Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → SOZIALES

FRAUEN/341: Internationaler Kongress "Mädchenrechte stärken - weltweit" in Berlin (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 1. November 2011

Frauen: 'Unser Leben ist verpfuscht, retten wir das unserer Kinder'

von Karina Böckmann


Berlin, 1. Oktober (IPS) - In Sierra Leone wird sie von vielen als Abtrünnige betrachtet: als Frau, die Verrat an den Traditionen ihres Landes begeht. Rugiatu Turay, die Gründerin und Leiterin der 'Amazonian Initiative Movement' (AIM), hat dem in ihrer Heimat tief verwurzelten Initialisationsritual der weiblichen Genitalverstümmelung (FGM) den Kampf angesagt.

Wie Turay auf einem internationalen Kongress zum Thema 'Mädchenrechte stärken - weltweit' berichtete, sind 98 Prozent aller Frauen und Mädchen ihres Landes beschnitten. Fast alle Volksgruppen des westafrikanischen Staates praktizieren die Praktik, die die Aufnahme eines Mädchens in den Kreis der Erwachsenen versinnbildlicht.

In Sierra Leone werden im Zuge einer Beschneidung Klitoris und kleine Schamlippen teilweise oder völlig entfernt. Der meist mit unsterilen Glasscherben, Rasierklingen und anderen scharfen Gegenständen ohne Narkose durchgeführte Eingriff ist nicht nur extrem schmerzhaft, sondern gefährlich. Den Betroffenen drohen Infektionen wie Hepatitis, Wundstarrkrampf und HIV/Aids und Blutungen, an denen viele sterben.

"Wenn Traditionen zum Tod führen, muss man sie abschaffen", sagte der Senegalese Abdou Karim Sané, Gründer des Vereins 'Freundeskreis Tambacounda' mit Sitz in Hannover. Dem Aktivisten zufolge gilt es auch die Männer für das Menschenrechtsthema Beschneidung zu interessieren, das auch in Deutschland relevant ist.

Die deutsche Frauenorganisation 'Terre des Femmes' schätzt, dass 5.000 in der Bundesrepublik lebende Mädchen Gefahr laufen, hierzulande oder im Herkunftsland der Eltern beschnitten zu werden. Wie Virginia Wangare-Greiner, Geschäftsführerin des Vereins 'Maisha - Afrikanische Frauen in Deutschland' berichtete, gibt es in Deutschland Ärzte, die den Eingriff durchführen - trotz der Gefahr, wegen schwerer Körperverletzung belangt zu werden.


Jährlich drei Millionen Beschneidungen

Aktuellen Zahlen des Weltkinderhilfswerks UNICEF zufolge sind weltweit 150 Millionen Frauen und Mädchen beschnitten. Jedes Jahr kommen etwa drei Millionen hinzu. Sie alle sind nach Erkenntnissen von Ärzten und Frauenorganisationen ihr Leben lang gezeichnet. Zu den Spätfolgen gehören Menstruationsbeschwerden, Probleme beim Wasserlassen, Harnwegs- und Unterleibsentzündungen, die zur Unfruchtbarkeit führen können und Komplikationen bei Geburten mit einem erhöhten Todesrisiko für Mutter und Kind.

Für die AIM-Chefin Turay ist FGM ein von Männern an Frauen begangenes Verbrechen, um Sexualität, Körper und Seele von Frauen zu kontrollieren. In ihrem Land seien es vor allem die Geheimgesellschaften, die an einer Aufrechterhaltung der Praktik Interesse hätten. Auch wies sie in diesem Zusammenhang auf den Aspekt des Kannibalismus hin. Sie berichtete von Fällen, in denen die Mädchen und Frauen entfernten Genitalien getrocknet und verzehrt werden.

Turay und ihre vor acht Jahren gegründete Organisation haben mit Aufklärungskampagnen erreicht, dass viele Mädchen in Sierra Leone inzwischen über die möglichen Folgen eines solchen Eingriffs Bescheid wissen sowie immer mehr Beschneiderinnen ihr Handwerk aufgeben und zu Mitstreiterinnen gegen die weibliche Genitalverstümmelung werden. Um diesen Frauen eine neue Einkommensquelle zu erschließen, führt AIM Alphabetisierungs- und Landwirtschaftskurse durch und überlässt den Frauen Vieh für den Aufbau einer neuen Existenz.


"Risiken eingehen, wenn wir das Leben anderer retten wollen"

Dass Turay mit ihren Aktivitäten in ihrem Land einen Tabubruch begeht, hat Folgen. Wie sie in Berlin berichtete, wird sie beschimpft, bedroht und bisweilen auch tätlich angegriffen. Warum sie dennoch gegen so große Windmühlenflügel kämpfe, wurde sie gefragt. "Wir müssen Risiken eingehen, wenn wir das Leben anderer retten wollen", sagte sie.

"Unser Leben ist bereits verpfuscht, retten wir das unserer Kinder." Diesen Appell richtete Rakieta Sawadogo-Poyga, eine Aktivistin aus Burkina Faso, an die Teilnehmer des Berliner Kongresses am 29. Oktober, zu dem Terre des Femmes aus Anlass ihres 30-jährigen Bestehens geladen hatte.

In Burkina Faso sind nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mehr als vier Millionen beziehungsweise über 70 Prozent der Frauen und Mädchen von Beschneidungen betroffen. In diesem westafrikanischen Land, in dem die Praktik die Entfernung der Klitoris und Teile der kleinen Schamlippen beinhaltet, tritt die Regierung zwar entschieden gegen die Genitalverstümmelung ein. Doch fehlten Kampagnen, um die Botschaft in die Dörfer zu tragen, erläuterte Sawadogo-Poyga.

Die Wirtschaftswissenschaftlerin und ihr Verein 'Bangr Nooma' ('Es gibt nichts Besseres als Wissen') setzen auf Aufklärung und viel Geduld. "Die meisten Männer in den Dörfern kennen den Unterschied zwischen einer beschnittenen und unbeschnittenen Frau nicht", erläuterte sie. Die Menschen müssten in langwierigen Gesprächen auf die Gefahren einer Beschneidung für ihre Frauen und Töchter hingewiesen und von der Notwendigkeit überzeugt werden, von FGM abzulassen. Zudem müssten die Menschen von dem Irrglauben abgebracht werden, der Kontakt mit der weiblichen Klitoris bringe Unheil.

Sawadogo-Poyga und ihre Organisation konnten in ihrer 13-jährigen Tätigkeit mit ihren langjährigen Kampagnen Komitees gegen FGM in 760 Dorfgemeinschaften aufbauen, in denen Frauen nun nicht mehr beschnitten werden.

"Dort wo es gelingt, nicht den Mythos der Beschneidung, sondern ihre medizinischen Folgen in den Mittelpunkt zu rücken, sind die größten Fortschritte bei der Eindämmung des Rituals zu beobachten", sagte Bundespräsident Christian Wulff bei der Eröffnung des Terre des Femmes-Kongresses. Das Wissen um die großen gesundheitlichen Risiken der Beschneidung bewege viele Eltern zur Abkehr. Er bedauerte, dass es täglich noch immer zu 8.000 Beschneidungen komme. "Jede ist eine zuviel".


"Bildung, Bildung Bildung"

Die Frage, wie sich FGM verhindern lasset, beantwortete die UN-Sonderberichterstatterin für Gewalt gegen Frauen, Rashida Manjoo, auf der Konferenz mit "Bildung, Bildung, Bildung." In ihrer Eröffnungsrede schilderte sie die vielen Gefahren und Formen von Gewalt, die Frauen vom Zeitpunkt ihrer Zeugung an - von der Abtreibung weiblicher Föten, über sexuellen Missbrauch, Kinderheirat und Entführung bis zu Frauenhandel und Ehrenmorden - ausgesetzt sind und die sich wie ein roter Faden durch ihr Leben zieht.

Manjoo erläuterte auch die politischen, rechtlichen, sozialen, religiösen und anderen Schwierigkeiten, die Situation von Mädchen und Frauen trotz einer Vielzahl existierender Schutzgesetze und internationaler Abkommen wie die Allgemeine Menschenrechtscharta, die UN-Kinderrechtskonvention und die 30-jährige Übereinkunft zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) zu verbessern.

Doch zumindest an der Beschneidungsfront rechnen sich Frauenaktivisten gute Chancen aus, den Sieg davonzutragen. "Diesen Kampf werden wir gewinnen", sagte Irmingard Schewe-Gerigk, die Vorsitzende von Terre des Femmes. "Mit Frauensolidarität können wir Berge versetzen", so auch Rakieta Sawadogo-Poyga. "Zusammen mit Terre de Femmes werden wir die Berge zerschmettern." (Ende/IPS/kb/2011)


Link:
http://frauenrechte.de/online/index.php
http://frauenrechte.de/online/index.php/themen/kongress.html

© IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH


*


Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 1. November 2011
IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
vormals IPS-Inter Press Service Europa gGmbH
Marienstr. 19/20, 10117 Berlin
Telefon: 030 28 482 361, Fax: 030 28 482 369
E-Mail: redaktion@ipsnews.de
Internet: www.ipsnews.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. November 2011