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FRAUEN/675: Gewalt entkommen und noch mehr Gewalt begegnen (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 138, 4/16

Gewalt entkommen und noch mehr Gewalt begegnen

Fluchtgeschichte einer jungen Somalierin

von Hamdi Abdullahi Hassan


Nachdem 1991 die somalische Regierung zusammengebrochen war, begannen zwischen Clans Konflikte und Kriege, die bis heute bestehen. Frauen und Kinder sind mit sexualisierter Gewalt - wie Mord, Vergewaltigung und Raub - konfrontiert. Infolgedessen kommt es auch vermehrt zu Migration. Vor ein paar Monaten hat Hamdi Abdullahi Hassan ein junges Mädchen hier in Österreich getroffen, das aus Somalia geflohen ist. Sie ist noch immer von ihrer Reise und ihren Erlebnissen auf dem Weg nach Europa traumatisiert. 2013 beschloss Samiira (der Name wurde anonymisiert), von zu Hause wegzugehen.


"Ich bin Samiira, 17 Jahre alt und aus Somalia. Ich mag mein Land, aber es gibt dort keinen Frieden. Wir haben seit zwei Jahrzehnten einen Bürgerkrieg. Deshalb beschloss ich 2013, einen sicheren Ort zu suchen, zum Leben, Lernen und Arbeiten. Ich hatte nicht erwartet, dass es so schwierig werden könnte.Ich reiste zuerst nach Äthiopien. Es war das erste Mal, dass ich in ein anderes Land kam. Äthiopien in Richtung Sudan verließ ich mit sechs weiteren Personen - vier Frauen und zwei Männern aus Somalia und Äthiopien. Wir kannten einander nicht, aber wir fühlten uns wie Brüder und Schwestern aufgrund unserer Situation. Als wir nahe der sudanesisch-äthiopischen Grenze waren, schliefen wir ein paar Tage im Wald. Es gab kein Wasser und kein Essen. Es war ein sehr gefährlicher Ort. Ich sah zum ersten Mal Löwen, Hyänen und auch Schlangen. Ich kann diese Zeit nicht vergessen, weil es fürchterliche Umstände waren. Wir versuchten zurück nach Hause zu gehen, aber es war unmöglich, weil die Schmuggler es nicht zuließen. Sie wollten noch mehr Geld von uns. Mit Menschen zu handeln ist ihr Geschäft. Nach einer Woche brachten uns die Schmuggler nach Libyen. Sie haben uns mit einem Lastwagen abgeholt. Wir konnten während der Fahrt nicht normal atmen, weil das Auto so voll mit Menschen war. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie viele Stunden wir in diesem Auto verbrachten, aber schlussendlich erreichten wir Libyen mitten in der Nacht. Ich hatte keine Schuhe, es war dunkel und regnete. Ein Mensch mit Beeinträchtigungen war auch unter uns, er konnte nicht alleine gehen. Wir halfen ihm. Weitere 15 eritreische Männer schlossen sich uns an. Zu diesem Zeitpunkt waren wir 21 Personen aus drei verschiedenen Ländern.

Dort begann die schwerste Zeit meines Lebens. Die Schmuggler haben den Frauen und Mädchen gesagt, dass sie ihre Gesichter verhüllen sollten, weil hier ein lokaler Clan immer wieder Frauen in seine Gewalt bringe. Das verunsicherte uns noch mehr. Aber wir hatten Glück. Die libyschen Schmuggler, bekannt als Magafe - in Somalia heißt es, dass es keine andere Möglichkeit gibt weiterzureisen -, hielten uns, Frauen und Männer gemeinsam, an unzugänglichen Orten in Libyen gefangen, um Lösegeld zu kassieren.

Es gab eine Mahlzeit am Tag. Die Schmuggler kochten das Essen mit Benzin statt mit Wasser, und wir mussten es essen, weil es gab keine andere Nahrung. Ich bekam Hautprobleme und kratzte mich blutig. Viele von uns wurden krank, und einige von uns starben an diesem Essen. Es gab keine medizinische Versorgung. Wir wurden geschlagen und gezwungen, die Toten zu begraben. Etwa ein Jahr dauerte dieses Martyrium. Sie kontaktierten unsere Verwandten und Eltern und verlangten sehr viel Geld von ihnen. Nachdem die Schmuggler das Geld erhalten hatten, ließen sie uns frei und schickten uns nach Italien.Wir waren 123 Personen in einem Plastikboot, es war eigentlich für 90 Personen gedacht. Mitten auf dem Meer bekam das Boot ein Leck. Panik verbreitete sich im Boot. Wir beteten zu Gott, damit er uns hilft. Nach Stunden wurden wir von einem großen Schiff gerettet. Ein paar Menschen aus dem Boot - darunter drei Schwangere - starben. Schlussendlich erreichte ich Italien, und nach ein paar Tagen kam ich nach Österreich.

Ich bin noch immer nicht glücklich, weil ich nicht weiß, was als nächstes passieren wird. Ich bin ein Flüchtling, und die Behörden haben noch nicht über meinen Asylantrag entschieden. Seitdem sind mehr als zwei Jahre vergangen. Ich will nicht mehr warten, aber ich weiß nicht, was ich tun soll! Ich bin hier, aber meine ganze Familie ist in Somalia. Ich habe mich selbst in Gefahr gebracht, ich bin hier alleine. Die Menschen in Somalia sind glücklicher als ich, weil sie bei ihrer Familie sind, auch wenn sie andere Probleme haben. Ich würde meiner Community, vor allem jungen Mädchen raten, zu Hause zu bleiben. Der Grund, warum ich das sage, ist, dass sie auf dem Weg nach Europa mehr Gewalt als je zuvor erleben werden."


Zur Autorin: Hamdi Abdullahi Hassan ist Journalistin aus Somalia. Sie lebt in Wien.

Übersetzung aus dem Englischen: Claudia Dal-Bianco

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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 138, 4/2016, S. 31
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. April 2017

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