Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → WIRTSCHAFT

ARBEIT/1736: Flexibilität - Zerreißprobe für die Arbeitnehmer? (mundo - Universität Dortmund)


mundo - Das Magazin der Universität Dortmund Nr. 10/09

Flexibilität: Zerreißprobe für die Arbeitnehmer?
Kornelius Kraft erforscht die Mechanismen des Arbeitsmarktes

Von Tim Gabel


Eine berufliche Karriere, so wie sie die Großeltern der heutigen »Generation 20 plus« gemacht hat, war in vielen Fällen überschaubar. Die Volksschule war der Standard. Danach die Lehre, vielleicht ein Studium und dann der Beruf. Oft 40 oder 50 Jahre lang in einem Unternehmen. Und danach die Rente, mehr oder weniger, genießen. Ausnahmen gab es sicher, aber der Arbeitsmarkt war lange nicht so undurchschaubar wie heute. Kurz-, Zeit- und Leiharbeit oder Job-Rotation (Mitarbeiter wechseln innerhalb eines Betriebes die Aufgabe). Schlagwörter eines Wirtschaftssystems, welches versucht, sich flexibel an die globalen Märkte anzupassen. Aber was bedeutet ein flexibler Arbeitsmarkt für den Arbeitnehmer, und welche Verpflichtungen haben Wirtschaft und Politik, damit der Einzelne sich vor lauter Flexibilität nicht vor einer Zerreißprobe sieht? Ein Experte zur Beantwortung dieser Fragen ist Arbeitsökonom Prof. Kornelius Kraft. Der Volkswirtschaftler erforscht an der TU Dortmund die Mechanismen des Arbeitsmarktes.

"Das Arbeitsverhältnis wie zu Großvaters Zeiten gibt es heute oft nicht mehr", so Kornelius Kraft. Vor allem für ungelernte Arbeiter sei es problematisch, eine sichere Anstellung zu bekommen. Der internationale Handel hat stark zugenommen. Die Globalisierung zwingt den Arbeitsmarkt zu mehr Flexibilität. Und das liegt vor allem daran, dass Arbeitsplätze verloren gehen, für die man keine besondere Qualifizierung benötigt. Die Nachfrage nach qualifiziertem Personal ist so groß wie selten zuvor, aber die Ungelernten haben immer weniger Chancen. Von einer starken Heterogenität des Arbeitsmarktes sprechen Ökonomen dann. "Das Gleichgewicht wird verfehlt", erklärt Kraft. "Um sich an den Markt anzupassen, lagern die Firmen Arbeit aus, für die sie keine Fachkräfte benötigen - und zwar in die Länder, in denen die Löhne billiger sind." Zeitung, Radio und Fernsehen melden es nicht erst seit gestern: Gegen einen Hungerlohn produzieren Arbeiter in China Kleidung, Spielzeug oder Handys für deutsche Firmen. Das Pro-Kopf-Einkommen der steuerpflichtigen Chinesen lag laut nationalem Statistikamt im Jahr 2006 bei knapp über 1.000 Euro - im Jahr! In Deutschland liegt der Wert momentan bei über 20.000 Euro. In Deutschland ist »Arbeit« im weltweiten Vergleich für viele Betriebe zu teuer geworden. Die derzeitige Wirtschaftskrise setzt dem Ganzen die Krone auf. Die Auftragslage der Unternehmen ging und geht in vielen Bereichen noch stark zurück, egal ob aus dem Ausland oder dem Inland. Die Reaktionen der Unternehmen: "Sie weichen immer mehr zu atypischen Arbeitsformen aus. Mit Leiharbeit oder Kurzarbeit kann man flexibler auf die Auftragslage reagieren", sagt der Volkswirtschaftler. "Flexibel reagieren", damit sind in finanziell schwierigen Zeiten oft Entlassungen gemeint, wenn das Geld der Kunden ausbleibt. "Natürlich ist das Hauptmotiv für Kurz- oder Leiharbeit, damit den Kündigungsschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu umgehen", so Kraft. Verteufeln will der Wissenschaftler diese Arbeitsformen allerdings nicht. Kurzarbeit ist aus seiner Sicht das geringere Übel: "Für die Betroffenen ist eine zeitlich befristete Anstellung immer noch besser als Arbeitslosigkeit." Denn die Chancen, nach langjähriger Untätigkeit wieder in einen Job zu kommen, sind momentan sehr gering. "Insgesamt haben die Ungelernten und die langfristig Arbeitslosen die schlechtesten Chancen. Das zeigen viele Studien." Über den so genannten zweiten Arbeitsmarkt besteht also zumindest die Chance, eine reguläre Beschäftigung zu finden. "Wichtig ist, dass man jeden Tag weiter zu Arbeit geht und dadurch die Routine aufrecht erhält", meint Kornelius Kraft. Ob durch Weiterbildungen, Qualifizierungen, Ein-Euro-Jobs oder Kurzarbeit: "Hauptsache, die Menschen sind in den Arbeitsprozess integriert, selbst dann, wenn die Arbeit nicht gerade hoch produktiv ist."

Um diesen Anspruch auf Arbeit aufrecht zu erhalten, versuchen viele Arbeitnehmer, auch räumlich flexibel zu bleiben. Dem Arbeitsplatz immer wieder hinterher zu ziehen und sich nicht fest an den Wohnort zu binden, scheint selbstverständlich. Denn die Arbeitsstelle, zu der man passt, liegt nicht immer vor der Haustür. "Aber es ist nicht empirisch nachgewiesen, ob die lebenslange Beschäftigung an einem Wohnort abgenommen hat", so Kraft. Es gäbe auch heute noch gute Gründe dafür, warum Arbeitgeber es gerne sehen, wenn ihre Angestellten für einen längeren Zeitraum in einem Unternehmen verbleiben: "Sie kennen die Abläufe und die Kollegen. Und sie haben unternehmensspezifische Kenntnisse erworben, die dem Betrieb fehlen, wenn sie wechseln."


Vorsprung an Innovation nötig!

Sicherheit ist in vielen beruflichen Branchen heute allerdings zum Fremdwort geworden. Selbst Beschäftigte, die schon lange in einem Betrieb arbeiten, kann es treffen. Auf dem monatlichen Gehaltsscheck sollte sich heute keiner mehr ausruhen - auch wenn das Unternehmen als sicher gilt. "Wir müssen in Deutschland einen Vorsprung an Innovation haben, ansonsten werden wir von Ländern, in denen billiger produziert wird, einfach überholt", so Kraft. Für den Angestellten bedeutet Innovation die Pflicht zur lebenslangen Weiterbildung. Für Kraft ist die Konsequenz klar: "Die Firmen haben Gott sei Dank ein großes Interesse daran, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter immer auf dem neusten Stand zu halten. Deshalb werden heute viel mehr Fortbildungen angeboten als früher." Ein enorm wichtiger Bereich im Zeitalter des Internet ist die Arbeit am Computer. Für den Anwender werden immer neue Programme und Anwendungen zu einer immer größeren digitalen Herausforderung. Die Halbwertszeit des Wissens hat deutlich zugelegt. Wenn Angestellte und Unternehmer nicht darauf achten, ihre Mitarbeiter regelmäßig zu schulen, sehen die Zukunftschancen schlecht aus. "Führungskräfte müssen im Blick haben, welche Anforderungen auf den Betrieb zukommen und ihre Mitarbeiter entsprechend fördern und weiterbilden."

Doch vor der Weiterbildung kommt die Bildung. Denn die Zukunft des Arbeitsmarktes liegt in der Hand der Lehrer und Schüler. "Vor 30 Jahren kam man mit einer mittleren Reife normalerweise Die Nachfrage nach qualifiziertem Personal ist so groß wie selten zuvor. direkt in einen Job, "ohne sich bemühen zu müssen", so Kraft. Heute würden die Arbeitgeber ganz andere Anforderungen an die Ausbildung stellen. "Was früher der Hauptschulabschluss war, ist heute der Realschulabschluss." Entsprechend würden die Realschul-Abgänger verdrängt durch die Abiturienten. "Der Ernst des Berufslebens beginnt heute viel früher." Allerdings seien das schon Luxusprobleme. "Jeder Jugendliche sollte zumindest die Möglichkeit haben, eine abgeschlossene Ausbildung zu machen", fordert Kraft von den Politikern und den Unternehmern ein. Damit meint er vor allem die Schülerinnen und Schüler aus bildungsbenachteiligten Schichten, die auf dem Arbeitsmarkt einen Platz suchen. Für sie sei es besonders wichtig, die erforderlichen Grundtugenden auf dem Arbeitsmarkt kennen zu lernen: "Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit sind ein Rüstzeug, um auf dem Arbeitsmarkt bestehen zu können und zwar in jeder Branche." Eine verbesserte Bildungspolitik sei eine verbesserte Arbeitsmarktpolitik, so die einfache Rechnung. Und die kann laut Kornelius Kraft so aussehen: In Grund- und Hauptschulen sollten die Klassengrößen reduziert werden, damit die Lehrer mehr Gelegenheiten haben, sich um die einzelnen Schüler zu kümmern. Auch für spezielle Fördergruppen tritt Kraft ein. Das alles kostet den Krisen gebeutelten Staat natürlich mehr Geld. Geld allerdings, das der Staat später auch für die Arbeitslosen ausgibt, die es ohne eine abgeschlossene Ausbildung nicht auf den Arbeitsmarkt geschafft haben. "Das sind keine Maßnahmen, die kurzfristig das Problem der Arbeitslosigkeit lösen, die aber längerfristig für Veränderung sorgen", setzt sich Kraft dafür ein, dass die Politik schon jetzt die Fehler erkennt, die Morgen zu mehr Arbeitslosigkeit führen könnten.

Bildung ist auch besonders wichtig, um im internationalen Vergleich zu bestehen. Länder wie die USA nehmen in ihren Systemen nicht so viel Rücksicht auf den einzelnen Arbeiter. Wenn der Auftragseingang sich verändert, sind Entlassungen durch einen niedrigeren Kündigungsschutz einfacher zu vollziehen. Außerdem sind die Gehaltsunterschiede zwischen Facharbeitern und ungelernten Kräften stärker als hier. Um konkurrenzfähig zu bleiben, ist auch in Deutschland seit Mitte der 90er Jahre der Trend zu mehr Flexibilität zu spüren. Dabei bedeutet Flexibilität, dass man schneller auf Auftragsrückgänge reagiert und dadurch auch hier der Unterschied beim Lohn größer werden. "Diese Entwicklung bewertet nicht jeder positiv, weil sie natürlich auch einen Einfluss auf die Motivation der einzelnen Arbeiter hat."


Sozialgesetzgebung überarbeiten

Für eine sinnvolle arbeitspolitische Entscheidung hält Kraft die Überarbeitung der Sozialgesetzgebung. Die Einführung der »Hartz-IV«-Gesetze, die Zusammenlegung von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe, würde von den meisten Ökonomen als positiv betrachtet, so Kraft. Im August 2002 in Kraft getreten, hätten diese Reformen den Arbeitsmarkt positiv beeinflusst. "So haben sie zum Beispiel, die Anreize erhöht, eine Arbeit aufzunehmen beziehungsweise die Bestrafung derer, die es das nicht tun." Diese monetäre Größen verfehlen ihre Wirkung nicht. Dass sie aber auch die Konsequenz nach sich ziehen, dass viele Arbeitslose weniger Bezüge kassieren, hält Kraft für "beabsichtigt". Denn es führe in vielen Fällen dazu, dass Menschen ihren Job wieder aufnehmen beziehungsweise konkrete Job-Angebote nicht mehr so leichtfertig ausschlagen, weil die monatlichen Zahlungen dann gekürzt werden. Kraft hält es für sinnvoll, weiterhin in diese Richtung zu lenken. Ein internationales Vorbild sollten sich deutsche Politiker an Dänemark nehmen: wo Arbeitslose eine überdurchschnittlich hohe Unterstützung erhalten. Allerdings sind die Abzüge für die Arbeitssuchenden groß, die eine vom Arbeitsamt angebotene Stelle nicht annehmen. "Arbeitslosen greift der Staat sofort unter die Arme, sorgt aber mit monetärem Druck gleichzeitig dafür, dass sie sich möglichst schnell wieder um Arbeit kümmern", sieht Kraft die Vorteile. Für ihn ist es ein Beispiel dafür, wie man auf einem immer flexibleren und verworrenen Arbeitsmarkt den einzelnen Menschen nicht aus dem Auge verliert.


Zur Person
Flexibel musste Prof. Kornelius Kraft auch sein, als es um seine berufliche Karriere ging. Zumindest räumlich. Sein Diplom als Volkswirtschaftler absolvierte er 1979 an der Universität Heidelberg. Berlin hieß seine nächste Station: 1980 zog es ihn dann als wissenschaftlichen Angestellten an das »Wissenschaftszentrum« in der Hauptstadt. Dort promovierte er 1984 zum Dr. rer. pol.. Seine Habilitation legte er als wissenschaftlicher Angestellter an der Universität in Kassel ab (1986 bis 1992). Danach verließ er den deutschen Arbeitsmarkt und zog in die Schweiz. Seinen ersten Lehrstuhl hatte er dort von 1992 bis 1993. In Fribourg, eine Zwischenstation. Nach der Auslandserfahrung zog es ihn ins Ruhrgebiet zur Universität Essen. Zehn Jahre arbeitete er dort, einige Kilometer weiter westlich, bis er 2003 Professor an der TU Dortmund wurde. Seine Forschungsfelder sind Industrie- und Arbeitsökonomik. Kornelius Kraft ist ständiger Gastprofessor am »Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung« (ZEW).


*


Quelle:
mundo - das Magazin der Universität Dortmund, Nr. 10/09, Seite 26-30
Herausgeber: Referat für Öffentlichkeitsarbeit
Universität Dortmund, 44221 Dortmund
Redaktion: Angelika Willers (Chefredakteurin)
E-Mail: redaktion.mundo@uni-dortmund.de

mundo erscheint zwei Mal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. August 2009