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FRAUEN/364: Haiti - Prostitution aus Armut, viele Frauen warten nach Erdbeben vergeblich auf Hilfe (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 16. Januar 2012

Haiti: Prostitution aus Armut - Viele Frauen warten nach Erdbeben vergeblich auf Hilfe

von Kanya D'Almeida


New York, 16. Januar (IPS) - Die 18-jährige Kettlyne lebt in Croix Deprez, einem der zahlreichen Lager für Erdbebenopfer in Haiti. Die junge Frau, die keine Eltern mehr hat, kann sich und ihre dreijährige Tochter nur mit Hilfe von Essensresten ernähren, die sie sich durch Prostitution 'erarbeitet'.

Kettlyne ist eine von mehreren Hundert Frauen, die im Rahmen einer internationalen Studie zu ihren Lebensumständen seit dem Beben 2010 befragt worden sind. Die gemeinsame Untersuchung, an der unter anderem die Organisationen 'Madre', 'International Women's Human Rights' (IWHR), 'Global Justice Clinic' (GJC) und 'Center for Gender and Refugee Studies (GGRS) beteiligt waren, wurde am 12. Januar veröffentlicht.

Genau zwei Jahre nach der Katastrophe dokumentiert der Bericht, dass die Krise vor allem für haitianische Frauen und Mädchen noch längst nicht überwunden ist. Mehr als eine Million Menschen in dem Karibikstaat wurden durch das Beben obdachlos. Die meisten von ihnen campieren seitdem in behelfsmäßigen Unterkünften. Die große Not hat das Klima der Gesetzlosigkeit weiter verschärft.


Massenvergewaltigungen in Flüchtlingslagern

Zahlreiche Frauen wurden nach dem Erdbeben in den Lagern vergewaltigt. Wie Menschenrechtsaktivisten berichten, war das Martyrium damit noch längst nicht beendet. "Vertriebene Frauen und Mädchen sehen sich durch die Umstände zur Prostitution gezwungen", sagte Marie Eramithe Delva, die Mitbegründerin der Kommission weiblicher Opfer für Frauen (KOFAVIV). "Diese Epidemie wird von der haitianischen Regierung und der Staatengemeinschaft bisher kaum beachtet."

Allein in der Hauptstadt Port-au-Prince und ihrer Umgebung hausen etwa 300.000 Frauen und Mädchen nach wie vor in Zelten. Dort, wo alle sozialen Strukturen zusammengebrochen sind - Familien, Wohnungen, Schulen und medizinische Einrichtungen -, herrschen extreme Armut, Hoffnungslosigkeit und Hunger.

"Wenn sich internationale Organisationen zurückziehen, verschwinden mit ihnen auch die Dienstleistungen, die nach dem Beben vorübergehend zur Verfügung standen", sagte Lisa Davis von der Menschenrechtsorganisation 'Madre'. "Bereits 13-Jährige prostituieren sich für den Gegenwert eines halben Sandwiches."

Von diesen Frauen sehe sich niemand als professionelle Hure, stellten die Autorinnen des Reports fest. Sie hatten Frauen zwischen 18 und 32 Jahren in dem Flüchtlingslagern Champ de Mars, Christ Roi und Croix Deprez sowie in dem Viertel Carrefour interviewt. Die Haitianerinnen versuchten nur, unter extremen Bedingungen mit ihrem Leben zurechtzukommen.

In meisten Fällen lassen sich die Frauen mit Männern ein, die in den Camps Machtpositionen innehaben. Sie verwalten die Gelder, die für Arbeitsprogramme bereitgestellt wurden, oder kontrollieren die Essensausgabe und die Bildungsprogramme.

Die verbreitete Prostitution birgt auch hohe gesundheitliche Risiken. Davis geht davon aus, dass sich viele Frauen mit dem HI-Virus oder mit Geschlechtskrankheiten anstecken. Haiti weist bereits eine der höchsten AIDS-Raten auf.

Laut dem Bericht des UN-Kinderhilfswerks UNICEF für 2012 lag das Bildungswesen in Haiti schon vor dem Beben in Trümmern. Die Erdstöße zerstörten aber zudem rund 4.000 Schulen. Etwa 2,5 Millionen Kinder und Jugendliche - mehr als die Hälfte der vier Millionen Haitianer unter 18 Jahren - haben seitdem keine Chance mehr, etwas zu lernen.


Schwangere werden nicht ausreichend betreut

Die unzureichende ärztliche Versorgung hat zu einer weiteren Verschlimmerung der Situation geführt. Im vergangenen Jahr veröffentlichte die Organisation 'Human Rights Watch' die Ergebnisse von Befragungen, denen zufolge nur wenige Schwangere medizinisch versorgt werden. Alle 128 befragten Frauen gaben an, dass sie ihre Kinder im Krankenhaus zur Welt bringen wollten. Mehr als die Hälfte musste aber ohne ärztliche Betreuung entbinden. Viele Säuglinge wurden auf Lehmböden in Zelten oder auf der Straße geboren.

Ohne medizinische Aufsicht werden auch zahlreiche illegale Abtreibungen vorgenommen. Die Mütter- und Kindersterblichkeit ist rapide gestiegen. Etwa 3.000 Frauen sterben jährlich an Komplikationen im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt. Experten befürchten, dass sich die Lage weiter verschlechtert.

Beobachter halten nicht die unmittelbaren Folgen der Krise, sondern die längerfristigen Entwicklungen für das hauptsächliche Problem. Sie machen die vielfach von westlichen Staaten auferlegten Strukturanpassungsprogramme und fehlgeleitete ausländische Hilfszahlungen für die wirtschaftliche Rückständigkeit des Landes verantwortlich. An der Verfassung wird kritisiert, dass sie Frauen gegenüber Männern benachteiligt.


Frauen in Haiti rechtlich diskriminiert

"Wir werden nur selten an Entscheidungsprozessen beteiligt", klagte Malya Villard-Appolon, eine der Gründerinnen von KOFAVIC. Die Behörden, denen Ressourcen zur Verfügung stünden, erführen nicht auf direktem Weg von den Frauen, die sexuelle Gewalt erlitten und sich prostituieren müssten. In der Regierung seien zudem nur drei von 17 Ministern weiblich. Villard-Appolon forderte eine umfassendere Ausbildung von Mädchen, die oft zu Hause bleiben müssten, während ihre Brüder zur Schule gingen.

"Mit Sex, der nur dem Überleben dient, wird es erst dann vorbei sein, wenn Frauen und Mädchen alles Nötige zum Leben haben", sagte die Juristin Margaret Satterthwaite, die für GJC tätig ist. "Die internationale Gemeinschaft sollte eng mit der haitianischen Regierung zusammenarbeiten, um Jobs zu schaffen, Frauen Mikrokredite zu geben und für kostenlose Bildung für alle zu sorgen." (Ende/IPS/ck/2012)


Links:
http://www.madre.org/index/press-room-4/news/sexual-exploitation-in-post-earthquake-haiti-739.html
http://www.unicef.org/media/files/2yearsReport.pdf
http://www.hrw.org/sites/default/files/reports/haiti0811webwcover.pdf
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=106430

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IPS-Tagesdienst vom 16. Januar 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Januar 2012