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KIND/105: Immer mehr Kinder aus Zentralamerika flüchten ohne Eltern in die USA (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 5. September 2014

Migration: 'Hölle auf Erden' - Immer mehr Kinder aus Zentralamerika flüchten ohne Eltern in die USA

von Diana Cariboni


Bild: © Wilfredo Díaz/IPS

16-jähriger Guatemalteke, der in die USA will
Bild: © Wilfredo Díaz/IPS

Montevideo, 5. September (IPS) - 'Überlebensmigration' ist kein Spiel in einer Reality-Show, sondern betrifft Menschen, die sich voller Verzweiflung und Angst auf Wanderschaft gegeben. Immer mehr Kinder und Jugendliche aus Zentralamerika machen sich allein auf den mühevollen Weg in Richtung USA.

Mehr als 52.000 Heranwachsende, zumeist aus Honduras, Guatemala und El Salvador, wurden in den vergangenen acht Monaten festgenommen, als sie die Grenze zu den USA ohne ihre Eltern überquerten, wie das 'Washington Office on Latin America' (WOLA) berichtet. Erst in den vergangenen Wochen hat sich der Zustrom etwas verringert.

Gervais Appave, Sonderberater des Generaldirektors der Internationalen Organisation für Migration, erkennt hinter dieser beispiellosen Krise einen "allgemeineren globalen Trend". Kinder, die sich vom Horn von Afrika aus nach Malta und Italien bis in andere europäische Staaten durchschlagen oder Australien per Boot von Afghanistan, Sri Lanka oder vom Iran aus erreichen wollten, seien nur zwei Beispiele der 'Überlebensmigration'.

Die EU-Grenzschutzagentur Frontex bestätigt, dass das "Phänomen unbegleiteter Minderjähriger, die Asyl in der EU suchen" in den Jahren 2009 und 2010 immer häufiger zu beobachten ist. Der Anteil der Minderjährigen, die allein ihre Heimat verließen, an der Gesamtzahl illegaler Einwanderer sei "besorgniserregend" hoch.

Nach Ansicht von Appave kann diese Entwicklung nicht auf ein einziges Phänomen zurückgeführt werden. Dahinter stehe eine "sehr effiziente und skrupellose Industrie". Wenn sich eine kritische Masse von Menschen fortbewege, setze ein psychologischer Effekt ein. Andere würden versuchen, ihnen zu folgen, weil sie dies als die richtige Lösung sähen, um voranzukommen, sagte er.


Schmuggler und Menschenhändler am Werk

Schmuggler und Menschenhändler haben in Honduras, Guatemala und El Salvador Hochkonjunktur. Doch niemand flüchtet, ohne einen dringenden Grund dafür zu haben. Laut einem im Juli veröffentlichten Bericht des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) stellten im Jahr 2012 Menschen aus diesen drei Staaten 85 Prozent aller Asylanträge für die USA. Mexiko, Panama, Nicaragua, Costa Rica und Belize verbuchten zusammengenommen einen Anstieg der Asylanträge von Seiten von Salvadorianern, Honduranern und Guatemalteken um 435 Prozent.

Vor genau 30 Jahren, als Zentralamerika mehrere Bürgerkriege erlebte und von autoritären Regimen beherrscht wurde, erweiterte die 'Erklärung von Cartagena' den internationalen Flüchtlingsbegriff. Daraufhin war es möglich, auch Menschen als Flüchtlinge zu betrachten, die aus ihrem Land fliehen, weil ihr Leben, ihre Sicherheit oder ihre Freiheit durch "allgemeine Gewalt, Angriffe von außen, innere Konflikte, massive Menschenrechtsverletzungen oder anderen Umstände" gefährdet werden, die "die öffentliche Ordnung ernsthaft stören". Viele lateinamerikanische Länder haben dieses regionale Konzept übernommen.

2004 verabschiedeten die Staaten einen Aktionsplan und ein regionales Wiederansiedlungsprogramm. Im Juli dieses Jahres trafen sich Vertreter von Regierungen zentralamerikanischer Länder und Mexikos in Nicaragua, um zu beraten, wie mit dem Problem der durch transnationale Verbrecherkartelle provozierten Vertreibungen umzugehen ist. Alle an den Verhandlungen beteiligten Länder kamen überein, gemeinsam Verantwortung für den Schutz der Migranten übernehmen zu müssen.


Lateinamerika plant neue Strategie in Asylfrage

Im Dezember soll ein auf zehn Jahre angelegter neuer lateinamerikanischer Plan zu Flüchtlingen, Asylsuchenden und Staatenlosen bei einem Treffen in Brasilien angenommen werden, das den 30. Jahrestag der Erklärung von Cartagena begeht.

Gemäß einem 2008 in den USA verabschiedeten Gesetz müssen die Vereinigten Staaten alle Fälle, in denen unter 18-Jährige allein über die Grenze gekommen sind, darauf hin untersuchen, ob es sich bei ihnen um Opfer von Menschenhandel oder Missbrauch handelt. Zudem muss ihnen ein Rechtsbeistand zur Seite gestellt und ein gerechtes Verfahren garantiert werden.

"Einige Kreise wollen dieses Gesetz ändern. Auch wenn die Heranwachsenden bisher nicht abgeschoben werden, ist die Haltung Washingtons in dieser Frage nicht eindeutig", kritisiert José Guadalupe Ruelas, Direktor der honduranischen Kinderschutzorganisation 'Casa Alianza'. Mit Blick auf die Wahlen in den USA im November sei es sehr unwahrscheinlich, dass die Parteien dieses Thema aus dem Wahlkampf ausklammern würden.

Verbrecherbanden und Korruption seien die treibenden Kräfte hinter den Migrationsströmen, so Ruelas und die WOLA-Mitarbeiterin Adriana Beltrán. Morde, extralegale Hinrichtungen, Erpressung und Angst hätten in Honduras "dramatisch zugenommen".

In dem zentralamerikanischen Land sind den offiziellen Angaben zufolge etwa 3,7 Millionen unter Menschen keine 18 Jahre alt, davon geht ungefähr eine Million nicht zur Schule. Etwa 500.000 Minderjährige werden als billige Arbeitskräfte missbraucht. Fast ein Viertel der Mädchen im Teenageralter werden schwanger, und 8.000 Jungen und Mädchen sind obdachlos. Jährlich flüchten 15.000 Kinder aus Honduras.

"Vor fünf Jahren wurden jeden Monat durchschnittlich 43 Kinder und Jugendliche unter 23 Jahren getötet oder willkürlich hingerichtet", berichtet Ruelas. Seitdem ist der Monatsdurchschnitt auf derzeit 88 Morde angestiegen, wie das Observatorium für Kinderrechte von Casa Alianza mitteilt.

Die verängstigte Bevölkerung misstraut den staatlichen Institutionen. Allein im vergangenen Jahr verließen etwa 17.000 Menschen ihr Zuhause, nachdem sie von Mara-Gangs bedroht worden waren. "Sie wurden durch Bandenkriege vertrieben", sagte im Juni der honduranische Staatspräsident Juan Orlando Hernández und räumte damit ein, dass der Staat seine Bürger nicht ausreichend schützen kann.

Beltrán sprach von "unglaublich schwachen Strafverfolgungsbehörden, die von dem organisierten Verbrechen durchdrungen sind". Nach Einschätzung von Ruelas wird das Erstarken der Banden die Fähigkeit von Honduras, für Recht und Ordnung zu sorgen, weiter schwächen.

"Obwohl mehr Soldaten als früher auf den Straßen patrouillieren, hält dies Kriminelle nicht davon ab, Menschen zu bedrohen und zu ermorden." Beltrán kritisiert, dass die Soforthilfe der USA, die durch die Zentralamerikanische regionale Sicherheitsinitiative (Carsi) weitergeleitet wird, zu sehr auf den Anti-Drogen-Kampf fokussiert sei. Die Region benötige hingegen mehr Mittel zur Finanzierung von Präventionsmaßnahmen, vor allem auf lokaler Ebene. (Ende/IPS/ck/2014)


Links:

http://www.ipsnews.net/2014/08/the-age-of-survival-migration/
http://www.ipsnoticias.net/2014/08/los-tiempos-de-la-migracion-de-supervivencia/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 5. September 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. September 2014