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FRAUEN/674: Slowenien - Aktive Bürger_innenschaft, Privileg oder Gratisarbeit? (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 138, 4/16

Aktive Bürger_innenschaft - Privileg oder Gratisarbeit?

Freiwilligenarbeit in Slowenien

Aleksandra Kolodziejczyk


Sie hält das System aufrecht und geht einher mit dem Abbau des Sozialstaates, lautet eine feministische Kritik an Freiwilligenarbeit. Ein Blick auf die Situation in Slowenien.

In Slowenien geht die institutionell verankerte Freiwilligenarbeit zurück bis ins 18. Jahrhundert. Sozial-karitative Dienste der katholischen Kirche führten zur Gründung von Freiwilligenorganisationen, in denen vorwiegend Frauen tätig waren. Die Entwicklung dieser Organisationen erfuhr einen jähen Abbruch nach der Gründung der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawiens im Jahr 1943. Viele Organisationen wurden verboten oder unter staatliche Kontrolle gestellt.

Der jugoslawische Staat unter Tito definierte Freiwilligenarbeit neu. Unter dem Motto "Wiederaufbau ohne Rast" sollte das kriegszerstörte Jugoslawien wiederaufgebaut werden. Dabei griff der Staat auf die Arbeitskraft seiner Staatsbürger_innen zurück. Hunderte Arbeitsbrigaden wurden gegründet, die auch aus politischen Häftlingen und Kriegsgefangenen bestanden, welche ohne Entlohnung Schulen und Wohnhäuser errichteten, Straßen und Brücken reparierten oder bei der Ernte halfen.

Nach dem Zerfall Jugoslawiens änderte sich auch die Einstellung der Slowen_innen zu nicht entlohnter Arbeit. "Freiwilligenarbeit kann nicht mehr als Arbeit eines Gemeinschaftsmitgliedes an der Gemeinschaft präsentiert werden, sondern als eine Arbeit, die gut für das Individuum ist", sagt Tereza Novak, die Geschäftsführerin von Slovenska filantropija.


Aus Nächstenliebe

Die humanitäre Organisation Slovenska filantropija fördert Freiwilligenarbeit in Slowenien. Sie ist das Bindeglied zwischen Menschen, die als Freiwillige arbeiten wollen, und rund 1.350 slowenischen Organisationen, die Freiwilligenarbeit anbieten. In Slowenien ist schätzungsweise jede dritte Person ehrenamtlich tätig. Genaue Zahlen gibt es nicht, da nicht alle ehrenamtlichen Aktivitäten, wie z. B. informelle Nachbarschaftsdienste, erfasst werden.

Die Statistiken zeigen, dass die meisten erfassten Stunden an Freiwilligenarbeit in dem Bereich soziale Arbeit geleistet werden. Das ist auch der Bereich, in dem die meisten Frauen tätig sind, sagt Tjasa Arko, die Leiterin des Freiwilligenprogramms. Unter jungen Slowen_innen zwischen 14 und 18 Jahren sind sogar 75 % der Freiwilligen weiblich. Ehrenamtlich tätige Männer sind vor allem im Sportbereich, bei der Freiwilligen Feuerwehr und bei Rettungsdiensten aktiv. Das sind auch jene Bereiche, die mit viel Sozialprestige verbunden sind. Die Mehrheit der ehrenamtlich engagierten Frauen übernimmt hingegen viele jener unterbewerteten Care-Tätigkeiten, die sie bereits zum überwiegenden Teil in der Familie und in der informellen Nachbarschaftshilfe leisten.

Die Selbstverständlichkeit, mit der ehrenamtlich tätige Frauen gesehen werden, und die mangelnde Anerkennung ihrer Leistungen gehen auf das Bild der aus "christlicher Nächstenliebe" karitativ-mildtätig engagierten Frau zurück, so die Historikerin und Sozialwissenschaftlerin Gisela Notz. Im 20. Jahrhundert haben bürgerliche Frauen Sorge- und Pflegedienste ehrenamtlich übernommen, ohne dafür eine Bezahlung zu fordern. Ihre Belohnung wurde ihnen von der Kirche im Seelenheil versprochen, so Notz. Dazu kam, dass sich diese Frauen die unbezahlte Arbeit aufgrund ihrer sozialen Herkunft und Stellung auch leisten konnten. Das Image der karitativen, als selbstverständlich betrachteten Arbeit haftet den bezahlten und unbezahlten Tätigkeiten im Care-Bereich bis heute an, stellt Notz fest.


Gleiche Rechte

Auch heute noch stellt freiwilliges Engagement ein Privileg der besser Ausgebildeten dar. Eine nationale Studie zu Freiwilligenarbeit in Slowenien hat festgestellt, dass die meisten Freiwilligen einen Sekundärabschluss oder eine höhere Ausbildung besitzen. Freiwilligenarbeit dient dabei auch dem Sammeln von beruflichen Erfahrungen oder stellt vermehrt eine Voraussetzung dar, um am Arbeitsmarkt überhaupt Fuß zu fassen.

Tjasa Arko sieht Freiwilligenarbeit als Chance, sein Lebensumfeld mitzugestalten, und als Teil einer aktiven Bürger_innenschaft. Während der Flüchtlingsbewegungen auf der Balkanroute im August 2015 hat Slovenska filantropija Freiwillige organisiert, die an der slowenischen Grenze geholfen haben. "Wir wollten den Menschen die Möglichkeit geben, etwas zu machen. Denn nur dasitzen und Nachrichten schauen, bringt das Gefühl mit sich: Ich kann nichts beitragen, weil ich in keiner machtvollen Position bin. Das lähmt und fördert Ängste", sagt Tjasa Arko.

Wer sich engagieren kann und wer nicht und mit welchen Mechanismen der sozialen Auf- und Abwertung von Gruppen das Helfen-Wollen einhergeht, damit haben sich feministische und postkoloniale Wissenschaftler_innen beschäftigt. Menschen auf der Flucht würden zu Hilfsbedürftigen degradiert, die auf die Wohltätigkeit privilegierter Menschen angewiesen seien, anstatt gleiche Rechte zu genießen, lautet eine Kritik. Außerdem ersetze oder übernehme Freiwilligenarbeit staatliche Aufgaben und gehe mit dem Abbau des Sozialsystems einher, wie die feministische Ökonomin Mascha Mandörin bereits 2001 festgestellt hat.


Graubereiche

2011 wurde ein Gesetz in Slowenien verabschiedet, das Freiwilligenarbeit regelt. Dort ist Freiwilligenarbeit als eine auf freiwilliger Basis ausgeführte Arbeit definiert, von der keine Entlohnung erwartet wird und die einen positiven Beitrag für die Gemeinschaft leistet. Mit dem Gesetz sollen klare Grenzen gezogen werden, was Freiwillige machen dürfen und was nicht. Bezahlte Arbeitsstellen darf Freiwilligenarbeit laut diesem Gesetz nicht ersetzen. Es gibt jedoch Graubereiche.

"Wenn du als Krankenpfleger_in ausgebildet bist, darfst du nicht als Krankenpfleger_in freiwillig tätig sein. Es gibt aber Freiwillige in Krankenhäusern, die Patient_innen Essen geben. Das ist eigentlich eine Aufgabe angestellter Krankenpfleger_innen. Aber manchmal geht das besser mit motivierten Leuten wie Freiwilligen", erzählt Tjasa Arko. Dabei wird das Problem der fehlenden Motivation nicht gelöst, sondern es werden nur Symptome eines schlecht funktionierenden Systems bekämpft. Dauerhafte Lösungen für gesellschaftliche Probleme bringe Freiwilligenarbeit nicht, so Notz. Ob unbezahlte Freiwilligenarbeit in Slowenien systemerhaltend ist, lässt sich schwer beurteilen. Sie ist jedenfalls eine Tatsache, so Tjasa Arko: "Minister_innen wollen wissen, welchen Beitrag Freiwilligenarbeit für die Gesellschaft leistet, und diesen in Geld bemessen. Das ist nicht möglich. Wir könnten den Beitrag der Freiwilligenarbeit sichtbar machen, wenn alle Freiwilligen für eine Woche nichts arbeiten würden."


Webtipps:
www.filantropija.org
www.zukunfteuropa.at/eurotours
Gisela Notz: Vom bürgerlichen Liebesdienst zur "Freiwilligenarbeit" für alle:
http://www.zeitschrift-luxemburg.de/vom-buergerlichen-liebesdienst-zur-freiwilligenarbeit-fuer-alle
Study of Volunteering in the European Union Country Report Slovenia:
http://ec.europa.eu/citizenship/pdf/national_report_si_en.pdf

Zur Autorin: Aleksandra Kolodziejczyk lebt in Wien und interessiert sich für feministische Theorie und Praxis.

Dieser Artikel ist im Rahmen von eurotours 2016 entstanden, einem Projekt des österreichischen Bundespressedienstes, finanziert aus Bundesmitteln.

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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 138, 4/2016, S. 29 - 30
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 25. März 2017

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