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KIND/094: Pakistan - Taliban rekrutieren viele Kinder aus mittellosen Familien (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 10. September 2013

Pakistan: Den Armen das Himmelreich - Taliban rekrutieren viele Kinder aus mittellosen Familien

von Ashfaq Yusufzai


Bild: © Ashfaq Yusufzai/IPS

Festgenommene Taliban geben Armut häufig als Begründung für ihre Hinwendung zum Terrorismus an
Bild: © Ashfaq Yusufzai/IPS

Peshawar, Pakistan, 10. September (IPS) - "Dass ich meinen Sohn wieder habe, ist ein großes Glück", sagt Muhammad Jabeen, ein Saftverkäufer in Bannu, einem der 25 Bezirke in der nordpakistanischen Provinz Khyber Pakhtunkhwa. Vor zwei Jahren hatten die Taliban den damals 16-jährigen Teenager aus einer Madrassa-Islamschule entführt, um ihn zum Kämpfer auszubilden.

"Sicher hätten sie ihn einer Gehirnwäsche unterzogen und zum Selbstmordattentäter gemacht, wäre ihm nicht schon nach vier Monaten die Flucht gelungen", meint der Vater. Dass Mateen Shah überhaupt rekrutiert werden konnte, hat vor allem mit der Armut in seinem Heimatbezirk zu tun.

"In Bannu gibt es mehr als 100 Religionsschulen. Dort erhalten Kinder, deren Eltern das Schulgeld für den Besuch einer modernen Einrichtung nicht aufbringen können, eine kostenlose Ausbildung", erläutert Muhammad Jamal, Dozent für politische Wissenschaft am Postgraduiertenkolleg in Bannu. "Auch Verpflegung und Kleidung sind umsonst."

Wie Jamal weiter berichtet, ist Bannu zu einer Brutstätte des Terrorismus geworden. Hier haben die Taliban in den letzten zehn Jahren Hunderte junger Männer für ihren Jihad rekrutiert. Der Distrikt liegt in der Nähe des Verwaltungsbezirks (Agentur) Nord-Waziristan, einer Hochburg der Taliban. Von den selbsternannten Gotteskriegern erlernen die Jungen, mit dem Gewehr umzugehen, einen Hinterhalt zu legen und Selbstmordattentate durchzuführen.


500 Kinder in fünf Jahren entführt

Nach Angaben des Polizeioffiziers Khalid Khan haben die Taliban in den letzten fünf Jahren mehr als 500 Kinder entführt. "Etwa 40 konnten fliehen, doch was aus den anderen geworden ist, wissen wir nicht." So fehlt auch von den beiden Jungen, die gemeinsam mit Mateen Shah verschleppt worden waren, jede Spur. Vor allem Waisen sind den Rekrutierungsversuchen der radikalen Islamisten schutzlos ausgeliefert.

Die Taliban weisen zwar den Vorwurf, Kinder in ihren Reihen zu haben, zurück. Doch Khan zufolge schnappen sich die Terroristen gern halbverhungerte Jugendliche, um sie für ihre Zwecke zu instrumentalisieren.

Fazl Hanan aus dem Bezirk Lakki Marwat geht davon aus, dass sein Neffe ebenfalls den Taliban in die Hände gefallen ist. Der Junge sei zum Zeitpunkt seines Verschwindens von seinem Vater in einem Straßenrestaurant beschäftigt worden. "Auf einmal war er weg. Wir haben gehört, dass er sich häufig mit einigen lokalen Taliban getroffen hat. Es kann gut sein, dass er sich ihnen angeschlossen hat."

In Bezirken wie Lakki Marwat, Bannu, Dera Ismail Khan and Tank wimmelt es nur so von Taliban-Kämpfern. Sie hatten nach ihrer Vertreibung aus Kabul Ende 2001 durch die US-geführten internationalen Truppen in den pakistanischen Stammesgebieten unter Bundesverwaltung (FATA) Unterschlupf gefunden.

"Die Taliban haben meinen Sohn Jawad im März 2011 mit der Aussicht auf einen lukrativen Job aus der Autowerkstatt geholt, in der er seine Lehre machte", berichtet Shaukat Ali, ein Gemüsehändler aus dem Bezirk Charsadda. In einem Telefongespräch drei Monate später teilte der damals 18-Jährige seinen Eltern mit, sich in Waziristan aufzuhalten.

Jawad war Alis einziger Sohn. Er hatte bis zu seinem Verschwinden zum Unterhalt der zwölfköpfigen Familie beigetragen. "Wir haben so sehr gehofft, dass unser Junge zurückkommt", sagt der Vater. "Doch dann teilte uns eine Taliban-Gruppe mit, dass Jawad in Afghanistan bei einem Selbstmordattentat auf US-Soldaten ums Leben gekommen sei. Sie gratulierte uns dazu, dass Jawad es ins Himmelreich geschafft habe."

Hin und wieder gelingt einigen entführten Kindern die Flucht. Am 1. Juni 2009 entkamen 20 Teenager ihrer Gefangenschaft. "Die Taliban hatten uns aus verschiedenen Religionsschulen in Dera Ismail Khan verschleppt und in einem gut gesicherten Gebäude in Waziristan festgehalten", erzählt der 15-jährige Imran Ali, dem die Flucht gelang. "Dort wurden wir von einem langbärtigen Mann unterrichtet."

Wie Ali weiter berichtet, gab es in dem Lager viele Jugendliche, die froh waren, dass sie mit dem Nötigsten versorgt wurden, ohne dafür arbeiten zu müssen. "Mir ging es zunächst genauso, doch als uns ein Junge erklärte, dass wir dazu bestimmt seien, bei einem Selbstmordattentat zu sterben, warteten wir eine günstige Moment zur Flucht ab."

Von vielen der jugendlichen Entführungsopfer verliert sich allerdings jede Spur. Zu ihnen gehört Abdur Rehman, der 2006 im Alter von 15 Jahren verschwand. "Er gehört zu den 200 Jungen aus Swat in Khyber Pakhtunkhwa, die bis heute vermisst werden", berichtet Muhammad Rehman, der Vater.


Resozialisierung und Ausbildung

Laut dem Polizeioffizier Khan konnten immerhin 400 der von den Taliban verschleppten Kinder aufgespürt werden. "Wir haben sie in Internierungszentren untergebracht, wo sie ent-radikalisiert und zu Handwerkern ausgebildet werden. Sie sollen ihr eigenes Geschäft führen können."

Der 19-jährige Gul Muhammad war im Alter von 14 Jahren in Swat verschleppt worden. Nach seiner Festnahme in einem Taliban-Trainingslager wurde er vier Monate lang in Gefangenschaft gehalten und dann zum Schneider ausgebildet. Seit Juli ist er fertig und zu seiner Familie zurückgekehrt. "Jetzt, wo ich den Taliban entkommen bin und etwas gelernt habe, kann ich meinen armen Eltern helfen und ihnen finanziell unter die Arme greifen." (Ende/IPS/kb/2013)


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http://www.ipsnews.net/2013/09/paradise-calls-the-poor/

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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. September 2013