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INTERNATIONAL/050: Bürger ohne Staat - Frauenfeindliche Gesetze generieren ignoriertes Problem (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 27. Oktober 2011

Menschenrechte: Bürger ohne Staat - Frauenfeindliche Gesetze generieren weithin ignoriertes Problem

von Amanda Wilson


Washington, 27. Oktober (IPS) - Als Mona Kareem, Angehörige der Beduinen Kuwaits, elf Jahre alt war, wurde sie von einer kuwaitischen Nachbarin nach ihrer Herkunft befragt. Ihre Antwort, sie komme aus "Beduinien", löste schallendes Gelächter aus. "Es gibt kein Land, das Beduinien heißt", wurde sie belehrt. Das war der Augenblick, in dem Kareen erkannte, dass es zwischen Beduinen und Kuwaitern offenbar einen gravierenden Unterschied gibt.

Kareem erzählte die Anekdote auf einer Konferenz zum Thema Staatenlosigkeit und Diskriminierung der Frau, die das Flüchtlingshilfswerk 'Refugees International' (RI) am Sitz des US-Friedensinstituts USIP in Washington organisiert hatte.

Schätzungen zufolge leben in Kuwait etwa 100.000 Beduinen. 'Bidoun' bedeutet im Arabischen "ohne" und spiegelt eine Lebensrealität: die Staatenlosigkeit von Beduinen in Kuwait und anderswo. Obwohl sich Kuwaits Beduinen weder kulturell noch sprachlich von Kuwaitern abheben, sind sie in dem Golfstaat als "Illegale" registriert. Dieser Status bringt die ethnische Minderheit um die Privilegien und Rechte, wie sie der kuwaitische Durchschnittsbürger genießt. Den Beduinen werden Geburts- und Scheidungspapiere, Toten- und Führerscheine vorenthalten.

Auf der Konferenz in Washington appellierten Menschenrechtsaktivisten an die internationale Gemeinschaft, endlich aktiv zu werden, um die Staatenlosen aus ihrer rechtlichen Grauzone zu holen. "Staatenlosigkeit", so der Flüchtlingshochkommissar der Vereinten Nationen (UNHCR), António Guterres, am 25. Oktober, "ist das Menschenrechtsproblem auf der internationalen Agenda, das am stärksten ignoriert wird".


Zwölf Millionen Staatenlose

RI geht davon aus, dass es weltweit etwa zwölf Millionen Menschen gibt, die als Staatenlose ein rechtloses Dasein fristen. Viele leben in Staaten, in denen frauenfeindliche Gesetze das Problem der Staatenlosigkeit verschärfen beziehungsweise generieren. In Kuwait beispielsweise können Frauen, die weder geschieden noch verwitwet sind, ihre Staatsangehörigkeit nicht an ihre Kinder weitergeben. Viele Kinder beduinischer Männer erben somit die Staatenlosigkeit ihrer Väter.

In rund 40 Staaten werden Frauen in der Rechtssprechung diskriminiert. In 30 Ländern sind sie nicht berechtigt, ihre Nationalität an ihre Kinder weiterzugeben, wenn sie mit einem Staatenlosen oder einem Mann einer anderen Nationalität verheiratet sind. Solche Gesetze schaffen Staatenlosigkeit, wie Guterres betonte. Er rief die 30 Länder auf, durch eine Änderung der Gesetze dafür zu sorgen, "dass alle Mütter dieser Welt so wie die Väter ihre Staatsangehörigkeit an ihre Kinder weitergeben dürfen".

Der RI-Vorsitzende Michel Gabaudan betonte den globalen Charakter des Problems und verwies auf die europäischen Roma und die im Sudan lebenden Südsudanesen. Sollte die Regierung in Khartum keine Vorkehrungen für eine Nationalisierung der im Sudan lebenden Südsudanesen treffen, laufen diese Menschen Gefahr, Staatenlose zu werden.

Sonia Pierre, eine dominikanische Aktivistin haitianischer Herkunft, schilderte den Konferenzteilnehmern, wie Menschen haitianischer Herkunft in der Dominikanischen Republik zu Staatenlosen gemacht werden. So wurde im letzten Jahr ein Gesetz verabschiedet, das den Menschen haitianischer Abstammung rückwirkend die dominikanische Staatsbürgerschaft aberkennt. Dieses Gesetz müsse unbedingt abgeschafft werden, forderte RI.


Ausnahmen bestätigen die Regel

Die Beduinen-Aktivistin Kareem wurde 1987 in Kuwait geboren. Seit ihrem 14 Lebensjahr veröffentlicht sie Gedichte. Anders als die meisten Beduinen in Kuwait, denen der Besuch einer Universität verwehrt ist, konnte sie sich mit Hilfe eines Stipendiums einen Studienplatz an einer privaten kuwaitischen Hochschule sichern. Inzwischen studiert sie Vergleichende Literaturwissenschaften an der Binghamton-Universität im US-Bundesstaat New York. Sie engagiert sich für verschiedene Menschenrechtsorganisationen und Migrantenhilfswerke.

Kareem zufolge haben die meisten Frauen ihres Volkes nicht so viel Glück. In dem Bemühen, ihren Kindern die Staatenlosigkeit zu ersparen, heiraten viele von ihnen kuwaitische Männer oder gar nicht. "Andere bringen sich um", so die Aktivistin. Junge Beduinen hätte selten Aussicht auf einen Arbeitsplatz. Die wenigsten können studieren, viele brechen die Schule ab, andere leiden unter Depressionen. "Keiner von ihnen hat Hoffnung", so Kareem. "Keiner von ihnen benutzt das Wort Hoffnung."

Trotz der schwierigen Lage der Staatenlosigkeit ist die Lage nach Ansicht von Guterres nicht hoffnungslos. So gebe es inzwischen zehn Staaten, darunter Tunesien, die durch Verfassungsänderungen die Situation für Frauen verbessert hätten. Seitdem der ehemalige Präsident Zine El Abidine Ben Ali im Januar von der Macht vertrieben wurde, sind Bestrebungen erkennbar, die nationale Rechtsprechung an die im Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau (CEDAW) eingegangenen Verpflichtungen anzupassen.

Das UNHCR hat Ende August eine Kampagne gestartet, um auf das Problem der Staatenlosigkeit hinzuweisen. Auch unterstützt es derzeit im Rahmen laufender Verfassungs- und Gesetzesreformen im Südsudan, in Nepal und Vietnam Bemühungen um die rechtliche Gleichstellung der Frau. Die Lage sei somit nicht aussichtslos, so Guterres. Auch die RI-Projektleiterin gegen Staatenlosigkeit, Sarnata Reynolds, erkennt Fortschritte. Sie erinnerte die Konferenzteilnehmer an die Reform des libyschen Staatsbürgerschaftsrechts vom vergangenen Mai.


Wirksame Kampagne

Die algerische Aktivistin Lalia Ducos schilderte, wie Frauenrechtlerinnen und Künstlerinnen ihres Landes beharrlich und erfolgreich 2005 eine Reform des diskriminierenden Familiengesetzes durchsetzen konnten, das Eheschließung, Scheidung, Erbfolge und Vormundschaft regelt.

Als Teil der Kampagne produzierten Musikerinnen aus Algerien, Frankreich und Argentinien ein viel beachtetes Video, in dem sie die Neuregelung des umstrittenen Familiengesetzes quasi herbeisangen. Seit 2005 dürfen algerische Frauen ihre Nationalität an ihre Kinder weitergeben. "Diese Regelung war der wahre Durchbruch", meinte Ducos. "Sie garantiert den Kindern aller Frauen eine Staatsangehörigkeit. (...) Wir wünschen uns jetzt, dass unsere Befreiung zur gleichen Zeit wie der Arabische Frühling Blüten treibt." (Ende/IPS/kb/2011)


Links:
http://www.refintl.org/
http://www.usip.org/
http://www.unhcr.org/cgi-bin/texis/vtx/home
http://www.unhcr.org/4e54e8e06.html
http://www.imow.org/wpp/stories/viewStory?storyId=1328
http://ipsnews.net/news.asp?idnews=105602

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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Oktober 2011