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NAHOST/1539: In Syrien geht die türkische Armee in die Offensive (SB)


Im Syrienkrieg geht die türkische Armee in die Offensive

Machtdemonstration Erdogans in Syrien wird blutige Folgen haben


Wie erwartet hat die türkische Armee in den frühen Morgenstunden des 17. Juli mit einer Offensive zur Einnahme der Stadt Afrin im syrischen Gouvernement Aleppo begonnen. Nach der wochenlangen Bereitstellung einer schlagkräftigen Streitmacht nahe der türkischen Grenze schlugen im Morgengrauen erste Artilleriegeschosse in Afrin ein. Mit Hilfe arabisch-sunnitischer Milizionäre, die unter dem Namen Freie Syrische Armee (FSA) firmieren, wollen die türkischen Streitkräfte die Demokratischen Kräfte Syriens (Syrian Democratic Forces - SDF), die größtenteils aus Kämpfern der syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG), einer Schwesterorganisation der in der Türkei verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) Abdullah Öcalans, bestehen, aus Afrin vertreiben und sie zurück auf die östliche Seite des Euphrats drängen.

Anlaß der türkischen Aktion ist die Furcht Ankaras vor der Entstehung eines unabhängigen kurdischen Staats an der Südgrenze der Türkei mit eventuellem Zugang zum Mittelmeer. Als Keimzelle eines solchen Staats sieht der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan das kurdische Autonomiegebiet Rojave mit Hauptstadt Kobane im syrischen Nordosten, das sich infolge der syrischen Kriegswirren immer weiter gen Westen ausweitet. Bereits im August 2016 waren türkische Truppen in den Norden des Gouvernements Aleppo einmarschiert. Im Rahmen von Operation Euphratschild und mit der Hilfe der FSA haben sie die Stadt Dscharabalus rasch "befreit", doch der angekündigte Sturm auf die weiter östlich gelegene Stadt Manbidsch blieb - bis heute - aus politischen Gründen aus.

Durch zwei Entwicklungen haben die türkischen Streitkräfte in Syrien Federn lassen müssen. Zum einen waren Erdogan und dessen regierende AK-Partei nach dem blutigen Putschversuch am 16. Juli 2016 zunächst vollauf damit beschäftigt, eine drakonische Säuberungsaktion gegen echte oder nur mutmaßliche Anhänger des vermeintlichen Drahtziehers, des in amerikanischen Exil lebenden Radikalpredigers Fethullah Gülen, im Staats- und Militärapparat durchzuführen. Es dürfte kein Zufall sein, daß die Offensive gegen Afrin gerade in dem Moment beginnt, wo die von der AKP inszenierten Feierlichkeiten zum ersten Jahrestag der "Rettung" der türkischen Demokratie zu Ende gehen. Beim Auftritt vor Hunderttausenden Anhängern, die sich am Abend des 15. Juli vor der Bosporus-Brücke in Istanbul versammelt hatten, drohte Erdogan wörtlich, den politischen Gegnern "den Kopf abzureißen" - was auch als offene Werbung für die von ihm propagierte Wiedereinführung der Todesstrafe verstanden werden sollte.

Die zweite Entwicklung war die endgültige Rückeroberung der Wirtschaftsmetropole Aleppo durch die Syrische Arabische Armee (SAA) aus den Händen dschihadistischer Gruppen wie der al-kaida-nahen Al-Nusra-Front im Dezember 2016. Mit Hilfe russischer Streitkräfte, iranischer Militärberater und von Kämpfern der libanesisch-schiitischen Hisb-Allah-Miliz ist die SAA seitdem gewaltig auf dem Vormarsch. Sie hat im Juni das Grenzdreieck Syrien-Irak-Jordanien erreicht und den Plan der USA, durch die Einrichtung eines eigenen Stützpunkts dort künftig die wichtigste Straßenverbindung zwischen Bagdad und Damaskus zu kontrollieren, vereitelt. Aktuell marschiert die SAA in nordöstlicher Richtung mit der Absicht, die "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) aus ihrer Hochburg Deir ez-Zor zu verjagen und die staatliche Ordnung im gleichnamigen Gouvernement, das im Osten an Irak angrenzt, wiederherzustellen. Das Unterfangen ist ehrgeizig, strömen doch aktuell Tausende IS-Dschihadisten nach der Einnahme von Mossul, der Hauptstadt der irakischen Provinz Ninawa, durch die Truppen Bagdads nach Deir ez-Zor zurück.

Gleichzeitig belagern die SDF mit Hilfe der Luftwaffe sowie von Spezialstreitkräften der USA die Stadt Rakka, Hauptstadt des gleichnamigen Gouvernements, das zwischen Aleppo im Westen und Deir es-Zor im Osten liegt. Gegen die "Befreiung" Rakkas, deren Bevölkerung mehrheitlich arabisch ist, durch vornehmlich kurdische Milizionäre läuft Ankara seit Monaten Sturm. Erdogans neo-osmanische Türkei versteht sich als Sachwalter der Interessen der turkmenischen Minderheit im Irak und in Syrien sowie notfalls strenggläubiger Sunniten in beiden Staaten. Die türkische Regierung unterstellt den YPG, die Araber aus Rakka vertreiben zu wollen, um dort Kurden anzusiedeln und die Stadt und Umgebung ihrem Autonomiegebiet anzuschließen. In der Vergangenheit hat Erdogan mehrmals angekündigt, die Türkei würde eine solche Entwicklung mit allen Mitteln verhindern. Vor diesem Hintergrund könnte sich der gerade begonnene Angriff auf Afrin als Auftakt einer größeren Intervention der türkischen Streitkräfte im Norden Syriens herausstellen.

17. Juli 2017


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