Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → SOZIALES


FRAUEN/644: "Wir werden nie aufhören, zu träumen" - Frauendelegation der HDP (Wir Frauen)


WIR FRAUEN - Das feministische Blatt 3/2016

"Wir werden nie aufhören, zu träumen"
Die WIR FRAUEN im Gespräch mit Ayla Akat Ata und Besime Konca von der Frauendelegation der HDP

Von Isolde Aigner und Katharina Volk


Einen Monat nachdem das türkische Parlament mit 376 Stimmen von insgesamt 550 Abgeordneten am 20. Mai 2016 für die Aufhebung der Immunität von 50 Abgeordneten der HDP (Demokratische Partei der Völker) stimmte, reiste eine Frauendelegation der HDP nach Deutschland. Anlass war der Austausch über die Situation der Türkei und in Nord-Kurdistan, die türkischen Angriffe auf kurdische Städte wie Cizre, Diyabarkir oder anderen kurdischen Regionen. Ziel der Reise ist es, über die Lage von Frauen zu sprechen, ein Zeichen der internationalen Frauensolidarität zu setzen und Verbündete zu finden.

Die WIR FRAUEN traf sich Mitte Juni (also vor dem mutmaßlichen Putschversuch) in Düsseldorf mit Ayla Akat Ata und Besime Konca, die Teil der Delegation waren. Ayla Akat Ata ist im Vorstand des Kongresses der freien Frauen und Besime Konca ist Sprecherin der HDP-Frauenfraktion und HDP-Abgeordnete der kurdischen Stadt Srt. Die HDP umfasst insgesamt 23 weibliche Abgeordnete, die als eigene Frauen-Fraktion autonom organisiert sind. Sie treffen sich regelmäßig, setzen sich für die Rechte von Frauen ein, beraten Gesetzesvorlagen und zeigen immer wieder die patriarchalen Verhältnisse auf, insbesondere die zunehmende Gewalt an Frauen.


Über die aktuelle Situation von Frauen in der Türkei

Ayla Akat Ata und Besime Konca erklären, wie sich in der letzten Zeit unter der Regierung der AKP eine rückständige Geschlechterpolitik vollzieht. So gäbe es von Seiten der AKP die Forderung nach geschlechtergetrennten Schulen und Student_innenwohnheimen; Schülerinnen werden aufgefordert keine engen Hosen mehr zu tragen.

Seit der AKP-Regierung habe außerdem die Gewalt an Frauen massiv zugenommen. Von Seiten der AKP werde die statistische Erfassung der Gewalt an Frauen jedoch abgelehnt. Die Frauenorganisationen legen deshalb eigene Statistiken an. Aktuell werden ca. 25 Frauen im Monat in der Türkei getötet. Ayla Akat Ata und Besime Konca sprechen von einem Femizid mit dem Ziel den Willen von Frauen zu brechen. Sie kritisieren auch, dass so wenig Aufklärung über die Gewalt an Frauen gäbe, Frauen, die Gewalt erfahren haben, fühlten sich deshalb oft auf sich selbst zurückgeworfen.

Die zentralen Themen des Gespräches mit Ayla Akat Ata und Besime Konca waren sexualisierte Gewalt und die von Erdogan und der AKP propagierte konservative Familienpolitik in der Türkei. Die bestehenden männerbündischen Strukturen, gestützt durch Gesetze und mediale wie öffentliche Diskurse, rufen stets ein Klima der Einschüchterung hervor, mit dem Ziel, Frauen ihre Selbstbestimmung und ihre Rechte zu nehmen. Vergewaltigungen und sexuelle Belästigung nehmen zu, werden aber vom Establishment weitgehend tabuisiert. Durch feministische Proteste und Demonstrationen wird das Thema immer wieder auf die Agenda gesetzt. Ayla Akat Ata und Besime Konca berichten, dass Vergewaltigung von der AKP-Regierung jedoch als ein Vergehen an der Gesellschaft betrachtet werde und nicht als eine Gewalttat von Männern gegenüber Frauen. Komme es doch zu Anzeigen und einem gerichtlichen Verfahren, so wirke sich bereits "gutes Benehmen" der angeklagten Männer strafmildernd aus oder die Begründung, dass aus "Ehrenrettung" gemordet wurde. Ein Gesetz, dass die Vergewaltigung in der Ehe strafrechtlich verfolgt, gibt es nicht. Gewalt in der Familie wird von der AKP nicht geduldet, nicht aber zum Schutz von Frauen, sondern primär um die Familie zu als Institution der Reproduktion zu erhalten.

Der Schutz der Familie sei der AKP heilig, die setze alles daran, die "Keimzelle" des Staates zu schützen - auf Kosten der Situation von Frauen. Abtreibung wird nicht gut geheißen, ebenso wie Verhütung. Frauen, die keine Kinder gebären, werden als "halbe Frauen" bezeichnet. In die von Erdogan und der AKP verfolgte bevölkerungspolitische Argumentation mischen sich rassistische, nationalistische und patriarchale Positionen. So werden nicht alle Frauen gleichermaßen aufgefordert, Kinder zu bekommen. Es geht in erster Linie um türkische und muslimische Frauen, nicht um andere Nationalitäten, Ethnien und Religionen. Darin zeigt sich, wie die AKP die Familien- und Bevölkerungspolitik als Instrument der Unterdrückung von Frauen benutzt. Ihre Aufgabe ist es, für die Reproduktion der türkischen Bevölkerung Sorge zu tragen.


Internationale Frauensolidarität

Angesichts der aktuellen, prekären Situation von Frauen in der Türkei zeigen sich die Frauen kämpferisch. Ayla Akat Ata und Besime Konca betrachten sich als Teil der internationalen Frauenbewegung und holen sich aus dieser Kraft für ihre Kämpfe. Sie lassen sich die Hoffnung auf eine befreite Gesellschaft nicht nehmen, in der nicht nur Männer und Frauen in Frieden miteinander leben können, sondern auch Menschen unterschiedlicher ethnischer Herkunft und Religion.

Bei dem Kongress der freien Frauen handelt es sich um die Dachorganisation der Frauenbewegung in Kurdistan. Ziel der Dachorganisation ist es, eine Plattform für alle Frauen in der Türkei und in Kurdistan zu schaffen, innerhalb derer sie sich organisieren können. Sie ist selbstorganisiert, erhält keine staatliche Unterstützung und finanziert sich über Spenden und Mitgliedsbeiträge. Der Kongress der freien Frauen spricht für ca. 100.000 Frauen. Ihre politische Arbeit erledigen die Genossinnen unter Einsatz ihres Lebens, viele werden verhaftet und müssen ins Gefängnis.

*

Quelle:
Wir Frauen, 35. Jahrgang, Herbst 3/2016 Seite 20-21
Herausgeberin: Wir Frauen -
Verein zur Förderung von Frauenpublizistik e.V.
Rochusstraße 43, 40479 Düsseldorf,
info@wirfrauen.de
www.wirfrauen.de
 
Wir Frauen erscheint viermal jährlich.
Jahresbezugspreis:
Postvertriebsstück jährlich 16,- Euro
Förder-Abo jährlich 26,- Euro
Stückpreis/Einzelheft 3,30 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Oktober 2016

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang