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ORGANISATION/208: Interreligiöse Lernprozesse in kirchlichen Wohlfahrtsverbänden (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 03/2010

Interreligiöse Lernprozesse
Die Zukunft des christlich-muslimischen Dialogs liegt im gemeinsamen Handeln

Von Volker Meißner


Kirchliche Wohlfahrtsverbände betreuen in ihren Diensten und Einrichtungen zunehmend Angehörige anderer Religionen, insbesonders Muslime. Sie suchen Kooperationen mit Moscheevereinen und beschäftigen auch Muslime als Mitarbeitende. Hier finden sich bisher wenig beachtete Potenziale für den christlich-muslimischen Dialog.


Als Navid Kermani am 26. November 2009 nach dem Streit um seine Aussagen über das Kreuz schließlich doch gemeinsam mit dem früheren Kirchenpräsidenten Peter Steinacker, Kardinal Karl Lehmann und Salomon Korn, dem Vizepräsidenten des Zentralrates der Juden, den Hessischen Kulturpreis entgegennahm, spendete er das Preisgeld den sozialen Projekten der Gemeinde St. Theodor in Köln-Vingst. Kermani, der sich in seiner Dankrede zunächst mit der Auseinandersetzung beschäftigte, die der Preisverleihung vorausgegangen war, wechselte mit dieser Geste vom Feld des theologischen Dialogs zum Dialog des Handelns, von der Theorie zur Praxis.

Zwar betrachtete er im Rückblick auch die Diskussion um seine Formulierungen in dem Essay über das Kreuzigungsbild von Guido Reni mit ihren zum Teil scharfen Tönen als einen konstruktiven Beitrag zum Dialog der Religionen. Doch ein deutliches "Signal der Verständigung und Versöhnung", so glaubte Kermani, könne er gerade dadurch setzen, dass er die katholische Gemeinde in ihrem Engagement für den Stadtteil unterstütze. Denn dort werde der interreligiöse Dialog tagtäglich gelebt, und zwar nicht durch den Austausch theologischer Meinungen und der Versicherung, wie friedlich man sei, sondern durch die Hilfe für Menschen, gleich welcher Religion sie angehören, von Menschen, gleich welcher Religion sie angehören.


Nicht nur in den Kirchen, sondern auch im Bereich der Caritas und der Diakonie dürften viele Verantwortliche das mit besonderem Interesse gehört haben. Denn zunehmend wird hier entdeckt, dass die interkulturelle Öffnung, die seit Jahren auch kirchlicherseits als Entwicklungsaufgabe im Sozial- und Gesundheitswesen beschrieben wird, auch eine spezifische interreligiöse Dimension hat.

Das soziale Engagement der katholischen Gemeinde im Stadtteil Köln-Vingst, das zwar auf eine kirchliche Initiative zurückgeht, allerdings weder bei den Helfern noch bei den Hilfeempfängern auf Christen beschränkt bleibt und so Kulturen wie Religionen zusammenführt, ist kein Einzelfall. Verschiedene Entwicklungen tragen dazu bei, dass die kirchlichen Wohlfahrtsverbände in ihren Diensten und Einrichtungen mehr und mehr Angehörige anderer Religionen und insbesondere Muslime betreuen, dass sie Kooperationen mit Moscheevereinen suchen und auch Muslime als Mitarbeitende beschäftigen.


Als die Zuwanderer noch in erster Linie als "Gastarbeiter" gesehen wurden, hatten die Wohlfahrtsverbände eine Aufteilung der unterschiedlichen Ausländergruppen entlang der Religionsgrenzen vereinbart. Die Caritas war für die Betreuung der Arbeitsmigranten aus den katholischen Anwerbeländern Italien, Spanien, Portugal und Kroatien, die Diakonie für die orthodoxen Griechen und die Arbeiterwohlfahrt für die Muslime aus Marokko, Tunesien und der Türkei zuständig. Diese Spezialisierung auf bestimmte Sprachgruppen war logisch, solange man es mit einer überschaubaren Zahl von Herkunftsländern zu tun hatte und mit einer Rückkehr der Ausländer nach einigen Jahren rechnete. Mit der Erkenntnis, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, hat sie sich erledigt und gilt heute nicht mehr. Aus den Migrationsfachdiensten der Wohlfahrtsverbände sind Integrationsagenturen geworden, die ihre Arbeit am jeweiligen Sozialraum orientieren und die Regeldienste bei der interkulturellen Öffnung unterstützen sollen (vgl. dieses Heft, 139).

Gerade im Fall der Muslime stand deren Zuordnung zu den Beratungsdiensten der Arbeiterwohlfahrt schon immer in Spannung zum Prinzip des Wunsch- und Wahlrechts der Hilfesuchenden. Wenn es schon keine islamischen Beratungsstellen gibt, wählen viele gläubige Muslime - sofern sie nicht extremen Gruppen angehören - häufig ganz bewusst kirchliche Dienste und Einrichtungen. Ihnen bringen sie oft ein höheres Vertrauen entgegen als säkularen Anbietern, weil sie bei Christen einen Bezug zu dem einen Gott und eine gemeinsame Wertebasis sehen. Für die kirchlichen Kindertagesstätten und zum Teil für konfessionelle Behinderteneinrichtungen galt dies schon immer. Auch dort, wo die örtliche Krankenhausversorgung durch kirchliche Häuser sichergestellt wird, sind muslimische Patienten nichts Neues.


Die Caritas erbringt ihre Dienstleistungen unabhängig von der Religion

Vor allem in den alten Bundesländern stellen Migranten und unter ihnen Muslime inzwischen in vielen Städten und Gemeinden einen größer werdenden Bevölkerungsanteil, während der Anteil der Einheimischen und damit der Christen sinkt. Dies hat neben dem Wegzug deutscher Familien aus Ausländerstadtteilen damit zu tun, dass zurzeit die Zahl der Migranten durch die Generationen gleich bleibt, während die Gruppe der "Deutschen" kleiner und älter wird. Auch durch diese Entwicklung steigt die Anzahl der Migranten und Muslime unter den potenziellen Nutzern der karitativen Dienste und Einrichtungen. Diese haben die Wahl, sich diesen Nutzern verstärkt zu öffnen oder ihre Angebote zu verkleinern oder zu schließen.


Ein Abbau karitativer Dienste und Einrichtungen, der sich am Rückgang des christlichen Bevölkerungsanteils orientiert, würde allerdings in deutlicher Spannung zum Leitbild der Caritas stehen. Dort heißt es, dass die Caritas ihre sozialen Dienstleistungen unabhängig von der Religion, der Volkszugehörigkeit und der politischen Einstellung der Betroffenen erbringt und sich an den Nöten und Problemen der Hilfebedürftigen orientiert (vgl. dieses Heft, 141ff.).

Alle sozialen Indikatoren weisen jedoch darauf hin, dass die Problemlagen gerade in den Städten und Stadtteilen mit vielen Migranten hoch sind. Eine Konzentration auf christliche Nutzer würde auch das Ziel der interkulturellen Öffnung konterkarieren, nach dem Dienste und Einrichtungen so gestaltet werden sollen, dass der Zugang jedem möglich ist, unabhängig von seiner kulturellen Prägung aufgrund von Herkunft, religiöser oder weltanschaulicher Überzeugung, individueller Lebenseinstellung und Lebensweise (Vielfalt bewegt Menschen. Interkulturelle Öffnung der Dienste und Einrichtungen der verbandlichen Caritas. Eine Handreichung, Hg. vom Deutschen Caritasverband, Freiburg 2006, 7).

Ein solcher Rückzug würde schließlich die sozialen Segregationsprozesse in den Städten verschärfen und damit das Reden vom Integrationsengagement der Kirche unglaubwürdig machen. Zu guter Letzt darf nicht vergessen werden, dass die politisch gewollte Einführung des Wettbewerbs in den Bereich der sozialen Angebote und der Gesundheitsdienste dazu führt, dass die Caritas sich auf einem Markt behaupten muss. Um dort konkurrenzfähig und damit auch als kirchlicher Träger präsent zu bleiben, wird man neben allen inhaltlichen Gründen auch aus unternehmerischer Sicht auf nichtchristliche Nutzergruppen kaum verzichten wollen.


Weitere Berührungspunkte zu anderen Kulturen und Religionen ergeben sich durch die stärkere Sozialraumorientierung der Caritas in städtisch geprägten Gegenden. An die Stelle von zentralen Geschäftsstellen mit Fachabteilungen treten immer öfter - wie etwa in Duisburg - in Stadtteilen verortete Caritaszentren, in denen alle stationären und ambulanten Einrichtungen und Dienste sowie die unterschiedlichen Beratungsangebote zusammengeführt werden. Andere Caritasverbände übernehmen in Absprache mit der Kommune die Stadtteil- oder Quartiersarbeit für einen bestimmten Bereich, so zum Beispiel in Gelsenkirchen mit den "Neustadt-Treff". Auch der Fachdienst Gemeindecaritas entdeckt mehr und mehr den lokalen Lebensraum als soziale Gestaltungsaufgabe.

Diese Arbeitsansätze gehen über die klassische Einzelfallhilfe hinaus und nutzen beziehungsweise aktivieren die Ressourcen im Sozialraum. Sie sprechen alle Menschen und Institutionen an, die im Stadtteil leben und dort ihren Sitz haben. Gerade in Quartieren, in denen sich städtebauliche, wirtschaftliche und soziale Probleme konzentrieren und solche Projekte besonders notwendig sind, ist der Anteil der Migranten und der muslimischen Bevölkerung hoch. Neben Schulen, Sportvereinen und Kirchengemeinden gehören hier oft mehrere Moscheevereine zu den sozialen Akteuren, die es für das Knüpfen sozialer Netze und im Bedarfsfall als Zugangswege für fachliche Hilfe zu gewinnen gilt.


Kooperationen mit Moscheevereinen

Die allermeisten Moscheevereine in Deutschland sorgen sich seit jeher nicht allein um das Gebet, die Gestaltung der Feiertage und die religiöse Unterweisung in Korankursen, sondern nehmen vielfältige soziale Aufgaben für die muslimischen Migranten wahr. Sie sind Orte überdurchschnittlichen ehrenamtlichen Engagements (vgl. Dirk Halm und Martina Sauer, Freiwilliges Engagement von Türkinnen und Türken in Deutschland. Projekt der Stiftung Zentrum für Türkeistudien im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Essen 2005, http://www.bmfsfj.de/Publikationen/engagementstudie-zft).

Vereinsvorstände und Vorbeter berichten, dass sie sich um den Aufbau von Jugendgruppen bemühen und immer wieder angesprochen werden, wenn in den Familien soziale Probleme wie Arbeitslosigkeit und Schulden oder Fragen im Zusammenhang mit Schule und Erziehung auftauchen. Inzwischen gibt es Frauengruppen und Hausaufgabenhilfen und es finden Sprach- und sogar Integrationskurse in Moscheen statt. All das zeigt: Neben anderen Organisationen der Migrantenselbsthilfe verfügen die Moscheevereine über ein erhebliches soziales Kapital, das bisher allerdings nur selten in die kommunalen Netzwerke eingebunden ist und durch die Quartiersarbeit der Caritas einbezogen werden kann. Im Rahmen von "Tandemprojekten" wird die Zusammenarbeit der Wohlfahrtsverbände mit Migrantenorganisationen unter anderem durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gezielt gefördert.


Ein besonders heikles Thema ist schließlich die Beschäftigung von Angehörigen anderer Religionen bei der Caritas. Einerseits tun sich viele Verantwortliche schwer damit, nichtchristliche Mitarbeiter einzustellen, weil sie Sorge haben, damit das kirchliche Profil zu gefährden. Andererseits hat eine Umfrage des Deutschen Caritasverbandes im Jahr 2006 ergeben, dass mehr als zwei Drittel der karitativen Einrichtungen und Träger nichtchristliche Mitarbeitende beschäftigen. Auch wenn keine Zahlen vorliegen, die Aufschluss über die Anteile der nichtchristlichen Mitarbeitenden in verschiedenen Einrichtungen und die Aufteilung auf verschiedene Religionen beziehungsweise Konfessionslose geben, handelt es sich nicht um Einzelfälle.

Eine eigene Untersuchung aus dem Jahr 2005 hat ergeben, dass im Ruhrgebiet 11 von 12 Krankenhäusern und 16 von 22 Alten- und Pflegeheimen muslimische Mitarbeiter beschäftigten. Die Anteile der Muslime lagen dabei zwischen 1,9 und 8 Prozent. Multireligiöse Mitarbeitergruppen sind insbesondere in Krankenhäusern, Alten- und Pflegeheimen, ambulanten Pflegediensten und Hospizen vielerorts Realität. Aber auch im Bereich der Beratungsdienste arbeiten Muslime bei der Caritas.


Der Deutsche Caritasverband hat in der genannten Erhebung nach den Gründen gefragt, die zur Einstellung von andersgläubigen oder religiös nicht gebundenen Mitarbeitenden geführt haben. Häufig wurden fachlich-konzeptionelle Aspekte genannt. Man verspricht sich, durch die Aufnahme von nichtchristlichen und religiös nicht gebundenen Kolleginnen und Kollegen Zugangsbarrieren für Menschen unterschiedlicher religiöser Herkunft abzubauen und die interkulturelle Kompetenz der übrigen Mitarbeitenden zu fördern.

Darüber hinaus sehen Träger in der Öffnung ihrer Teams für Mitarbeitende nichtchristlicher Religionen eine Konkretisierung des kirchlichen Auftrags und eine Realisierung des Leitbilds der Caritas. Multireligiöse Teams machen deutlich, dass die Kirche für ein friedliches Zusammenleben der Religionen steht und die Caritas auch als Arbeitgeber einen aktiven Beitrag zur Integration leisten will. Schließlich berichten Leitungen immer öfter, dass die Gewinnung qualifizierten Personals besonders für den Pflegedienste, Altenheime und Krankenhäuser in bestimmten Gebieten zunehmend schwierig wird. Eine Beschränkung auf christliche Bewerberinnen und Bewerber kann daher auch in den alten Bundesländern oft nicht durchgehalten werden.

Nicht nur in der Gemeinde St. Theodor in Köln-Vingst, sondern in vielen Bereichen, die zur verbandlichen Caritas gehören, wird der interreligiöse Dialog also tagtäglich gelebt. Die karitativen Dienste und Einrichtungen werden damit in vielen Teilen Deutschlands mehr und mehr zu Orten einer lebendigen interreligiösen Praxis in der Kirche. Dies gilt zumindest dann, wenn man für die Begegnung der Religionen einen weiten Dialogbegriff zugrunde legt, wie es die katholische Kirche in ihren offiziellen Dokumenten tut.

Auf diesem Hintergrund macht die Entwicklung im Bereich der Caritas Hoffnung. Denn was in der klassischen Dialogarbeit der Kirchen, der muslimischen Verbände und der christlich-muslimischen Dialoginitiativen nur mühsam gelingt, vollzieht sich hier quasi nebenbei: Über kleine Kreise hinaus werden persönliche Begegnungen und gemeinsames Handeln von Christen und Muslimen angeregt, in denen gegenseitiges Vertrauen wachsen kann. Zudem entspricht die Zusammenarbeit im Sozialen der Zielvorgabe, die "Nostra aetate", das Grunddokument des Zweiten Vatikanischen Konzils für den Dialog der Religionen formuliert.


Gefährdet die interreligiöse Öffnung das katholische Profil?

Mit der interreligiösen Öffnung stellen sich für die kirchlichkaritativen Träger und ihre Mitarbeitenden jedoch eine Reihe von praktischen und grundsätzlichen Fragen. Vielfach besteht eine große Unsicherheit, weil man sich im Feld des Interreligiösen auf fremdem Terrain zu befinden glaubt, für das eher die Theologen zuständig und kompetent sind. Teilweise fühlen sich Mitarbeitende überfordert, weil sie den Eindruck haben, sich nun zusätzlich zur interkulturellen Kompetenz in ein weiteres Thema einarbeiten zu müssen, das eigentlich nicht in ihre Fachlichkeit gehört. Es gibt auch die Sorge, dass eben diese fachlichen Standards nun in Frage gestellt würden. Bedeutet die Öffnung für muslimische Klienten etwa, dass die "dem Islam" zugeschriebene Unterordnung, "Verschleierung", vielleicht sogar Züchtigung der Frau durch den Mann akzeptiert werden soll?

Das auch unter Caritas-Verantwortlichen und Mitarbeitenden häufig anzutreffende Misstrauen gegenüber dem Islam hängt auch mit fehlenden Kontakten zusammen. Konkrete Ansprechpartner sind aus den beruflichen Bezügen in der Regel nicht bekannt und in der Vielfalt der muslimischen Verbände, die weder auf der Bundes- und Landes-, noch auf der kommunalen Ebene den Kirchen vergleichbare Vertretungsstrukturen haben, nur schwer auszumachen. Die Tatsache, dass einige Gruppierungen vom Verfassungsschutz beobachtet werden, nährt die Befürchtung, an den falschen Partner zu geraten.

Nicht selten wird der Islam außerdem als mit dem Christentum konkurrierende Religion gesehen. Verantwortliche müssen sich dann fragen lassen, ob eine Öffnung für muslimische Nutzer, eine Kooperation mit Moscheen und die Beschäftigung von muslimischen Mitarbeitenden nicht einer Selbstaufgabe der Kirche und einem Verlust des christlichen Profils gleichkomme. Dort, wo sich Kirche auf das diakonische und interreligiöse Feld begibt und wirklich auf die Anderen einlässt, so scheint es vielen, sei das Katholische nicht mehr deutlich zu erkennen, drohe das unterscheidend Christliche verloren zu gehen.

Wenn etwa im katholischen Kindergarten nicht nur die religiöse Bedeutung des adventlichen und weihnachtlichen Brauchtums, sondern auch die des Zuckerfestes kindgemäß vermittelt wird, wenn im katholischen Altenheim die Bewohner von der muslimischen Pflegerin, die als Ausdruck ihres Glaubens auch noch ein Kopftuch trägt, zur Messe in die Hauskapelle gebracht werden, wenn ein Begegnungs- und Beratungszentrum der Caritas gemeinsam mit der DITIB-Moschee und der alevitischen Gemeinde Angebote für Senioren im Stadtteil entwickelt: Fehlt dann nicht jede Eindeutigkeit und Unterscheidbarkeit? Ist dann nicht alles gleich gültig und der Einsatz der Kirche entwertet? Sind Caritaseinrichtungen dann noch kirchliche Orte? Und können etwa muslimische Caritas-Mitarbeiter Teil der kirchlichen Dienstgemeinschaft sein und den "Liebesdienst der Kirche" tun?

Diese und weitere Fragen werden zur Zeit in einzelnen Einrichtungen und Diensten diskutiert, nicht jedoch auf der verbandlichen Ebene. Die verschiedenen Veröffentlichungen der Deutschen Bischofskonferenz und einzelner Bistümer gehen nur auf einen Teil der genannten Themen ein. So finden sich in der Arbeitshilfe "Christen und Muslime in Deutschland" Abschnitte, die sich mit Muslimen in katholischen Altenheimen und Krankenhäusern befassen (167-171, 226-234). Darin wird an einigen Beispielen illustriert, was der "notwendige Respekt vor der abweichenden Glaubensüberzeugung" der muslimischen Bewohner und Patienten bedeutet.

So halten es die Bischöfe für zwingend, dass die Einhaltung der islamischen Speisevorschriften und des Fastengebots im Ramadan sowie der Beistand eines Imams oder anderer Vertreter einer örtlichen Moscheegemeinde ermöglicht werden. Krankenhäusern wird darüber hinaus empfohlen, Muslimen für das Pflichtgebet einen gesonderten Raum zur Verfügung zu stellen. Diesem Vorschlag stehen katholische Kliniken vielfach sehr skeptisch gegenüber. Manche sind der Auffassung, wer beten wolle, der könne in einem katholischen Haus die Kapelle nutzen. Öfter wird statt eines muslimischen Gebetsraums ein neutraler Raum der Stille eingerichtet. Entsprechende Anfragen von muslimischer Seite werden in der Regel an den Krankenhausseelsorger weitergeleitet, obwohl sie zum Anlass genommen werden müssten, grundsätzlich darüber nachzudenken, wie sich das Haus in Bezug auf die religiösen Bedürfnisse der muslimischen und anderer nichtchristlicher Patienten, Besucher und Mitarbeitender positioniert.


Wo die Kirche sich wirklich auf die Welt in ihrer Komplexität einlässt, ist es notwendig, dass im Zuge gesellschaftlicher Veränderungsprozesse Leitbilder und Konzepte neu formuliert werden müssen. Eine Einbeziehung der neuen religiösen Vielfalt in diesen Prozess bedeutet kein Verwässern des katholischen Profils, sondern seine Aktualisierung. Als Alternative steht nur der Weg zurück in die geschlossene katholische Welt zur Verfügung. Der Sorge, dass die Mitarbeitenden durch solche Prozesse in ihrer religiösen Identität verunsichert würden, kann man die guten Erfahrungen entgegenhalten, die auch in multireligiösen Teams im Bereich der Caritas vorhanden sind. Dort kommt es in aller Regel zu einem intensiven Austausch über Fragen der Religion, weil Dinge, die früher selbstverständlich, vertraut und "nicht der Rede wert" waren, nun hinterfragt werden. Die Begegnung mit Andersgläubigen und Nichtglaubenden führt vielfach dazu, sich der eigenen Identität neu bewusst zu werden, zentrale Glaubensinhalte neu zu durchdenken und sich ihrer lebensprägenden Kr aft neu bewusst zu werden.


Innerhalb der Caritas wächst auf diesem Hintergrund der Bedarf, auch eine spezifisch interreligiöse Kompetenz zu erwerben. Als der Caritasverband für das Erzbistum Köln Ende letzten Jahres zu einem dreitägigen Kongress unter der Überschrift "Interreligiosität und Interkulturalität" einlud, meldeten sich mehr als 150 Teilnehmer, von denen viele nicht aus dem Rheinland, sondern aus anderen Teilen Deutschlands und dem benachbarten Ausland kamen. Bisher werden solche Tagungen und spezifische Fortbildungen jedoch nur selten angeboten. Das überrascht angesichts der Tatsache, dass die Caritas als konfessioneller Träger bessere Voraussetzungen mitbringt, die religiöse Dimension kultureller Verschiedenheit wahrzunehmen und angemessen damit umzugehen, als religiös unmusikalische Anbieter auf dem sozialen und Gesundheitsmarkt.


Von den bisherigen Dialogerfahrungen profitieren

Die einschlägige Arbeitshilfe des Deutschen Caritasverbandes zur interkulturellen Öffnung ist jedoch von einer großen Zurückhaltung geprägt, wenn es um Religion und den Islam geht. Zwar heißt es in der Handreichung, dass Interkulturalität immer auch eine interreligiöse Komponente habe. Dies bedeutet jedoch nicht, dass jede Begegnung mit Angehörigen anderer Religionen schon eine interreligiöse Begegnung sei (Vielfalt bewegt Menschen, 15f.). Da Religion niemals in Reinform auftrete, sondern stets in einer bestimmten kulturellen Gestalt, seien Begegnung und Dialog zwischen Menschen in erster Linie interkulturelle Situationen. In zweiter Linie könnten sie zu interreligiösen Begegnungen werden. Aus solchen Formulierungen spricht die Sorge, dass sich die Engführung der Integrationsdebatte auf den Islam im Bereich der interkulturellen Öffnung wiederholen könnte. Auch wenn diese Befürchtung nachvollziehbar ist, reicht es nicht aus, die religiöse Dimension der zunehmenden Vielfalt in Deutschland unter den Kulturbegriff zu subsumieren. Gerade mit Blick auf verzerrte Darstellungen des Islam. Die Unterschiede aber auch die geg enseitige Beeinflussung von Kultur und Religion wahrzunehmen, gelingt aber nur, wenn Mitarbeitende und Leitungen über eine spezifische interreligiöse Dialogkompetenz verfügen. Sie müssen sich nicht nur der eigenen kulturellen, sondern auch der eigenen religiösen Prägung bewusst werden. Sie müssen lernen, religiöse Unterschiede zwischen sich und anderen wahrzunehmen und mit anderen Glaubensüberzeugungen einfühlsam, respektvoll und nicht diskriminierend umzugehen.

Die Caritas kann dabei von den Dialogerfahrungen profitieren, die inzwischen über Jahre in den kirchlichen Fachstellen, Akademien und Initiativen gesammelt wurden. Hier hat man gelernt, dass der interreligiöse Dialog nur dann gelingt, wenn die Achtung vor dem Glauben der anderen mit der Treue zum eigenen Glauben verbunden wird. Dass es in der Begegnung mit Gläubigen anderer Religionen nicht nur darum geht, Gemeinsames zu entdecken. Man hat gelernt, dass das gegenseitige Verständnis gerade dann wächst, wenn Unterschiede thematisiert werden und vordergründige Gemeinsamkeiten (etwa: Christen und Muslime haben ein heiliges Buch, Christen und Muslime fasten) in ihrer spezifischen, meist nicht identischen Bedeutung erkannt werden, die sie im Zusammenhang der jeweiligen Religion haben.


Es spricht einiges dafür, dass die christlich-muslimischen Beziehungen in Deutschland gerade dort eine neue Dynamik gewinnen, wo die Möglichkeiten der Kooperation im sozialen Engagement entdeckt, gelebt und gedeutet werden. Dem nachzugehen lohnt sich auch aus theologischer Perspektive. Denn sowohl mit Blick auf den interreligiösen Dialog wie auf die Caritas betonen kirchliche Dokumente die in der Schöpfung und der Einheit der Heilsgeschichte begründete Gemeinsamkeit mit den Menschen, die den Glauben an Christus nicht teilen. Dies kommt zum Ausdruck in der kirchlichen Rede vom "Strahl der Wahrheit" (Nostra aetate,Nr. 2) und den "Saatkörnern des Wortes" (Dialog und Verkündigung, Nr. 82) in anderen Religionen.

So können die deutschen Bischöfe in ihrem jüngsten Wort zur Caritas schreiben, dass es nach christlicher Glaubensüberzeugung keinen Menschen gibt, der nicht von Gott dazu berufen ist, als sein Ebenbild die Liebe seines Schöpfers anzunehmen, aus ihr zu leben und sie in seinem eigenen Lieben möglichst weiterzuschenken. In diesem Sinn seien alle Menschen berufen, an der Schöpfung mitzuwirken (Nr. 18f.). Wenn dies so ist, dürfen auch die Dienste und Einrichtungen der Caritas an diesen Grenzen nicht Halt machen. Sie können vielmehr dazu beitragen, den interreligiösen Dialog vom Kopf auf die Füße zu stellen. Navid Kermani jedenfalls hat in seiner Dankrede zum Hessischen Kulturpreis davon berichtet, dass er von der Toleranz, die sich im Christentum herausgebildet habe, nicht gelesen, sondern sie konkret erfahren habe: in dem christlichen Krankenhaus, in dem sein Vater arbeitete, im christlichen Behindertenheim, in dem seine Cousine untergebracht war, in den christlichen Kindergärten, die er und seine Brüder besuchten.


Volker Meißner (geb. 1962), Dipl. Theol., Lic. theol. diac., ist Referent für theologische Grundsatzfragen der Caritas, und für Migration, Integration und interreligiösen Dialog im Bischöflichen Generalvikariat Essen.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
64. Jahrgang, Heft 3, März 2010, S. 149-153
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. April 2010