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ARMUT/155: Materielle Benachteiligung von Kindern variiert stark - je nach Berechnungsart (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 130/Dezember 2010
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Armut als Konstruktion
Materielle Benachteiligung von Kindern variiert stark - je nach Berechnungsart

Von Steffen Kohl


Die Bedeutung von Kindern und deren Wohlergehen für die Zukunft von Gesellschaften findet allerorten Zustimmung. Die Untersuchung materieller Benachteiligung von Kindern hat dabei für Politik, Medien und Gesellschaft eine enorme Bedeutung. Auf Grund unterschiedlichster Berechnungsmöglichkeiten sind Kinderarmutszahlen allerdings oft weit davon entfernt, miteinander vergleichbar zu sein. Ein genaues Hinschauen bei Herkunft und Berechnung dieser Zahlen ist unbedingt notwendig, um möglichen Fehlinterpretationen vorzubeugen.


Die aktuelle Diskussion über die Neu-Festsetzung der Hartz-IV-Regelsätze hat es wieder gezeigt: Die statistische Erfassung individueller Lebenssituationen ist hochpolitisch - und hochkompliziert. Eine kleine Änderung in der Berechnungsweise des Bedarfs kann enorme Folgen für das Ergebnis haben, für die politische Debatte und am Ende für die Millionen Betroffenen. Ähnliches lässt sich bei Zahlen über Kinderarmut beobachten. In reichen Ländern geht es in der Regel weniger um materiell bedingte, lebensgefährliche Existenznot als um Verteilungsgerechtigkeit und gesellschaftliche Teilhabe. Deshalb wird der Begriff der relativen Armut verwendet. Er definiert individuelle Armut im Verhältnis zu den materiellen Verhältnissen der gesamten Gesellschaft. Wie viel aber auch bei der Handhabung dieses Armutsbegriffs von den Feinheiten der statistischen Bestimmung abhängt, zeigt eine Analyse der Berechnungsgrundlagen von Kinderarmut.

Folgende Situation: Drei Armutsforscherinnen lesen einen Artikel über eine Studie des Kinderschutzbunds, die zu dem Ergebnis kommt, dass in Berlin jedes dritte Kind in Armut lebt. Alle drei sind sich darüber klar, dass ihnen zwar keine direkt vergleichbaren Daten vorliegen, da Berlin nicht ihr spezielles Forschungsgebiet ist. Sie verfügen aber über Daten, die ihnen Auskunft über die deutschen Stadtstaaten (Berlin, Hamburg und Bremen) in aggregierter Form liefern. Sie entschließen sich, die Kinderarmutsquoten für die Stadtstaaten unabhängig voneinander zu berechnen, um zu prüfen, ob sich die Zahlen für Berlin im Grundsatz bestätigen lassen.

Jede der Forscherinnen kommt zu einem anderen Ergebnis. Die erste schätzt die vom Kinderschutzbund veröffentlichte Zahl als maßlos übertrieben ein, denn sie beziffert den Anteil relativ armer Kinder in den deutschen Stadtstaaten auf ca. 8 Prozent. Die zweite Forscherin kommt zu dem Schluss, dass diese Angabe mit hoher Wahrscheinlichkeit richtig ist, denn ihre Berechnungen ergeben eine Kinderarmutsquote von ca. 33 Prozent. Die dritte Forscherin ist sogar der Meinung, dass die Zahl, nach der jedes dritte Kind in Armut lebe, zu niedrig ist: fast jedes zweite Kind in den deutschen Stadtstaaten wachse in armen Verhältnissen auf.

Wie können solche extrem unterschiedlichen Einschätzungen zustande kommen? Wenn alle Erhebungszeitpunkte konstant gehalten werden und die Befragungen repräsentativ sind, gibt es fünf wesentliche Faktoren, die Kinderarmutsberechnungen berühren und zu sehr starken Differenzen führen können.

1. Bei der Berechnung relativer Armutszahlen spielen Datengrundlage und Berechnungsmethode eine große Rolle. Hier gibt es sehr unterschiedliche Herangehensweisen. Der Kinderschutzbund definiert Kinderarmut, indem der Anteil der Kinder errechnet wird, die auf staatliche Hilfeleistungen wie zum Beispiel Sozialgeld angewiesen sind. Ein anderer Ansatz basiert auf der Verwendung von Warenkorbstandards, die durch die Daten der Einkommensverbraucherstichprobe ermöglicht werden. Eine dritte Möglichkeit basiert auf der Berechnung des Nettoäquivalenzeinkommens oder auch gewichteten Pro-Kopf-Einkommens. Die Basis des gewichteten Pro-Kopf-Einkommens ist das Haushaltsnettoeinkommen. Jede Person des Haushalts erhält je nach Alter einen Wert, der als Gewichtung in die Berechung des Pro-Kopf-Einkommens eingeht. Für diese Art der Berechnung werden häufig das Sozio-oekonomische Panel oder der Mikrozensus verwendet. Die verschiedenen Ansätze liefern sehr unterschiedliche Zahlen zu einer gemeinsamen Frage: Wie hoch ist der Anteil materiell relativ benachteiligter Bevölkerungsgruppen, in diesem Fall der Kinder?

2. Unabhängig davon, ob die Sozialhilfestatistik bemüht wird oder relative Armut nach dem gewichteten Pro-Kopf-Einkommen berechnet wird, ist es ein großer Unterschied, welcher Bezugspunkt gewählt wird. Die Kinderarmutsquote eines Bundeslandes kann sich beispielsweise erheblich verändern, je nachdem, ob die Zahlen in Bezug auf Gesamtdeutschland oder das Bundesland selbst errechnet werden.

3. Wann ist ein Kind ein Kind? Das Alter der Kinder, die in Armutsberechnungen eingehen, variiert. Die Zahlen des Kinderschutzbundes für Berlin basieren beispielsweise auf dem Anteil der Kinder, die in Armut leben und jünger sind als 15 Jahre. Andere Studien untersuchen Kinder, die jünger sind als 18 Jahre. Die Beispielforscherinnen haben Kinder im Alter bis 16 Jahre berücksichtigt. Die Veränderung der zu untersuchenden Teilmenge über das Alter führt zwangsläufig zu unterschiedlichen Ergebnissen.

4. Armutsberechnungen werden nach dem Nettoäquivalenzeinkommen gewichtet. Die Idee hinter der Gewichtung ist, dass sich Skalenvorteile bzw. Synergieeffekte ergeben, wenn Menschen zusammen in einem Haushalt leben. Die gemeinsame Nutzung von Kühlschrank und Energie sind dabei nur zwei Beispiele, die die materiellen Vorteile des Zusammenlebens verdeutlichen. Bei dieser Gewichtung werden zwei verschiedene Gewichtungsschlüssel verwendet, die alte und die neue OECD-Skala. Die Skalenvorteile werden dabei mit der neuen OECD-Skala deutlich höher eingeschätzt als mit der alten. Das bedeutet letztlich, dass das gewichtete Pro-Kopf-Einkommen desselben Kindes beim Einsatz der neuen OECD-Skala höher ist. Die Verwendung des neuen Gewichtungsschlüssels hat sich zwar weitgehend durchgesetzt, beim Vergleich mit etwas älteren Berechnungen kann diese Unterscheidung aber eine Rolle spielen.

5. Über die unterschiedlichen OECD-Skalen hinaus unterscheiden sich die Grenzen, von denen an ein Kind als relativ arm oder armutsgefährdet angesehen wird. Zwei sehr häufig verwendete Grenzen liegen bei 50 bzw. 60 Prozent des Medians des gewichteten Pro-Kopf-Einkommens einer Gesellschaft. Der Median ist ähnlich dem bekannteren arithmetischen Mittel ein Durchschnittswert; genau eine Hälfte der Werte liegt über dem Median, die andere darunter. Anders als das arithmetische Mittel lässt der Median Ausreißer, also extreme Werte, unberücksichtigt, die in Einkommensverteilungen häufiger zu finden sind und das Gesamtbild verzerren können. Nach einer Schätzung im aktuellen UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland leben bundesweit ca. eine Million Kinder in relativer Armut, wenn man zu Grunde legt, dass ihnen weniger als die Hälfte (50 Prozent) des durchschnittlichen gewichteten Pro-Kopf-Einkommens zur Verfügung steht. Diese Zahl verdoppelt sich auf ca. zwei Millionen Kinder, wenn diese Grenze bei 60 Prozent gezogen wird. Hier wird sehr deutlich, wie stark sich Kinderarmutszahlen unterscheiden, wenn man lediglich die Grenze zur relativen Armut verschiebt, aber alle anderen Faktoren konstant belässt.


Der Anteil von Kindern (in Prozent) in relativer Armut nach Regionen, Gewichtungen,
Armutsgrenzen und Mittelwert 2008


                    FLÄCHENLÄNDER WEST

neue OECD-Skala                alte OECD-Skala


Armutsgrenze     Armutsgrenze  Armutsgrenze     Armutsgrenze
bei 50 %         bei 60 %      bei 50 %         bei 60 %


Nach Bundesmedian
6,5              15,3          11,7             22,4        
Nach Median
der Region
9,3              18,8          14,7             27          


                    FLÄCHENLÄNDER OST

neue OECD-Skala                alte OECD-Skala


Armutsgrenze     Armutsgrenze  Armutsgrenze     Armutsgrenze
bei 50 %         bei 60 %      bei 50 %         bei 60 %    


Nach Bundesmedian
15,1             29,2          21,5             38,7        
Nach Median
der Region
6,2              20,2          15,4             25,2        


                 StADTSTAATEN

neue OECD-Skala                alte OECD-Skala


Armutsgrenze     Armutsgrenze  Armutsgrenze     Armutsgrenze
bei 50 %         bei 60 %      bei 50 %         bei 60 %    


Nach Bundesmedian
7,8              33,2          16,4             47,9        
Nach Median
der Region
11,4             35,9          26,8             54,3        

Quelle: SOEP 2008, Kinder bis 16 Jahre, die noch im Haushalt leben.
Es wurde das imputierte Haushaltsnettoeinkommen zu Grunde gelegt.
Hochgerechnet auf Gesamtbevölkerung.


Je nachdem, welche Datenbasis und Berechnungsmethode verwendet wird, wie die Gruppe der Kinder definiert wird, wie hoch Skaleneffekte eingeschätzt werden und wo die Grenze zur relativen Armut gesetzt wird, können sich also unterschiedliche Ergebnisse einstellen, aus denen unter Umständen auch ganz unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen werden können. Das lässt sich am Beispiel der drei Forscherinnen sehr schön zeigen. Hier wurden lediglich zwei der fünf Faktoren variiert, nämlich die Armutsgrenze und die Gewichtung. Die erste Forscherin hat mit der neuen OECD-Skala gerechnet und ging von einer Armutsgrenze aus, die 50 Prozent des Medians des gewichteten Pro-Kopf-Einkommens beträgt. Die zweite hat mit der neuen OECD-Skala und der 60 Prozent-Armutsgrenze und die dritte mit der alten OECD-Skala und der 60 Prozent-Armutsgrenze gerechnet (vgl. Tabelle).

Die Armutsquote der zweiten Forscherin kommt den Angaben des Kinderschutzbundes zwar sehr nahe. Letztlich ist aber keine der errechneten Zahlen mit den Angaben des Kinderschutzbundes vergleichbar, da hier weder Datengrundlage oder Berechnungsmethode noch das Alter der berücksichtigten Kinder übereinstimmen. Trotzdem werden alle Zahlen, so unterschiedlich oder gleichlautend sie auch sind, unter dem Label relativer Kinderarmut geführt und publiziert. Die Höhe der relativen Kinderarmutsquoten unterscheidet sich dabei sehr deutlich, je nach Gewichtungsmethode oder Armutsgrenze. Diese Unterschiede lassen sich äquivalent für verschiedene Regionen in Deutschland zeigen (siehe Tabelle).

Ein weiterer und nicht weniger erstaunlicher Unterschied entsteht, wenn der Median für die Berechnung relativer Armut variiert wird - zum Beispiel, wenn man den Anteil von Kindern in den Flächenländer West und den Flächenländern Ost vergleicht, die sich nach der neuen OECD-Skala unterhalb von 50 Prozent des Medians des gewichteten Pro-Kopf-Einkommens befinden. Dann wird deutlich, dass es im Osten nach dem Bundesmittelwert einen doppelt so hohen Anteil an Kindern in einer relativen Armutssituation gibt wie in den Flächenländern West. Werden die äquivalenten Kinderarmutsquoten nach dem regionalen Mittelwert verglichen, so dreht sich diese Tendenz nahezu ins Gegenteil. Nach dem Regionalmedian gerechnet, lebt in den Flächenländern Ost plötzlich ein geringerer Anteil an Kindern in relativer Armut als in den Flächenländern West.

Neben den Differenzen in der Höhe der Kinderarmutsquoten lassen sich also auch Unterschiede in den Relationen der Regionen bestimmen, wenn der Berechnungsfaktor des Medians verändert wird. Angesichts der Tatsache, dass es in den östlichen Flächenländern zum einen geringere Löhne gibt, zum anderen die Arbeitslosigkeit höher ist als in den westlichen Flächenländern, erstaunt es nicht, dass die relative Kinderarmutsquote nach dem Bundesdurchschnitt in den Flächenländern Ost deutlich höher ist. Wird jedoch der regionale Median herangezogen, ändert sich das Ergebnis: Die regionale Binnenverteilung in den östlichen Flächenländern ist gleichmäßiger. Das bedeutet, dass Kinder in den östlichen Flächenländern zwar ein systematisch geringeres gewichtetes Pro-Kopf-Einkommen haben als Kinder in den westlichen Flächenländern. Gleichzeitig ist dieses niedrigere Pro-Kopf-Einkommen innerhalb der Region aber so verteilt, dass hier ein kleinerer Teil an Kindern in relativer Armut lebt als in den westlichen Flächenländern.

Inzwischen etabliert sich auch in Deutschland eine Armutsforschung, die sich an ganzheitlichen Konzepten orientiert und weit über die Betrachtung rein materieller Armut hinausgeht und zum Beispiel Bildung, Gesundheit, gesellschaftliche Teilhabe und subjektives Wohlbefinden mit betrachtet. Die materiellen Kinderarmutszahlen sind für die Wissenschaft und den gesellschaftlichen, medialen und nicht zuletzt politischen Diskurs aber immer noch entscheidend. Die enorme Varianz der Zahlen je nach Berechnungsart zeigt, wie wichtig es ist, bei Bestimmung und Interpretation von Kinderarmutszahlen genau hinzuschauen. So kann potenziellen Missverständnissen, Fehlinterpretationen oder Fehlreaktionen vorgebeugt werden.


Steffen Kohl ist seit März 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt "Empirische Rekonstruktion der Habitus- und Feldtheorie von Pierre Bourdieu durch die Netzwerkanalyse". Arbeitsschwerpunkte sind Netzwerkforschung, Familiensoziologie, Kinderarmut, Habitustheorie und soziale Ungleichheit.
kohl@wzb.eu


Literatur

Bertram, Hans/Kohl, Steffen: Zur Lage der Kinder in Deutschland 2010: Kinder stärken für eine ungewisse Zukunft. Köln: Deutsches Komitee für UNICEF 2010.

Bradshaw, Jonathan/Mayhew, Emese (Eds.): The Wellbeing of Children in the UK. 2. Auflage. London: Save the Children 2005.

Shonkoff, Jack P./Phillips, Deborah (Eds.): From Neurons to Neighborhoods: The Science of Early Childhood Development. Washington, D.C.: National Academy Press 2000.


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 130, Dezember 2010, Seite 36-39
Herausgeber:
Der Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 49 10, Fax: 030/25 49 16 84
Internet: http://www.wzb.eu

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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. März 2011