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FRAUEN/422: Häusliche Gewalt gegen Palästinenserinnen - Soziale Not schürt Aggression (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 21. August 2012

Nahost: Häusliche Gewalt gegen Palästinenserinnen - Soziale Not schürt Aggression

von Jillian Kestler-D'Amours


Viele Palästinenserinnen sind häuslicher Gewalt ausgesetzt - Bild: © Jillian Kestler-D'Amours/IPS

Viele Palästinenserinnen sind häuslicher Gewalt ausgesetzt
Bild: © Jillian Kestler-D'Amours/IPS

Ramallah, Westjordanland, 21. August (IPS) - Seit der brutalen Ermordung einer Palästinenserin auf einem gut besuchten Markt in Bethlehem Ende Juli fordern Menschenrechtsgruppen entschiedene Reformen, die Frauen im Westjordanland und im Gaza-Streifen vor Gewalt schützen sollen.

"Mit den bestehenden Gesetzen haben wir ein Problem", erklärt Maysoun Ramadan. Sie leitet das 'Mehwar Centre', das einzige Frauenhaus im Westjordanland. "Es muss auch mehr dafür getan werden, die Bevölkerung für die Rechte von Frauen zu sensibilisieren. Die Mentalität und die Kultur erschweren dies jedoch."

Das Mordopfer war die 27-jährige Nancy Zaboun, die drei Kinder zurücklässt. Ihr Ehemann brachte sie um, weil sie sich von ihm scheiden lassen wollte. Im Laufe der zehnjährigen Ehe soll er sie regelmäßig geschlagen haben.

Am 18. Juli war die Leiche einer weiteren Frau in das Shifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt gebracht worden. Die Polizei nahm im Zusammenhang mit der Tat zwei Verwandte des Opfers fest, die eines Ehrenmords verdächtig erscheinen.

2010 hatte die unabhängige Menschenrechtskommission bereits die Fälle von neun Frauen dokumentiert, die aus ähnlichen Gründen in den Palästinensergebieten ermordet worden waren.


Großteil der Frauen erleidet Gewalt

Aus einer 2009 veröffentlichten Studie des in Gaza ansässigen Palästinensischen Fraueninformations- und -medienzentrums geht außerdem hervor, dass 67 Prozent aller Palästinenserinnen nach eigenen Angaben regelmäßig Opfer verbaler Gewalt werden. 71 Prozent berichteten von psychischer Gewalt, mehr als 52 Prozent von körperlicher Gewalt und 14,5 Prozent von sexuellen Übergriffen.

"Wenn Frauen in das Frauenhaus kommen, haben sie mehrere Jahre lang unterschiedliche Formen von Gewalt ertragen", berichtet Ramadan. "Sie haben ihr Selbstvertrauen verloren. Manchmal sind sie aggressiv, haben Selbstmordgedanken oder leiden an Depressionen und Albträumen." Das Zentrum versuche, ihnen den Glauben an ihre eigenen Fähigkeiten wiederzugeben, damit sie den Teufelskreis durchbrechen könnten.

Im Januar 2011 hatte die Palästinensische Autonomiebehörde eine nationale Strategie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen für den Zeitraum 2011 bis 2019 verabschiedet. Vorgesehen ist, Frauen beruflich auszubilden, soziale Unterstützung zu leisten und Pläne für einen gesetzlichen Rahmen zur Eindämmung der Gewalt voranzutreiben.

"Unser Ziel ist es, alle Formen der Gewalt gegen palästinensische Frauen zu beseitigen", sagt die Frauenministerin Rahiba Diab. Die Autonomiebehörde setze sich ernsthaft für alle Frauenfragen ein. Man dürfe dabei nicht die Gewalt vergessen, die von einer politischen Lage herrühre, mit der alle Palästinenser leben müssten.

Im Mai 2011 hatte Präsident Mahmud Abbas per Dekret zwei Gesetzesartikel außer Kraft gesetzt: Artikel 340 des jordanischen Strafgesetzbuches von 1960, das im Westjordanland gilt, sicherte Männern Straffreiheit oder Strafminderung in Fällen zu, in denen sie ihre Frauen oder weiblichen Angehörigen umbrachten, die sie beim Ehebruch ertappten. Artikel 18 des britischen Mandatsrechts von 1936, das nach wie vor im Gaza-Streifen in Kraft ist, sah dort ebenfalls mildernde Umstände für Männer vor, die nachweisen konnten, dass sie ihre Ehre oder die anderer geschützt hatten.

Mehrere Menschenrechtsorganisationen halten der Palästinenserführung allerdings vor, andere Gesetze unangetastet gelassen zu haben, die Gewalt gegen Frauen nicht ahnden. Mehrere Artikel des jordanischen Strafgesetzbuches schützen bei 'Ehrenmorden' die Täter. So kann ein Mann der Strafe entgehen, wenn er beweisen kann, dass er im Affekt gehandelt hat.

"Das geltende Recht gestattet es weiterhin, dass Frauen getötet werden dürfen und die Täter straffrei ausgehen", kritisiert Tahseen Elayyan, die Vorsitzende eines Projekt zum Schutz von Frauen in bewaffneten Konflikten, das von der Menschenrechtsorganisation 'Al Haq' in Ramallah durchgeführt wird. Damit Frauen insbesondere vor Ehrenmorden bewahrt werden könnten, müsse das Gesetz geändert werden, fordert sie.


Armut und Arbeitslosigkeit sind Auslöser

Laut einem im vergangenen Dezember veröffentlichten Bericht des Wirtschafts- und Sozialrats der Vereinten Nationen (ECOSOC) haben in den Palästinensergebieten "hohe Armutsraten, Arbeitslosigkeit und die damit verbundenen Frustrationen zu einem Anstieg der Spannungen und damit auch der Gewalt in den Familien geführt".

Besonders kritisch ist die Lage im Gazastreifen, wo die harten wirtschaftlichen und sozialen Umstände durch die israelische Besatzung verstärkt Gewalt gegen Frauen ausgelöst haben, wie Mona Shawa vom Palästinensischen Zentrum für Menschenrechte (PCHR) in Gaza-Stadt erklärt.

"Gaza ist unter Verschluss. Die wirtschaftliche Lage ist sehr schlecht, Armut und Arbeitslosigkeit sind weit verbreitet", sagt sie. Diese Faktoren und die häufigen israelischen Angriffe heizten die Gewalt gegen Frauen weiter an. (Ende/IPS/ck/2012)


Links:

http://www.masader.ps/p/en/node/2590
http://www.pchrgaza.org/portal/en/
http://www.ipsnews.net/2012/08/in-peace-palestinian-women-under-attack/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 21. August 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. August 2012