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NAHOST/1695: Irak - US-Kolonie in spe ... (SB)


Irak - US-Kolonie in spe ...


Mit dem am 3. Januar auf einer Zubringerstraße des internationalen Bagdader Flughafens per Rakete durchgeführten Attentat auf Qassem Soleimani, den Oberbefehlshaber der Al-Quds-Einheit der iranischen Revolutionsgarden, hat die Regierung von US-Präsident Donald Trump nicht nur unausgesprochen dem Iran den Krieg erklärt, sondern auf Jahre hinaus alle Chancen auf eine Stabilisierung der Region zwischen Mittelmeer und Persischem Golf zunichte gemacht. Die spektakuläre Ermordung Soleimanis, der in den letzten Jahren wie kein zweiter Stratege und Feldkommandeur zur Niederschlagung der sunnitischen Terrormiliz Islamischer Staat (IS) beigetragen hatte, markiert womöglich auch das Ende des Iraks als einheitlicher Staat - eine Entwicklung, die verheerende Auswirkungen auf die Nachbarländer haben dürfte.

In Reaktion auf den tödlichen Anschlag auf Soleimani und Abu Mahdi Al Muhandis, einen Führungsoffizier der schiitisch-irakischen Volksmobilisierungskräfte, hat sich am 5. Januar das Parlament in Bagdad mit überwältigender Mehrheit für den Abzug aller US-Streitkräfte aus dem Zweistromland ausgesprochen. Die Abgeordneten empörten sich nicht nur wegen der groben Mißachtung der irakischen Souveränität durch die amerikanischen Militärgäste, sondern auch über den Umstand, daß Soleimani gerade in dem Moment getötet wurde, als er, aus Teheran kommend, mit der Antwort der iranischen Führung auf eine Friedensofferte Saudi-Arabiens auf den Weg zum irakischen Premierminister Adel Abdul Mahdi, der hier eine Vermittlerfunktion übernommen hatte, unterwegs war. Darüber hinaus hat Abdul Mahdi vor dem Parlament in Bagdad erklärt, daß die Unruhen, die mehrere irakische Städte seit Anfang Oktober erschütterten, von der CIA und amerikanischen Spezialstreitkräften geschürt worden waren, und zwar auf Befehl Trumps zur Vergeltung für die zahlreichen Verträge, die der Premierminister im September beim Besuch in Peking zwecks umfassender Investitionen der Volksrepublik China in die staatliche irakische Infrastruktur unterzeichnet hatte.

Auf die Aufforderung des Parlaments in Bagdad zum Truppenabzug haben die Machthaber in Washington ihrerseits mit Drohungen reagiert. Der Präsident stellte drastische Wirtschaftssanktionen, die über die aktuellen gegen den Iran hinausgingen, in Aussicht, sollten die Iraker alle GIs des Landes verweisen. Finanzminister Steve Mnuchin kündigte an, in einem solchen Szenario würden die USA einfach die Einnahmen des Iraks aus dem Export seines eigenen Öls, die seit dem illegalen angloamerikanischen Sturz des "Regimes" Saddam Husseins 2003 über die Federal Reserve Bank of New York laufen, schlicht sperren lassen und für sich behalten. Außenminister Pompeo tat das Ansinnen der Iraker als illusorisch ab, erklärte, die USA seien eine "Kraft des Guten" im Nahen Osten, der Verbleib der amerikanischen Truppen im Irak sei nicht nur wünschenswert, sondern unerläßlich.

2011 hatte Barack Obama alle US-Streitkräfte aus dem Irak abgezogen, nachdem sich die Regierung des damaligen Premierministers Nuri Al Maliki aus Rücksicht auf die Stimmung im Volk weigerte, ein vom Pentagon gefordertes "State of Forces Agreement" (SOFA) zu paraphieren, das allen US-Militärangehörigen rechtliche Immunität gewährt hätte. 2014 kehrten mit Billigung des Außenministeriums in Bagdad die US-Streitkräfte als Teil der internationalen Anti-IS-Koalition zurück. Schätzungen zufolge halten sich derzeit rund 5000 US-Militärs auf eigenen, separaten Stützpunkten auf mehreren größeren irakischen Militärbasen im Westen und Norden des Landes auf. Seit Anfang 2019 gilt der IS, dessen Kalifat sich einst über weite Teile Ostsyriens und Westiraks erstreckte, als besiegt, seine Kämpfer agieren nur noch aus dem Untergrund. Dennoch richten sich die US-Streitkräfte auf einen dauerhaften Verbleib in besagter Grenzregion ein: in Syrien, um "das Öl zu sichern", so Trump, und im Irak, um den Einfluß des Irans "einzudämmen", so die Formulierung des State Department.

Im Irak nimmt seit 2018 der Widerstand gegen die US-Militärpräsenz im Land zu. Immer wieder werden amerikanische Basen Ziel von Raketenangriffen, für die Washington, ohne Vorlage glaubhafter Beweise, stets Teheran verantwortlich macht. Als im Juni 2019 eine Rakete auf dem Gelände der US-Botschaft in Bagdads Grüner Zone einschlug, ohne Schäden anzurichten, wollte John Bolton, damals Trumps Nationaler Sicherheitsberater, daß die amerikanischen Streitkräfte am Persischen Golf zur Vergeltung Raketenangriffe auf Ziele im Iran durchführen. Dagegen legte der Präsident sein Veto ein, erteilte jedoch eine Genehmigung für die Liquidierung General Soleimanis, sollte bei einem weiteren Raketenangriff ein amerikanischer Militärangehöriger ums Leben kommen.

Dies geschah, als am 26. Dezember der US-Stützpunkt K1 nahe der kurdischen Stadt Kirkuk im irakischen Norden von 36 Raketen angegriffen wurde. Bei dem Vorfall wurde ein US-Übersetzer tödlich verletzt. Obwohl niemand sich zu dem Angriff bekannte, griffen die Amerikaner zwei Tage später mehrere Basen der schiitischen Kata'ib- Hezbollah-Miliz an und töteten dabei Dutzende von deren Angehörigen. Auch der Angriff eine Woche später mit zwei Hellfire- Raketen auf das Auto, in dem sich Soleimani und Al Muhandis befanden, gilt als Rache für den Tod des US-Übersetzers bei Kirkuk.

Der Racheakt hat bereits schwerwiegende Folgen gehabt. Der schiitische "Radikalprediger" Muktada Al Sadr, dessen Anhänger die größte Fraktion im irakischen Parlament bilden und der bisher einen "nationalistischen" Kurs gegen ausländische Einmischung aus den USA und aus dem Iran gleichermaßen fuhr, hat die sofortige Ausweisung aller US-Streitkräfte und die Schließung der amerikanischen Botschaft verlangt. Darüber hinaus hat Al Sadr den Protestierenden, die seit Oktober gegen Korruption und Mißwirtschaft auf die Straßen gingen, die Unterstützung entzogen und sie zuletzt als "Handlanger fremder Mächte" beschimpft. Daraufhin haben in den letzten Tagen die Sadristen ihre Teilnahme an den Protesten aufgekündigt und die Sicherheitskräfte die provisorischen Zeltlager der Demonstranten in Bagdad, Basra und Nasariya abgefackelt und gewaltsam geräumt. Ganz offensichtlich haben sich die Fronten im Irak massiv verhärtet.

Die Entfremdung zwischen der schiitischen Mehrheit im Irak und ihren einstigen amerikanischen "Befreiern" zeichnet sich schon länger ab. Nach dem Einmarsch 2003 entwickelten sich die Kämpfer von Al Sadrs Mahdi-Armee zu den gefährlichsten Gegnern der amerikanischen und britischen Besatzungstruppen. 2008 hat Al Sadr überraschend den bewaffneten Kampf der Mahdi-Armee für beendet erklärt und die Truppe in die sogenannten "Friedensbrigaden" umgewandelt. Doch in letzter Zeit scheint die Mahdi-Armee wieder in Aktion getreten zu sein. In einer umfassenden, bestens recherchierten Analyse der zahlreichen Angriffe auf US-Militärstützpunkte in den letzten beiden Jahren im Irak mittels Katjuscha-Raketen, die am 23. Januar bei antiwar.com erschienen ist, macht Autor William Walter Kay die Sadristen für die zunehmende Gefahr verantwortlich, welcher sich die amerikanischen Soldaten auf ihren Basen ausgesetzt sehen. Mit einer weiteren Zuspitzung dieser Konfrontation ist zu rechnen, wie der Raketenangriff am 26. Januar auf die US-Botschaft in Bagdad zeigt. Bei dem Vorfall schlugen drei Raketen ein - zwei auf dem Gelände, während die dritte die Cafeteria traf, dort schwere Schäden anrichtete, jedoch lediglich eine Person verletzte.

Seinerseits bereitet sich Washington schon länger auf eine eventuelle Aufkündigung der Freundschaft Bagdads vor. In zwei bemerkenswerten Artikeln, die am 23. Januar bei Middle East Eye erschienen sind, berichteten Herausgeber David Hearst und die ehemalige Reuters-Korrespondentin Suadad al-Salhy von einem Komplott der Amerikaner, den sunnitischen Westen und den kurdischen Norden komplett vom Irak zu trennen. Zu diesem Zweck hätte es, den Informanten Hearsts und al-Sahys zufolge, in den letzten neun Monaten mindestens zwei geheime Gesprächsrunden in der saudischen Botschaft in der jordanischen Hauptstadt Amman und ein offenes Treffen in Dubai gegeben. An den Verhandlungen hätten sunnitische und kurdische Politiker und Geschäftsleute aus dem Irak sowie diplomatische Vertreter der USA, Israels, Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate teilgenommen. Im ersten Schritt soll eine sunnitische Autonomieregion innerhalb des Iraks gebildet werden, die sich später als ölreiches "Sunnitistan" selbständig macht. An das Gebilde könnte die von sunnitischen Arabern dominierte, aktuell von US-Streitkräften illegal besetzte, ebenfalls ölreiche syrische Provinz Deir Ez-Zor angeschlossen werden.

Das Vorhaben wird von seinen Befürwortern, die sich zum Teil anonym gegenüber Middle East Eye äußerten, als Win-Win-Situation gepriesen. Der neue Staat würde Iraks Sunniten von der Dauerbenachteiligung durch die schiitischen Noch-Landsleute befreien und zur Freude der Israelis und Amerikaner jenen "Bogen des Widerstands" zwischen dem Iran im Osten und den von der Hisb Allah dominierten Teilen Südlibanons endgültig zerstören. Bereits während des Ersten Weltkrieges hatten sich Briten und Franzosen mit dem berüchtigten Sykes-Picot-Abkommen angemaßt, auf dem Territorium des untergehenden Osmanischen Reichs "Ordnung" zu schaffen und dabei lediglich die Saat blutiger Dauerzwistigkeiten gelegt. Durch ihre Bemühungen um eine für sie günstigere Neuziehung der Grenzen im Nahen Osten werden die USA Leid in einem gigantischen Ausmaß über die Menschen in der Region bringen.

28. Januar 2020


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