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NAHOST/1551: Im irakischen Kurdistan steht der Bürgerkrieg bevor (SB)


Im irakischen Kurdistan steht der Bürgerkrieg bevor

Erbils Spiel mit dem Feuer könnte in einem Desaster enden


Im Irak ist der Islamische Staat (IS) zumindest territorial auf dem Rückzug. Nach monatelangen schweren Kämpfen sind im Juli Mossul und im August Tal Afar, die beiden letzten Hochburgen des Kalifats um Abu Bakr Al Baghdadi, von den Truppen der irakischen Zentralregierung zurückerobert worden. Als "Terrormiliz" im Untergrund dürfte der IS jedoch noch lange existieren. Allein bei koordinierten IS-Anschlägen in der Stadt Nasiriyah im schiitischen Südirak kamen am 12. September 83 Menschen, die meisten von ihnen Besucher eines Restaurants, in dem eine Bombe explodierte, ums Leben. Weitere 93 Menschen wurden schwer verletzt. Nach der erfolgreichen Zurückdrängung des IS steht dem Irak die nächste Zerreißprobe bevor. Am 25. September sollen die Menschen in der Kurdischen Autonomieregion Nordiraks über die staatliche Unabhängigkeit abstimmen. Die Volksbefragung, die gegen den ausdrücklichen Willen Bagdads stattfindet, könnte einen Bürgerkrieg auslösen oder sogar noch schlimmer in einen Regionalkonflikt unter Teilnahme der Nachbarländer Türkei und Iran ausarten.

Die Kurden stellen 15 bis 20 Prozent der rund 37 Millionen Iraker. Während des Iran-Irak-Krieges von 1980 bis 1988 gerieten die kurdischen Peschmerga unter den Verdacht der Zusammenarbeit mit Teheran und wurden deshalb von den Truppen Saddam Husseins brutal unterdrückt. Hinzu kam die damalige Politik der Arabisierung. Mit der Umsiedlung zahlreicher Araber aus dem irakischen Süden in den Norden wollte Bagdad die Region noch enger an sich binden. Nach dem ersten Golfkrieg 1991 wurde der kurdische Norden zumindest militärisch unabhängig. Wegen der von Großbritannien und den USA dort jahrelang aufrechterhaltenen Flugverbotszone konnte die irakische Armee am Boden nicht agieren. 2005, zwei Jahre nach dem angloamerikanischen Einmarsch und dem Sturz des "Regimes" Saddam Husseins, erhielten die Kurden im Rahmen der neuen irakischen Verfassung weitreichende Autonomierechte. Wegen Streitigkeiten über die ethnische Zusammensetzung wurde die Klärung der hochbrisanten Frage, wem die Stadt Kirkuk gehört, von der aus die Ölfelder Nordiraks zu kontrollieren sind, immer wieder verschoben.

Fast zehn Jahre lang galt die kurdische Autonomieregion als El Dorado im Vergleich zum restlichen Irak. Während Sunniten und Schiiten im Süden und in der Mitte des Zweistromlands die US-Besatzungstruppen bekämpften und sich gleichzeitig gegenseitig zerfleischten, kam es im irakischen Norden zum Wirtschaftswunder. Sprudelnde Öleinnahmen, reger Handel mit der Türkei und ein Bauboom ließen die Hauptstadt Erbil zum bevorzugten Ansiedlungspunkt vieler im Irak tätigen ausländischen Unternehmen werden. Seit 2014 sehen die Dinge weniger rosig aus. Wegen des Streit um nicht genehmigte Ölexporte aus den kurdisch-kontrollierten Quellen über die Türkei ins Ausland - zum Beispiel in die USA und nach Israel - ist es zu Finanzquerelen zwischen Bagdad und Erbil gekommen. Seitdem weigert sich die Zentralregierung, der Autonomieregion die ihr zustehenden Gelder aus dem irakischen Staatshaushalt zu überweisen.

Ein Einbruch beim Ölpreis auf den internationalen Märkten, der bis heute anhält, hat Erbils Finanzen noch weiter in die Schieflage gebracht. Die Großoffensive, mit der 2014 der IS im Sturm Mossul, die zweitgrößte Stadt des Iraks, eroberte, löste eine große Flüchtlingswelle aus. Rund zwei Millionen Menschen, die meisten von ihnen sunnitische Araber, sind in die kurdische Autonomieregion geflohen. Damals wurden die kurdischen Peschmerga bezichtigt, dem IS nicht energisch genug entgegengetreten zu sein. So mußten etwa PKK-Kämpfer aus dem Kandil-Gebirge anreisen, um in der Region Sindschar die Volksgruppe der "ungläubigen" Yesiden vor der Ausrottung durch die IS-Gotteskrieger zu retten. Die damaligen Kriegswirren im Sommer 2014 haben die Peschmerga immerhin dafür genutzt, um nach der Flucht der irakischen Regierungstruppen in Kirkuk einzumarschieren und die Kontrolle über die strategisch enorm wichtige Stadt zu übernehmen.

Die Volksbefragung, die am 25. September stattfinden soll, ist auch deshalb hochumstritten, weil sie nicht nur in der offiziell anerkannten kurdischen Autonomieregion, sondern auch in den von den Kurden beanspruchten Teilen der Provinzen Diyala, Saladin, Ninawa und Kirkuk abgehalten werden soll. Allen Aufforderungen seitens der USA, der Türkei, des Irans und Bagdads, das Plebiszit zu verschieben, hat Massud Barsani, der langjährige Präsident des irakischen Nordkurdistans und Vorsitzende der kurdischen demokratischen Partei (KDP), in den Wind geschlagen. Unterstützung erhalten Barsani und die Peschmerga offiziell bislang nur von Israel. Dort haben sich in den letzten Tagen bei getrennten Anlässen Premierminister Benjamin Netanjahu, Justizministerin Ayelet Shaked und Ex-Generalstabschef Yair Golan dazu bekannt, daß ein unabhängiger kurdischer Staat im Nahen Osten wünschenswert sei.

Seit langem unterstützen die Israelis mal heimlich, mal offen die Bestrebungen der Kurden in Richtung Unabhängigkeit. In den Kurden sehen sie potentielle Verbündete gegen Araber, Türken und Iraner. Die Schaffung eines kurdischen Staats bzw. der Streit darum führt zu Verwicklungen, die aus Sicht Tel Avivs die Feinde Israels nur schwächen können. Kommt es beim Referendum in wenigen Tagen zur erwarteten Mehrheit für die Unabhängigkeit, dürfte dies nicht nur den innenpolitischen Konflikt im Irak zuspitzen, sondern auch Auswirkungen in den mehrheitlich von Kurden bewohnten Gebieten in der Türkei, im Iran und schließlich in Syrien haben. Nicht umsonst haben die US-Streitkräfte im syrischen Nordosten in den letzten Monaten mehr als zehn illegale Militärstützpunkte eingerichtet, von denen mehrere über eigene Start- und Landebahnen verfügen. Diese Pionierarbeiten kann man durchaus als inoffiziellen, aber wichtiger Beitrag des Pentagons zur Schaffung eines Staats Kurdistan sehen.

16. September 2017


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