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FRAUEN/614: Solidarität ist eine politische Haltung - Positionierungen zu Migration und Flucht (frauensolidarität)


frauensolidarität - Nr. 134, 4/15

Solidarität ist eine politische Haltung
Positionierungen zu Migration und Flucht

Von Elisa Ludwig


Vieles ist passiert in den letzten drei Jahrzehnten. Und vieles muss dringend besprochen werden. Deshalb veranstaltete der Verein LEFÖ zum 30-jährigen Bestehen am 22. Oktober eine Diskussionsrunde in Wien. Vor dem Hintergrund der eigenen Vereinsgeschichte wurden aktuelle Fragen zu Migrantinnen-, Frauen- bzw. Menschenrechten im Spannungsfeld von Flucht und Migration besprochen. Summa summarum wurden klare Perspektiven auf eine im Mainstream oft widersprüchlich - und teils menschenverachtend - geführte Debatte eröffnet.

"LEFÖ entstand 1985 in dem Bewusstsein, was es bedeutet, exiliert zu sein und als Frau in einer patriarchalen Gesellschaft zu leben", so Maria Cristina Boidi, Mitbegründerin von LEFÖ. 30 Jahre später stehen wir einer großen Flüchtlingsbewegung gegenüber und müssen mitansehen, wie sich die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union in ihrem politischen Unwillen selbst übertreffen. Seit Monaten kompensiert deshalb die Zivilgesellschaft die Fehlleistungen ihrer Regierungen: "Als neue soziale Akteur_in schafft die Zivilgesellschaft auf Basis ihrer solidarischen Haltung notwendige Unterstützungsstrukturen", so Boidi, "und es ist wichtig zu unterstreichen, dass es hier nicht um Barmherzigkeit geht, sondern um Rechte und Gerechtigkeit."

Um Migration von Frauen als zentrale Frage unserer Gesellschaft bewusst zu machen und Gewalt gegen Migrantinnen als strukturelles Problem aufzuzeigen, organisierten sich Mitte der 80er-Jahre lateinamerikanische Migrantinnen in Österreich im Verein LEFÖ. Dessen Ziel ist es, die Lebens- und Arbeitsbedingungen neu angekommener Frauen zu verbessern und ihre Partizipation am politischen Diskurs zu ermöglichen. Denn: "Solidarität ist eine politische Position", so Boidi.


Würdevoller Umgang mit Vertriebenen

Dudu Kücückgöl, Bundesvorständin der Muslimischen Jugend Österreich, betonte insbesondere die Heuchelei der derzeitigen Debatte: "Die Widersprüche des Flüchtlingsdiskurses sind eklatant. Auf der einen Seite gerieren wir uns als Hüter_innen der Menschenrechte, halten plötzlich Frauenrechte hoch und haben 'Angst' vor Gewalt und vor 'bösen Fremden'. Auf der anderen Seite aber gibt es rassistische Übergriffe, etwa auf Frauen mit Kopftuch oder auf Andere als 'nicht österreichisch' wahrgenommene Menschen. In Oberösterreich kommt keine einzige Frau in die Landesregierung. Und was die Menschenrechte betrifft, brauchen wir nur zum Mittelmeer schauen."

Sprache schafft Wirklichkeit, Gedankenwelten beeinflussen Lebenswelten. Die vielzitierte "Angst" vor den sogenannten Massen, als wären sie eine ungezähmte Naturgewalt, entmenschliche die Fliehenden und spalte die Gesellschaft, so Kücükgöl weiter. Sie plädiere deshalb für einen ehrlichen Blick in den Spiegel. Shams Asadi, Menschenrechtsbeauftragte der Stadt Wien, wies wiederholt auf die besonderen Anforderungen an die Stadt Wien hin: Frauen und Kindern Schutz zu bieten. Als Menschenrechtsstadt müsse Wien sich seiner Verantwortung gegenüber Newcomer_innen bewusst sein. Denn Migration passiere so oder so, ist sich Asadi sicher. Wichtige Schritte sind alle unbegleiteten minderjährigen Mädchen aus Traiskirchen in Wien aufzunehmen. Wichtig wäre weiters psychologisch besonders geschultes Personal - auch hinsichtlich Trauma. Es müsste noch viel passieren, um die Beziehung zwischen Ansässigen und neu Hinzuziehenden zu verbessern.


Krise des politischen Willens

Als Vizepräsidentin der Grünen des Europäischen Parlaments kritisierte Ulrike Lunacek den Begriff der "Flüchtlingskrise" und sprach von einer "Krise der Solidarität" und einer "Krise des politischen Willens". Dass es genug Geld gäbe, wüssten wir alle, das wahre Problem sei die mangelnde Bereitschaft der Mitgliedsstaaten, die bereits in der Vergangenheit evident wurde.

Lunacek berichtete von strukturellen Lösungsvorschlägen seitens der EU-Kommission, die schon lange zum Aufbau einer angemesseneren Migrations- und Flüchtlingspolitik dienlich gewesen wären. Die Umsetzung aber, so Lunacek, scheitere an der Zustimmung der Mitgliedsstaaten inklusive jener Österreichs. Jetzt die EU zur Alleinschuldigen zu machen verdrehe die Tatsachen. Lunacek forderte deshalb zu politischem Mut auf. Sie hält eine Abschaffung der Dublin Verordnung für ebenso notwendig wie die Schaffung sicherer Fluchtwege und Asylantragsmöglichkeiten bei den Botschaften, betrachtet hohe einheitliche Asylstandards für alle Mitgliedsstaaten sowie die Intensivierung von Integrations- und Inklusionsmaßnahmen als Voraussetzungen des gemeinsamen Gelingens der Flüchtlingspolitik. Schließlich bekräftigte Lunacek die Ansicht Boidis, die Flüchtlingsbewegung als politische Bewegung zu verstehen, die das wirtschaftspolitische Versagen der USA und der EU sichtbar mache. Zuletzt unterstrich Ruth Schöffl, zuständig für Öffentlichkeitsarbeit des UNHCR Österreich, die Statements der Vorrednerinnen mit offiziellen Zahlen und machte darauf aufmerksam, dass drei Nachbarländer Syriens vier Millionen Kriegsflüchtlinge unterbringen, "während das die reichen Länder der Region, etwa Saudi-Arabien oder die Emirate - als Verbündete des westlichen Kapitals - nicht tun", warf Boidi an dieser Stelle ein.

Schöffl setzte fort mit den 600.000 Geflohenen, die dieses Jahr in Europa angekommen seien, und zeigte auf, dass selbst eine Million Menschen bis Jahresende nur 0,2 % der europäischen Bevölkerung ausmache. "Nein, es gibt keine 'Flüchtlingskrise'", so Schöffl weiter: "sie erscheint aber als solche, weil sie schlecht gemanagt wird. Die mediale Bilderflut macht den Menschen zusätzlich Angst, und diese Angst ist valide." Schöffl präsentierte in diesem Kontext eine Studie des UNHCR, wonach vor allem jene Menschen diese "Angst" verspürten, die nie mit Migrant_innen in Kontakt gekommen sind. Daraus schlussfolgerte sie, dass es Begegnungsräume brauche, damit authentische Erfahrungen irrationale Ängste ersetzen könnten.


"Vertriebene Personen sind exilierte Personen"

Hier hakte Kücükgöl ein und erinnerte daran, dass im Sprechen über die Validität dieser viel beschworenen "Angst" oft rassistische Grundhaltungen mitschwingen würden: "Was ist mit der Angst der Migrant_innen und als 'anders' Wahrgenommenen - dass ihnen Gewalt angetan wird? Diese Angst steht nie zur Diskussion, hat keinen Wert. Denn es ist die Angst der 'Anderen' und 'Fremden' - einer gesichtslosen 'Masse'."

Daraufhin spannte Maria Cristina Boidi - als nach dem Putsch in den 70ern exilierte Argentinierin - einen Bogen und setzte die Realität der heutigen Flüchtlinge mit ihrer eigenen in Verbindung: "Vertriebene Personen sind exilierte Personen. Es ist unsere ethische Pflicht, sie als vollwertige Mitmenschen anzuerkennen. Insbesondere die sensible Situation von Frauen muss stärker fokussiert werden. Uns muss zudem auch klar sein: Der wahre Grund der Ankunft so vieler Schutzsuchender ist der globale Kapitalismus. Solange wir dieses System nicht ändern, steigt die Zahl der Fliehenden. Auch eine 'Festung Europa', ob mit oder ohne Zäune, wird daran nicht rütteln - ganz einfach, weil der Wunsch auf ein Leben in Frieden und Würde uns alle eint."


Zur Autorin:
Elisa Ludwig ist langjährige Mitarbeiterin von LEFÖ-IBF und wirkt zudem als Journalistin, Moderatorin und Vortragende. Sie lebt in Wien.

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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 134, 4/2015, S. 24-25
Medieninhaberin und Herausgeberin:
Frauensolidarität im C3 - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Februar 2016

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