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ARMUT/174: Wie Deutschland und die USA ihre Bürger vor Verarmung schützen (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 135/März 2012
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Politik der Absicherung

Wie Deutschland und die USA ihre Bürger vor Verarmung schützen

von Ulrich Kohler und Martin Ehlert



Der deutsche und der amerikanische Wohlfahrtsstaat unterscheiden sich deutlich in ihren Strategien zur Vermeidung von Armut nach kritischen Lebensereignissen. Die tatsächlichen Auswirkungen solcher einschneidenden Ereignisse in diesen beiden Systemen hängen von der Art des Ereignisses ab. Zudem haben sich diese Auswirkungen über die Zeit verändert. Arbeitslosigkeit führt in beiden Ländern eher zu Armut als Familientrennung oder Eintritt in den Ruhestand. In den USA wird das Verarmungsrisiko jedoch deutlich stärker von der Konjunktur beeinflusst als in Deutschland.

Alle modernen Wohlfahrtsstaaten haben ein Minimalziel gemein: Sie wollen verhindern, dass Menschen aufgrund einschneidender Ereignisse verarmen - etwa einer Trennung in der Familie, Arbeitslosigkeit oder Eintritt in den Ruhestand. Die Sozialwissenschaft fasst solche Krisen unter dem Begriff "kritische Lebensereignisse" zusammen. Vergleicht man aber die Strategien, mit denen die verschiedenen Wohlfahrtsstaaten dieses Minimalziel erreichen wollen, könnten diese unterschiedlicher kaum sein. Zwei Beispiele dafür sind der liberale und der konservative Wohlfahrtsstaat.

Der liberale Wohlfahrtsstaat setzt auf Eigeninitiative. Dabei wird bewusst in Kauf genommen, dass kritische Lebensereignisse kurzfristig zu starken Einkommenseinbußen führen können. Gerade diese Einkommenseinbußen gelten im liberalen Wohlfahrtsstaat als Anreiz zur Eigeninitiative. Man geht davon aus, dass die Betroffenen wegen der empfindlichen Verluste Mittel und Wege finden, sich selbst aus ihrer prekären Situation zu befreien. So etwa, wenn Menschen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben, für eine neue Chance sogar weite Anfahrtswege oder niederwertige Jobangebote akzeptieren. Direkte wohlfahrtsstaatliche Leistungen werden nur für kurze Zeit und in geringem Ausmaß bereitgestellt. Die einzige Ausnahme gilt für Gruppen, denen eigene Anstrengungen schlechterdings nicht zugemutet werden können.

Der konservative Wohlfahrtsstaat hingegen setzt auf Statuserhalt. Starke Einkommenseinbußen nach kritischen Lebensereignissen sollen weitgehend vermieden werden. Die Betroffenen sollen so die Möglichkeit haben, ihre Lebenssituation in Ruhe und ohne weitere Verluste neu zu ordnen. Nach einem Arbeitsplatzverlust beispielsweise werden Einkommensverluste durch staatliche Versicherungssysteme über einen längeren Zeitraum ausgeglichen. Dadurch können die Betroffenen Jobangebote, die mit Nachteilen gegenüber ihrer vorherigen Situation verbunden sind, eher zurückweisen.

Die liberale Strategie zur Bekämpfung von ökonomischen Notlagen durch kritische Lebensereignisse müsste, wenn sie erfolgreich wäre, nach starken Einkommensverlusten infolge kritischer Lebensereignisse dazu führen, dass diese schnell wieder ausgeglichen werden. Diesen idealtypischen Verlauf der Einkommensentwicklung nach einem kritischen Lebensereignis bezeichnen wir als den "Traum der liberalen Sozialpolitik". Gewissermaßen als Albtraum stellen wir dem einen Verlauf gegenüber, in dem die Einkommensverluste zwar ebenfalls stark sind, dann aber länger anhalten, zum Beispiel weil die Eigeninitiative ausbleibt oder erfolglos ist. Umgekehrt würde es dem "Traum der konservativen Sozialpolitik" entsprechen, wenn Einkommensverluste nach kritischen Lebensereignissen zunächst geringer ausfallen als im liberalen System, mittelfristig aber ausgeglichen werden. Der Albtraum wäre es, wenn dieses System die Eigeninitiative untergraben würde. In diesem Fall würden die Betroffenen lange im Leistungsbezug verharren, so dass sie zwar kurzfristig geringere Verluste erleiden, aber sich langfristig nicht erholen.

Inwiefern treten die gerade skizzierten idealtypischen Einkommensverläufe nach kritischen Lebensereignissen tatsächlich ein? Diese Frage untersuchen Mitarbeiter der Abteilung Ungleichheit und soziale Integration am WZB in einem Artikel, der in der "Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie" erscheinen wird. Die Studie vergleicht die USA als Beispiel für den liberalen und Deutschland als Beispiel für den konservativen Wohlfahrtsstaat. Die Frage ist, ob die jeweiligen wohlfahrtsstaatlichen Regelungen den gewünschten Effekt auf die Einkommensverläufe ihrer Bürger haben oder nicht. Anhand von Daten aus den beiden Ländern haben wir ermittelt, ob Menschen, die bislang gut vor Armut geschützt waren, durch die kritischen Lebensereignisse Arbeitsplatzverlust, Verrentung und Familientrennung arm werden. Armut wurde dabei mit Hilfe des Nettohaushaltseinkommens bestimmt - wobei die Haushaltsgröße berücksichtigt wird. Als arm gilt nach der gängigen Definition, wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens ("Medianeinkommen") zur Verfügung hat. Wir wollten wissen, wie viele derer, die drei Jahre hintereinander nicht arm waren, durch eines dieser Lebensereignisse arm wurden. Im Unterschied zu vergleichbaren Studien wurde dabei auch untersucht, wie sich die Folgen der genannten Ereignisse im Verlauf der letzten 30 Jahre verändert haben.

Der Zeitvergleich ist wichtig, weil nicht davon auszugehen ist, dass die wirtschaftlichen Folgen von Lebensereignissen über lange Zeiträume die gleichen sind. Das liegt zunächst ganz einfach daran, dass sich die Wohlfahrtsstaaten ständig ändern. Tatsächlich zeigt die Studie, dass in den letzten 30 Jahren praktisch jedes Jahr mindestens ein sozialpolitisches Reformgesetz verabschiedet wurde. Zweitens ändern sich die makroökonomischen Bedingungen. Insbesondere der liberale Wohlfahrtsstaat vertraut auf die Marktkräfte bei der Bewältigung von Notlagen. Es liegt daher nahe anzunehmen, dass das Ausmaß der Einkommensverluste nach kritischen Lebensereignissen auch marktabhängig ist.

Hinsichtlich des Vergleichs zwischen Deutschland und den USA kommt die Studie zu folgenden Ergebnissen: Die wirtschaftlichen Folgen sind am stärksten beim Arbeitsplatzverlust, gefolgt von der Verrentung. Die schwächsten Auswirkungen haben der Studie zufolge Familientrennungen. Beim Arbeitsplatzverlust steigt das Armutsrisiko in den USA zunächst stark an und sinkt danach wieder ab. In Deutschland dagegen steigt das Armutsrisiko zunächst etwas schwächer, nimmt dann allerdings sogar noch etwas stärker zu. Dieses Muster entspricht tendenziell dem oben skizzierten liberalen Traum und dem konservativen Albtraum. Bei der Verrentung weichen die amerikanischen Daten am stärksten vom liberalen Traum ab. Das Armutsrisiko ist hier zwar im Ereignisjahr wie erwartet in den USA deutlich größer als in Deutschland, sinkt aber in der Folge nicht ab, sondern steigt sogar etwas an. Schließlich die Familientrennung: Hier findet sich in den USA wieder ein Verlauf zunächst starker, dann abnehmender Einkommensverluste, doch sind die ursprünglichen Verluste nun so stark, dass selbst im dritten Jahr nach dem Ereignis die US-Bürger immer noch häufiger arm sind als Deutsche direkt nach der Trennung. Zwar mag der liberale Wohlfahrtsstaat Anreize zur Eigeninitiative setzen, doch reicht dies nicht aus, um Armut in ähnlichem Umfang wie in Deutschland zu vermeiden.

Der Zeitvergleich ergab, dass in beiden Ländern die Folgen des Arbeitsplatzverlustes seit den 1980er Jahren einschneidender geworden sind. Dies zeigt sich in Deutschland aber nur schwach, in den USA dagegen sprunghaft etwa vom Jahr 2000 an. Dieser Vergleich führt zu einer Verfeinerung der Diagnose über die Träume und Albträume der Sozialpolitik: Wenn in Deutschland die Armut nach Arbeitsplatzverlust schon in Zeiten leicht anstieg, als der Wohlfahrtsstaat noch gleichbleibende Leistungen gewährte, legt dies nahe, dass nicht mangelnde Anreize (wie im Albtraumszenario), sondern die schlechte Situation auf dem Arbeitsmarkt zu dieser Entwicklung führte. Ähnliches gilt in den USA, wo die Armut nach Arbeitslosigkeit in Zeiten wirtschaftlicher Rezession rapide ansteigt. Im liberalen Wohlfahrtsstaat gelingt die Absicherung kritischer Lebensereignisse also nur in Phasen günstiger Konjunktur.

Die Folgen von Verrentung haben sich in Deutschland und den USA gegenläufig entwickelt: In Deutschland wurde das Armutsrisiko etwas geringer, während es in den USA stark schwankt und sich spätestens seit Mitte der 1990er Jahre deutlich erhöht hat. Der Effekt in den USA kann mit der stärkeren Einbindung von privaten Vorsorgeformen erklärt werden, durch die das Einkommen nach der Verrentung stärker den Marktschwankungen ausgesetzt ist. Hinsichtlich der zeitlichen Entwicklung des Armutsrisikos durch Familientrennung zeigt sich kein systematischer Trend, wohl aber wiederum stärkere Schwankungen in der amerikanischen Zeitreihe.

Wie gut schützt der moderne Wohlfahrtsstaat Menschen, die von kritischen Lebensereignissen betroffen sind, vor Armut, und welche Ereignisse sind mit einem besonders starken Armutsrisiko verknüpft? Diese Fragen beantwortet die Studie wie folgt: Einen vollständigen Schutz vor Armut gibt es weder in Deutschland noch in den USA. Zumindest der Arbeitsplatzverlust und die Verrentung sind mit einem erheblichen Anstieg des Armutsrisikos für zuvor ökonomisch stabile Gruppen verknüpft; dasselbe gilt zudem für Familientrennungen in den USA. Zweitens: Die Armut ist dauerhaft. Zwar zeigt sich in den USA eine gewisse Tendenz dahin, dass die von den Ereignissen betroffenen Personen nach einigen Jahren wieder der Armut entkommen, doch bleibt die wirtschaftliche Situation auch drei Jahre nach dem Ereignis schlechter, als wenn es das Ereignis nicht gegeben hätte.

Welches der beiden Länder, Deutschland oder die USA, schützt seine Bürger nun besser vor Armut? Diese Frage lässt sich nicht generell beantworten. Hinsichtlich des Arbeitsplatzverlustes waren es im Schnitt über die letzten 30 Jahre wohl die USA, bei den beiden anderen Ereignissen dagegen eher Deutschland. Allerdings war der Absicherungsgrad in den USA starken Schwankungen ausgesetzt, viel stärkeren als in Deutschland. Bei allen drei Lebensereignissen gab es Phasen, in denen Amerikaner besser oder zumindest gleich gut vor Armut geschützt waren wie Deutsche. Zu anderen Zeiten waren Amerikaner schlechter oder sogar viel schlechter abgesichert. Diese Phasen scheinen dabei weniger mit wohlfahrtsstaatlichen Reformen als durch ein komplexes Zusammenspiel konjunktureller und anderer historischer Bedingungen erklärbar zu sein. Ein Verdienst des deutschen Wohlfahrtsstaates ist es, seine Bürger von den Unwägbarkeiten konjunktureller Bedingungen, unter denen ihnen ein kritisches Lebensereignis widerfährt, stärker entkoppelt zu haben als der amerikanische Wohlfahrtsstaat.


Martin Ehlert studierte Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin, in Osnabrück und Örebro (Schweden). Seit April 2009 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Ungleichheit und soziale Integration. Er forscht über die finanziellen Folgen von Arbeitsplatzverlusten im deutsch-amerikanischen Vergleich.
ehlert@wzb.eu

Ulrich Kohler ist seit 2003 wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Ungleichheit und soziale Integration, deren Geschäftsführung er im Herbst 2011 übernommen hat. Der in Mannheim promovierte Soziologe leitet seit April 2009 das DFG-Projekt "Die wirtschaftlichen Folgen zentraler Lebensrisiken in Deutschland und den USA und ihre Entwicklung seit den achtziger Jahren".
kohler@wzb.eu

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 135, März 2012, Seite 46-48
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Mai 2012