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INTERNATIONAL/173: Zentralamerika - Flucht vor Armut und Gewalt, Region verliert ihre Kinder (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 21. Juli 2014

Zentralamerika: Flucht vor Armut und Gewalt - Region verliert ihre Kinder

von Thelma Mejía


Bild: © Honduranisches Präsidialamt

Zum Abschluss der Internationalen Konferenz über Migration, Kindheit und Familie haben zivilgesellschaftliche Organisationen gefordert, Migranten wie Menschen und nicht wie Zahlen zu behandeln
Bild: © Honduranisches Präsidialamt

Tegucigalpa, 21. Juli (IPS) - Das wachsende Heer zentralamerikanischer Kindermigranten, die vor Armut und Gewalt in ihren Herkunftsländern in Richtung USA fliehen, rückt immer mehr ins Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit.

Vom 16. bis 17. Juli hatten das Weltkinderhilfswerk UNICEF und die honduranische Regierung rund 200 Experten zu einer internationalen Konferenz über Migration, Kindheit und Familie in Tegucigalpa zusammengebracht, um nach Lösungen für diese menschliche Tragödie zu suchen.

Gefordert wurde unter anderem die Umsetzung eines internationalen Aktionsplanes, der striktere Grenzkontrollen und eine Schließung der Übergänge ermöglicht, die von den Kindermigranten genutzt werden. Auch machten sich die Konferenzteilnehmer für eine regionale Initiative stark, die den zentralamerikanischen Ländern Frieden, Sicherheit und Wohlstand bringen soll. Doch die Erklärung von Tegucigalpa blieb vage und unverbindlich.


47.000 Kindermigranten in diesem Jahr

Nach US-Angaben haben die Grenzpatrouillen in diesem Jahr mehr als 47.000 unbegleitete Kinder auf dem Weg in die USA aufgegriffen. In der Regel werden die betroffenen Mädchen und Jungen bis zu ihrer Abschiebung in überfüllten Auffanglagern festgehalten. Die Zahl der Kindermigranten hat sich gegenüber 2011 mehr als verzehnfacht. Nach Aussagen von José Miguel Insulza, Generalsekretär der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), waren damals 4.059 Mädchen und Jungen festgenommen worden. 2013 waren es dann bereits 21.537.

29 Prozent der Heranwachsenden, die aufgegriffen werden, sind Honduraner, 24 Prozent Guatemalteken, 23 Prozent Salvadorianer und 22 Prozent Mexikaner. Insulza warnte davor, die Kinder zu kriminalisieren. Bilder von Minderjährigen, die auf eigene Faust oder in Begleitung von Verwandten oder Fremden den als "Das Biest" bekannten Zug in Richtung US-Grenze besteigen, haben die Regierungen der Region inzwischen aufgeschreckt. Die US-Regierung kündigte an, die in den letzten Monaten aufgegriffenen Jungen und Mädchen in ihre Heimatländer abzuschieben. Am 14. Juli sind die Deportationen honduranischer Minderjähriger angelaufen.

Auslöser der Massenflucht sind nach Angaben von Experten im Fall der guatemaltekischen Kinder Armut, und im Fall der salvadorianischen Minderjährigen Gewalt. Der honduranische Präsident Juan Orlando Hernández sprach von einem "katastrophalen Zustand". Sieben von neun Kindern, die die Grenze in die USA überqueren, seien honduranischer Herkunft und stammten aus Gebieten, in denen Unsicherheit und Gewalt vorherrschten.

Der Migrationsexperte Ricardo Puerta warnte die zentralamerikanischen Regierungen vor dem Verlust ihrer jungen Generation. So seien die Migranten im Alter zwischen zwölf und 30 Jahren alt und kehrten häufig nicht in ihre Heimat zurück.

Die Honduranerin Laura García verdient sich ihren Lebensunterhalt als Putzfrau. Sie erhält durchschnittlich zwölf US-Dollar pro Haushalt oder Büro. Das reicht kaum aus zum Leben. Deshalb will auch sie in die USA auswandern. Die Risiken, die mit der langen Reise verbunden sind, schrecken sie ebenso wenig wie die Aussicht, in den USA nicht willkommen zu sein.

"Mir ist das alles bekannt", sagt sie. "Doch gibt es hier bei uns keine Arbeit. Manchmal habe ich an einem Tag zwei Stellen, an anderen Tagen findet sich nur eine oder gar keine. Und jetzt, wo ich über 35 Jahre alt bin, sind die Chancen, neue Kunden zu gewinnen, noch schlechter, egal wie sehr ich mich abrackere. Ich werde es im Norden versuchen. Dort soll man ja Betreuungspersonal suchen."

García lebt in der Slumsiedlung der Stadt San Cristóbal nördlich von Tegucigalpa. Hier haben bewaffnete Gangs das Sagen, und die Gewalt ist omnipräsent. Wer ab 18 Uhr das Viertel aufsuchen oder verlassen will, braucht eine Genehmigung der Bandenführer.

"Sie sagen, dass auf dem Weg in die USA viel passieren kann. Die Rede ist von Angriffen, Entführungen und Vergewaltigungen. Doch das kann dir auch hier bei uns blühen, wenn du den Mara-Gangstern in die Hände fällst", meint García. "Du kannst jederzeit erschossen werden."

Auf der Konferenz der katholischen Bischöfe am 7. Juli in Washington hatte der honduranische Kardinal Oscar Andrés Rodríguez Maradiaga über die verzweifelte Lage in Honduras und im Rest der Region gesprochen.


Aderlass

"Es ist so, als habe jemand die Ader von Honduras oder der anderen zentralamerikanischen Länder aufgerissen", sagte er. "Angst, eine abgrundtiefe Armut und keine Zukunft bedeuten, dass wir unser Herzblut - unsere jungen Menschen - verlieren werden. Wenn dies nicht verhindert werden kann, wird das Herz unserer Länder zu schlagen aufhören."

Rodríguez Maradiaga kritisierte zudem die Massendeportationen der honduranischen Kinder aus den USA. "Können Sie sich vorstellen, Ihr Leben als Mensch zu beginnen, der wie ein Krimineller behandelt wird?", fragte er.

Der katholischen Kirche in Honduras zufolge sind es Angst und extreme Armut, gepaart mit Arbeitslosigkeit und Gewalt, die Eltern zu dem Verzweiflungsakt treiben, ihre Kinder auf diese gefährliche Reise zu schicken. Die Kirche fordert inklusive Maßnahmen, um die Flucht der jungen Generation zu verhindern.

Die Gewalt in Guatemala, Honduras und El Salvador wird auf die Ankunft der Drogenmafia nach deren Vertreibung aus Mexiko und Kolumbien zurückgeführt. 2013 lag die Mordrate in El Salvador bei 69,2 pro 100.000 Menschen, in Guatemala bei 30 pro 100.000 und in Honduras bei 79,7 pro 100.000.

Derzeit soll mehr als eine Million der insgesamt 8,4 Millionen Honduraner in den USA leben. Die Geldüberweisungen der Emigranten in die alte Heimat beliefen sich im letzten Jahr auf 3,1 Milliarden US-Dollar, wie der Honduranische Verband der Geldinstitute bekannt gab. (Ende/IPS/kb/2014)


Links:

http://www.ipsnoticias.net/2014/07/migrantes-infantiles-son-una-arteria-abierta-en-america-central/
http://www.ipsnews.net/2014/07/child-migrants-a-torn-artery-in-central-america/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 21. Juli 2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juli 2014