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NAHOST/1663: Syrien - Kriegswaffe Öl, Mittel und Zweck ... (SB)


Syrien - Kriegswaffe Öl, Mittel und Zweck ...


Am 26. April ging im einstigen Astana, der Hauptstadt Kasachstans, die zu Ehren des scheidenden langjährigen Präsidenten Nursultan Nasarbajew vor kurzem offiziell in Nursultan umbenannt wurde, die jüngste Runde der Friedensverhandlungen für Syrien ergebnislos zu Ende. Seit Januar 2017 läuft unter der Schirmherrschaft Rußlands, der Türkei und des Irans der sogenannte "Astana-Prozeß", mittels dessen Regierung und Opposition Syriens nach Wegen zur Beilegung des Krieges suchen, der seit 2011 mehrere hunderttausend Menschen das Leben gekostet und 11 Millionen - die Hälfte der Bevölkerung - zu Flüchtlingen im Ausland oder im eigenen Land gemacht hat. Im Mittelpunkt dieses Prozesses steht die Bildung eines 150köpfigen Komitees, das eine neue Verfassung für Syrien ausarbeiten soll, um sie später in Form eines Plebiszits dem Volk zur Abstimmung vorlegen zu können.

Der Grund für das Scheitern der jüngsten Verhandlungsrunde soll ein Streit über die personelle Zusammensetzung des verfassungsgebenden Rats gewesen sein. Nach dem Fahrplan, den Rußland allen Beteiligten vor zwei Jahren vorgelegt hat, sollen Damaskus und die Rebellen jeweils 50 Vertreter in den Rat entsenden. Die restlichen 50 Plätze sollen an Persönlichkeiten der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen wie Glaubensgemeinschaften, Ethnien, Stämme, Gewerkschaften und Berufsverbände vergeben werden. Über die Vergabe von 44 Plätzen sollen sich Regierung und Opposition bisher geeinigt haben, doch angeblich wollte erstere die letzten sechs mit Personen besetzen, die dem "Regime" um Präsident Baschar Al Assad wohlgesonnen sind oder nahestehen. Das sah die Opposition nicht ein, weswegen die Diskussion ohne den gewünschten Abschluß diesen Teils des Friedensprozesses zu Ende ging. Nach dem islamischen Fastenmonat Ramadan, der in diesem Jahr vom 6. Mai bis zum 4. Juni dauert, wollen sich alle Beteiligten wieder in Genf treffen, um die Besetzung des neuen Verfassungrats doch noch "über die Ziellinie" zu schieben, so der russische Chefunterhändler Alexander Lawrentjew gegenüber Al Jazeera. Bis dahin kann noch einiges passieren.

Seit Anfang April herrscht in den von Damaskus kontrollierten Zweidritteln Syriens ein gravierender Treibstoffmangel. Vor zwei Wochen mußte die Regierung deshalb mit der Rationierung von Benzin und Heizöl beginnen. Vor den meisten Tankstellen stehen kilometerlange Autoschlangen. Ursache der Treibstoffkrise sind die Wirtschaftssanktionen der USA, mittels derer Washington nach dem Scheitern des vom Ausland finanzierten und ausgerüsteten Aufstands sunnitischer Dschihadisten, doch noch einen "Regimewechsel" in Damaskus erzwingen will. Wirkung zeigen jedoch nicht nur die Wirtschaftssanktionen gegen Syrien, sondern zusätzlich die gegen den Iran, welche die Administration von Donald Trump nach dem einseitigen Austritt aus dem Atomabkommen mit Teheran 2018 wieder in Kraft treten ließ. Erklärtes Ziel Washingtons ist es, die Ölexporte des Irans "auf Null" zu senken - entweder um die "Mullahs" in Teheran zur Abdankung zu zwingen oder das iranische Volk zum Aufstand zu veranlassen oder um einen Krieg mit der Islamischen Republik zu provozieren.

So oder so leiden die heimgesuchten Menschen im bürgerkriegszerstörten Syrien derzeit am schwersten unter der Sanktionspolitik der USA. Auf Druck Washingtons wird iranischen Öltankern von den ägyptischen Behörden nicht gestattet, den Suezkanal zu passieren. Wegen des illegalen US-Militärstützpunkts bei Al Tanf, der am Länderdreieck Syrien-Jordanien-Irak sowie nahe der wichtigsten Straßenverbindung zwischen Bagdad und Damaskus liegt, ist ein Öltransport auf dem Landweg vom Iran nach Syrien zu sehr mit der Gefahr eines amerikanischen Angriffs verbunden, als daß man guten Gewissens eine solche Unternehmung veranlassen könnte. Am schwersten wiegt jedoch, daß der syrische Staat aufgrund der US-Militärpräsenz in der östlichen Wüstenregion zwischen dem Euphrat und der irakischen Grenze von den eigenen Öl- und Gasreserven abgeschnitten ist. Die Besatzung dieses strategisch wichtigen Gebiets halten die Amerikaner nach der gelungenen Zerstörung des Kalifats der "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) mit Hilfe der kurdisch dominierten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) aufrecht. Doch dagegen regt sich Protest. Seit Tagen demonstriert die arabische Bevölkerungsmehrheit gegen die Verwaltung durch die SDF aus dem syrischen Norden.

Über Wege zur schnellstmöglichen Behebung der schwere Ölknappheit denkt man bei der Regierung in Damaskus intensiv nach. Am 26. April meldete die Onlinezeitung Middle East Eye, syrische Staatsvertreter verhandelten bereits heimlich mit der Al-Kaida-nahen Hayat Tahrir Al Sham (HTS), die einst Al-Nusra-Front hieß und seit einigen Monaten faktisch die Kontrolle über das gesamte nordwestliche Gouvernement Idlib ausübt, ob diese gegen größere Bargeldsummen nicht bereit wäre, ungehindert Öllastwagen aus der Türkei in Richtung Süden passieren zu lassen. Seit Tagen kommt es an der demilitarisierten Grenze zu Idlib immer wieder zu schweren Kämpfen. Rußland wirft der Türkei vor, trotz der Vereinbarung vom vergangenen September, die mit der Verhängung einer Feuerpause in der Region einherging, die Rebellengruppen in Idlib weder zum Abzug noch zur Niederlegung ihrer Waffen bewegt zu haben.

Wegen der chaotischen Lage in Idlib denken führende russische und syrische Politiker über eine Offensive zur Rückeroberung der letzten Rebellenhochburg in Syrien laut nach. Um die Zivilbevölkerung in Idlib zu verschonen, hat man vergangenes Jahr in letzter Minute doch noch von einem solchen Gewaltakt abgesehen. Beim Besuch in Peking wollte am 27. April Rußlands Präsident Wladimir Putin eine Bodenoffensive in Idlib nicht mehr ausschließen, behielt sich aber Gespräche darüber mit dem türkischen Amtskollegen Recep Tayyip Erdogan vor. Möglicherweise dienen die Angriffe, welche die russische Luftwaffe gegen Ziele in Idlib vor kurzem wieder aufgenommen hat, dem baldigen Auftakt einer solchen Offensive. Die einzige sonstige Alternative wäre, die Syrische Arabische Armee (SAA) könnte mit Hilfe der schiitischen Hisb-Allah-Miliz und iranischer Militärberater versuchen, die ostsyrischen Ölfelder den USA und den SDF zu entreißen. Über diese Option hatte der syrische Verteidigungsminister General Ali Ayub am 18. März nach einem Treffen in Damaskus mit dem Stabschef der irakischen Armee, General Othman Al Ghanmi, und dem damaligen Chef der iranischen Revolutionsgarde, Generalmajor Mohammad Ali Dschafari, öffentlich gesprochen. Ein solches Wagnis wäre, bedenkt man die Luftüberlegenheit der US-Streitkräfte im Nahen Osten, nur mit Hilfe Rußlands durchführbar. Derzeit sieht es aber nicht danach aus, als wollte Moskau wegen Syrien einen heißen Konflikt mit Washington riskieren.

30. April 2019


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