der Unternehmen auf den Prüfstand zu stellen, die Auseinandersetzungen um Verlagerung rational zu führen und vor allem auch einen intensiven direkten Austausch der Standorte untereinander zu organisieren. Damit ist das Problem der Konkurrenz nicht außer Kraft gesetzt, es können aber informiertere, kooperativere und wirksamere Formen der Interessenvertretung begründet werden. Wichtige Forderungen sind unter anderem: Einbezug der Standortbetriebsräte in den Verlagerungsprozess von Beginn sowie Transparenz über Zielsetzung und Planzahlen. Wenn verlagert wird, muss eine bessere Konsultation zwischen den jeweiligen Standortbetriebsräten und der Werkleitung sichergestellt sowie Regularien bezüglich wechselseitiger Einarbeitung und regelmäßigem Austausch geschaffen werden. Auch die Europäischen Betriebsräte könnten hier eine wichtigere Rolle spielen, dazu bräuchten sie aber mehr Rechte. Alle diese Aktivitäten finden sich in der einen oder anderen Form bislang insbesondere in den Großbetrieben. Sie müssen jedoch dort und mehr noch in den kleinen und mittelständischen Betrieben auf die sicheren Beine einer Gesetzgebung gestellt werden.

Bruchlinie 7: Produktivitätsverteilung. Während Arbeitgeber in den letzten Jahren von Produktivitätszuwächsen profitieren konnten, wurden diese längst nicht in ausreichendem Maße an Arbeitnehmer/innen weitergegeben. Der Anteil der Löhne am Volkseinkommen ist in Deutschland zwischen 1991 und 2014 um mehr als zwei Prozentpunkte gesunken. Auch haben nicht alle Beschäftigten in gleichem Maße vom Wachstum profitiert. Während es im produzierenden Gewerbe seit Anfang der 90er Jahre - mit Ausnahme der Krisenjahre 2008/2009 - zu deutlichen Reallohnsteigerungen gekommen war (auch wenn hier noch "Luft nach oben" gewesen wäre), galt dies für die Beschäftigten der Dienstleistungsbranchen (abgesehen von der Informations- und Kommunikationsbranche) überwiegend nicht: Nachdem hier die Löhne bis 2007 eher gesunken waren, kam es erst seit 2014 wieder zu leichten Zuwächsen - ohne in allen Bereichen das Lohnniveau von 1991 zu erreichen (Statistisches Bundesamt 2016). Dienstleistungsberufe drohen, in der Zukunft finanziell weiter abgehängt zu werden. Auch in der Start-up-Branche, die sich so häufig rühmt, besonders partizipativ zu sein, ist bei der Beteiligung häufig Schluss, wenn es um konkrete Gewinnbeteiligungen geht. Bei den Verkäufen von Start-ups beispielsweise, die ja häufig ihren Wert erst durch die Kreativität und das hohe Engagement von vielen Mitarbeiter/innen entwickelt haben, profitieren bei einem Verkauf nur wenige - nämlich die ursprünglichen Gründer.

Eine bessere, gerechtere Verteilung der Produktivitätsgewinne ist eine wichtige Maßnahme zur Sicherung einer solidarischen (Arbeits-)Gesellschaft. Selbst der Internationale Währungsfond moniert die wachsende wirtschaftliche Ungleichheit als Gefahr für wirtschaftliche Stabilität. Hier gilt es zum einen, dafür zu sorgen, dass die erwartete Digitalisierungsdividende auch in den Bereichen ankommt, in denen Produktivitätssteigerung weder plausibel noch wünschenswert ist (soziale Dienstleistungen). Ein Ansatz wäre hier ein neuer Produktivitätsbegriff, der es ermöglicht, den Beitrag dieser Berufe zu Wohlstand, Wachstum und Lebensqualität besser abzubilden. Ein weiterer Schlüssel könnte es sein, mehr Wirtschaftsdemokratie zu wagen. Die Kombination aus Unternehmensmitbestimmung und mehr Mitarbeiterkapitalbeteiligung könnte ein wirksames Mittel gegen die Kurzfristorientierung des Shareholder-Value-Denkens sein und wäre ein Weg hin zu einer emanzipativen Arbeitnehmerschaft, die die eigene Arbeitskraft nicht nur verkauft, sondern auch besitzt.

Bruchlinie 8: Arbeitslose und Arbeit Habende. Eine entscheidende Bruchlinie in unserer Gesellschaft beschreibt weiterhin die Unterteilung in diejenigen, die Arbeit haben und diejenigen, denen der Zugang zu Erwerbsarbeit versperrt ist. Auch wenn der digitale Wandel längst nicht in jedem Szenario Massenarbeitslosigkeit erzeugt (manche Szenarien prognostizieren im Gegenteil einen Beschäftigungszuwachs), so wird es doch mit ziemlicher Sicherheit eine technologiegetriebene "Mismatch-Arbeitslosigkeit" geben: Zwar werden neue Arbeitsplätze entstehen, jedoch möglicherweise in so anderen qualifikatorischen Bereichen, dass diese neuen Stellen für einige Arbeitssuchende nicht in Frage kommen. Hier stellt sich die Frage, wie dies solidarisch und inklusiv abzufedern ist.

Damit der Strukturwandel bruchlos gelingt, müssen neben der Weiterentwicklung der Arbeitslosenversicherung zur Arbeitsversicherung auch weitere bewährte Instrumente neu gedacht und zukunftsfähig gemacht werden. Die Kommission "Arbeit der Zukunft" der Hans-Böckler-Stiftung hat darum z.B. vorgeschlagen, das Instrument der "Transfergesellschaft" zu reformieren und für den Strukturwandel weiterzuentwickeln. Transfergesellschaften könnten, wenn man ihre Spielregeln ändert, zukünftig als »interne Startups« fungieren, die den unternehmensinternen Neuanfang schon in sich tragen. Dazu könnte man die Laufzeit von Transfergesellschaften verlängern und sie so reformieren, dass die Beschäftigten sich während der Zeit in der Transfergesellschaft weiterqualifizieren und nach der Sanierung aus den Transfergesellschaften wieder in den alten Betrieb zurückkehren können. Auch bietet es sich an, die Idee von (solidarischen) Arbeitszeitverkürzungen wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Eine Arbeitsumverteilung von denjenigen die (zu) viel (in Deutschland wurden 2015 1,8 Milliarden Überstunden geleistet, die Hälfte davon unbezahlt) und denjenigen die (zu) wenig (Arbeitslosigkeit, ungewollte Teilzeit) arbeiten kann neben der Integration von Arbeitslosen auch ein wichtiger Beitrag zu einer geschlechtergerechteren Arbeitsverteilung sein. Neben dem Vorstoß von Manuela Schwesig zu einer zumindest befristeten familienbedingt-geförderten Familienzeit setzen auch die Gewerkschaften diesbezüglich immer wieder Akzente.


Dr. Constanze Kurz ist Diplom-Sozialwissenschaftlerin und Referentin des GBR/KBR der Robert Bosch GmbH zu den Themenfeldern Digitalisierung/Industrie 4.0/agile Arbeitsformen. Zuvor war sie Ressortleiterin im IG Metall Vorstand für den Bereich "Zukunft der Arbeit".

Dr. Katharina Oerder, Jahrgang 1984, ist Psychologin, Leiterin des Hauptstadtbüro des Instituts für Mitbestimmung, Innovation und Transfer (MIT Institut) und Mitglied der spw-Redaktion.

Christina Schildmann, Jahrgang 1973, ist Leiterin des wissenschaftlichen Sekretariats der Kommission "Arbeit der Zukunft" der Hans-Böckler-Stiftung und Mitglied der Sachverständigenkommission der Bundesregierung zur Erstellung des 2. Gleichstellungsberichts sowie Mitglied der SPD-Grundwertekommission.


Literatur:
  • Boes, Andreas / Kämpf, Tobias / Langes, Barbara / Lühr, Thomas (2016). "Lean" und "agil" im Büro. Neue Formen der Organisation von Kopfarbeit in der digitalen Transformation. Reihe: Forschungsförderung Working Paper, Bd. 23. Düsseldorf: 2016, ISSN: 2509-2359. 28 Seiten.
  • DGB-Index Gute Arbeit. Der Report 2016. Themenschwerpunkt: Die Digitalisierung der Arbeitswelt - Eine Zwischenbilanz aus der Sicht der Beschäftigten. November 2016. Abrufbar unter: index-gute-arbeit.dgb.de/++co++8915554e-a0fd-11e6-8e36-525400e5a74a.
  • Hilmer, Richard / Kohlrausch, Bettina / Müller-Hilmer, Rita / Gagné, Jérémie (2017): Einstellungen und soziale Lebenslagen. Eine Spurensuche nach Gründen für rechtspopulistische Orientierung, auch unter Gewerkschaftsmitgliedern, Working Paper Forschungsförderung, Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf.
  • Jürgens, Kerstin / Hoffmann, Reiner / Schildmann, Christina (2017): Arbeit transformieren! Denkanstöße der Kommission "Arbeit der Zukunft", Berlin.
  • Mikfeld, Benjamin / Wischmeier, Jessika (1998): "Innovation, Arbeitspolitik und neues Sozialstaatsverständnis", in: spw 4/1998, S. 36ff.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 5/2017, Heft 222, Seite 68-73
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. November 2017

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