Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REDAKTION


NAHOST/1537: Erdogan-Gülen-Konflikt - Atatürk grüßt den Propheten (SB)




Die militärische Führung verortete die eigentliche Gefahr für den Nationalstaat zum einen in extremistischen Gruppen aus dem linken und rechten Spektrum und zum anderen im kurdischen Separatismus. Damit konfrontiert, daß die CHP ihre gesellschaftliche Basis verlor und so der Rückhalt in der Bevölkerung für die Atatürkschen Prinzipien zunehmend schwand, infolge von Turgut Özals neoliberaler Politik ab 1983 Massenentlassungen, galoppierende Inflation und die Absenkung der Löhne zu einer nie gekannten Entsolidarisierung innerhalb der türkischen Gesellschaft führten und so die Wiederherstellung der Ordnung allerhöchste Priorität genoß, bediente sich die Militärführung nach dem Putsch von 1980 einer neuen Ideologie, die das Verhältnis von Staat und Religion einem Paradigmenwechsel unterzog.

Um einerseits das Lager der Anti-Kemalisten zu beruhigen und andererseits dem kurdischen Nationalismus das Wasser abzugraben, führte die Junta trotz ihres prinzipiellen Vorbehalts gegenüber fundamentalistischen Kreisen zur Instrumentalisierung eines Zusammengehörigkeitsgefühls religiös-konservatives Gedankengut und islamische Werte stärker in die Gesellschaft ein. So wurde der Religionsunterricht an den Schulen zum Pflichtfach gemacht und die Gründung von Iman-Hatip-Schulen, staatlichen Berufsgymnasien für die Ausbildung zum Imam und Prediger, gefördert. Der konservative Historiker Ibrahim Kafesoglu gilt als Vordenker der sogenannten Türkisch-Islamischen-Synthese, die in den 1970er Jahren in rechtsintellektuellen Kreisen viel Anklang fand. Im Fokus seiner Ideologie stand die Auffassung, daß die alte Steppenkultur der Türken den Islam in einem Veredlungsprozeß aufgesogen und infolgedessen in die nationale Identität integriert hätte. Türkentum ohne Islam wäre, so der kulturalistische Konsens, nicht denkbar. Auch wenn der Grat, auf dem diese ideologieaffine These balancierte, von Anfang an schmal und historisch gesehen höchst fragwürdig war, erlebte sie bis Ende der 1980er Jahre eine gewisse Renaissance. Insbesondere Gülen als auch der islamische Politiker Necmettin Erbakan profitierten von dieser Phase der vom Staat gelenkten und geförderten Islamisierung der Gesellschaft. Die innenpolitische Krise in der Türkei half das Konstrukt zwar abzumildern, aber nicht wirklich zu beheben. Die Liberalisierung des Religiösen betraf ohnehin nur die gesellschaftliche Ebene, nicht aber den politischen Diskurs, geschweige denn die republikanische Verfaßtheit der modernen Türkei.

Machiavellistische Manöver

Gülens Aufstieg zu einer pseudo-charismatischen Figur im Kräftespiel mit dem Kemalismus verdankte sich auch den Millionen von verarmten Zuwanderern aus Anatolien, die in den 1980er und 1990er Jahren in die großen Städte strömten und in ihrer materiellen Bedürftigkeit, zumal sich der Staat immer mehr aus seiner Verantwortung zurückzog, auf die islamistischen Netzwerke der gemeindenahen Sozialarbeit zurückgriffen. Aus diesem Reservoir an den existentiellen Rand gedrängter Schichten der Gesellschaft schöpfte insbesondere Erbakans Wohlfahrtspartei, als sie die politische Macht im Staat erlangte. Indes dürfte Gülen schon früh erkannt haben, daß Erbakans Ringen mit dem Militäretablishment zum Scheitern verurteilt war, zumal dessen krudes Konzept von der welthistorischen Überlegenheit des Islam starke Charakterzüge des Größenwahns aufwies und zudem von zionistischen Weltverschwörungsimperativen durchsetzt war. Gülen war auf jeden Fall klug genug, zu Erbakan und seinem panislamistischen Kurs auf Distanz zu gehen. Freilich konnte er nicht verhindern, daß die Toleranzhaltung im kemalistischen Militärapparat gegenüber islamistischen Bewegungen nach der vom Nationalen Sicherheitsrat sanft erzwungenen Abdankung Erbakans und dem Verbot seiner Partei allmählich kippte. Die PKK war durch die Inhaftierung ihres Führers Abdullah Öcalan vom Kopf getrennt und stellte keine ernstzunehmende Gefahr mehr für die Türkei dar. Die Islamisten wurden nicht mehr gebraucht, und so geriet Gülen ins Visier der Verfassungsorgane, die ihm und seiner Bewegung die Unterwanderung des Staates zum Vorwurf machten. Doch vor dem staatlichen Zugriff reiste der Prediger in die USA, wo er seitdem im Asyl lebt.

Allerdings konnte Gülen auch aus der Ferne das politische Geschehen in der Türkei beeinflussen. Als die AKP 2002 die Wahlen gewann und als stärkste Fraktion ins Parlament einzog, hatten Gülen-nahe Stiftungen und Mediengruppen den Erdrutschsieg von Erdogan maßgeblich unterstützt. Die in westlichen Medien hartnäckig kolportierte Erzählweise, Erdogan und Gülen seien Weggefährten gewesen, bis ein Streit sie entzweite, gehört dagegen ins Reich der Legenden. Aber beide profitierten voneinander, und solange die Schnittmenge gleichgepolter Interessen größer war als ihre ideologischen Widersprüche, hackte eine Krähe der anderen kein Auge aus. So bestand durchaus Einvernehmen, als Erdogan nach der Entmachtung des Militärs und der alten kemalistischen Elite das islamische Element in der politischen Gestaltung des Landes stärker hervorhob. Und geriet die Gülen-Bewegung in Bedrängnis, stellte sich Erdogan vor sie und entkräftete die Anschuldigungen. Wie es zum Zerwürfnis kam, gar zur offenen Feindschaft, läßt sich schwer beantworten. Schon seit längerem gärte im säkularen Bürgertum ein Unbehagen gegenüber Gülen und seiner Bewegung, sie galt als suspekt und wegen der Undurchschaubarkeit ihrer Ziele vielen als unheimlich. Autoren wie Ahmet Sik und Nedim Sener sahen in der "Gülen-Sekte" zudem die Triebfeder eines islamistisch gesinnten Tiefen Staates, der unterhalb der offiziellen Staatsorgane agierend parallele Machtstrukturen aufbaute, um zu einem günstigen Zeitpunkt einen Umsturz zu inszenieren.

Erste Risse in der Zweckallianz zwischen Gülen und Erdogan wurden 2012 sichtbar, als Staatsanwälte der Antiterrorabteilung, die mutmaßlich der Gülen-Bewegung nahe standen, gegen den Geheimdienstchef Hakan Fidan wegen des Verdachts, mit PKK-Terroristen verhandelt zu haben, einen Haftbefehl anstrengten. Tatsächlich hatte Fidan 2009 als Sondergesandter von Ministerpräsident Erdogan bei den geheimen Friedensverhandlungen in Oslo mit PKK-Vertretern und später mit Öcalan gesprochen. Als die Gülen-nahe Presse aus allen Rohren Kritik an der Regierung übte, deutete sich ein unversöhnlicher Machtkampf an. Als Antikommunist von Jugendtagen an und Gegner des von der AKP initiierten Friedensprozesses mit der PKK-Guerilla sah Gülen möglicherweise die Zeit für einen Bruch mit Erdogan gekommen. Der Regierungschef nahm den Fehdehandschuh auf und kündigte die Schließung der Nachhilfezentren an, mit denen Gülen einen Großteil seines Imperiums finanzierte. Als dann wie als Echo darauf Korruptionsermittlungen gegen Personen aus der unmittelbaren Nähe des Premiers, darunter auch gegen Ministersöhne, eröffnet wurden, die den Ruf Erdogans in der Bevölkerung beschädigten und öffentliche Proteste hervorriefen, eskalierte der Konflikt vollends. Erdogan entließ 0Tausende von mutmaßlichen Gülen-Anhängern aus Polizei und Justiz und warf dem Islamprediger unumwunden vor, einen Parallelstaat mit dem Ziel geschaffen zu haben, die Macht an sich zu reißen.

Zivilisationsstreit am Bosporus

Die Nacht vom 15. Juli 2016 brachte schließlich ans Licht, was seit längerem zur Explosion drängte. Ob Gülen tatsächlich der Urheber des Putschversuchs war, ist fraglich. Nicht, daß er prinzipiell einen Einwand gehabt hätte, Erdogan von der politischen Bühne wegzufegen, aber Zeitpunkt und Umstände mußten stimmen. Das Planlos-verworrene, ja beinah Amateurhafte der militärischen Operation legt einen anderen Schluß nahe. Denn ganz offensichtlich waren die Kräfte für einen Staatsstreich unzureichend koordiniert. Denkbar ist, daß der Konflikt eine Eigendynamik erfuhr und so Gülenisten in den Staatsinstitutionen bis hin zu Armeegenerälen einen übereilten Putsch improvisierten, den Gülen wahrscheinlich in dieser Form nie abgesegnet hatte. Gülen muß nicht der Kopf der Verschwörung gewesen sein oder am Anfang der Befehlskette gestanden haben, aber er kann ungeachtet dessen als der geistige Vater der zuletzt gescheiterten Revolte von Teilen der türkischen Streitkräfte und Gendarmerie gelten. Erdogans Aufruf über CNN Türk an die Bevölkerung, sich den Putschisten in den Weg zu stellen, war nichts weiter als eine Notlösung, die dem Staatspräsidenten die nötige Zeit verschaffte, bis zum Morgengrauen die eigenen Kräfte zu mobilisieren und den Militärputsch niederzuschlagen, der Hunderte von Menschenleben gekostet hat. Ein Grund für die Überhastetheit der Operation könnte auch darin gelegen haben, daß eine politische Säuberungsaktion im größeren Ausmaß in den Streitkräften angekündigt war.

Hier zeigt sich die Wendepunkt in Erdogans Machtpolitik am markantesten. Nachdem es ihm gelungen war, die kemalistische Armeeführung in den Ergenekon- und Vorschlaghammer-Prozessen mit Hilfe der Gülenisten kaltzustellen, mußte er erkennen, daß ihm ein neuer Gegner erwachsen war, den zu bezwingen ihm die politische Macht fehlte. Gülenisten saßen in der Staatsanwaltschaft, in den Sicherheitskräften und unter den Richtern. Als sich die Lage weiter verschärfte und Gülens Bewegung ganz offensichtlich die Machtfrage stellte, suchte Erdogan die Annäherung zum Militär und schloß aller Wahrscheinlichkeit nach einen Deal ab. Unter der Zusicherung, die verurteilten Armeechefs und Generäle zu rehabilitieren und dem Militär in Kurdistan freie Hand zu lassen, gewann Erdogan einen neuen Verbündeten im Kampf gegen die Gülenisten, die als schwerwiegende Gefahr für die nationale Sicherheit eingestuft wurden. Natürlich mußte Erdogan dabei berücksichtigen, daß sich die Armee, sollte es zu einem neuerlichen Kräfteringen kommen, auch gegen den Staatspräsidenten erheben würde. Präsidialbefugnisse zu erlangen könnte ein Faustpfand gegen ein möglicherweise meuterndes Militär gewesen sein.

In den letzten anderthalb Jahren hat Erdogan fast schon mit pedantischer Beharrlichkeit die Konfrontation mit der EU gesucht. So unterstellte er im Rahmen des Verfassungsreferendums europäischen Staatschefs Nazi-Methoden im Umgang mit AKP-Politikern, die in der türkischen Diaspora Europas für ein Ja zu den erweiterten Vollmachten des Staatspräsidenten werben wollten, was ihnen verweigert bzw. in erheblichem Ausmaß erschwert wurde. Der Incirlik-Skandal, als Bundestagsabgeordneten der Zugang zu den auf dem Luftwaffenstützpunkt stationierten Bundeswehrsoldaten untersagt wurde, hat die Kontroverse zusätzlich verschärft. Hintergrund ist, daß Deutschland türkischen Soldaten, die aus Sicht Ankaras am Putschversuch beteiligt waren, Asyl gewährt hat. Im beiderseitigen Adressieren von Vorwürfen und Gewirr diplomatischer Ränkespiele scheint sich der Eindruck, daß Erdogan gegenüber Gülen der gefährlichere Islamist sei, verfestigt zu haben.

An dieser Einschätzung scheiden sich nicht nur die Geister, sie operiert auch mit falschen Prämissen. Erdogan quasi zu einem islamistischen Finsterling abzustempeln, nur weil er auf staatsmännischer Ebene unbequem geworden ist und zuweilen eine unverblümte etikettenverletzende Sprache spricht, insistiert auf eine ideologische Feindmarkierung. Entgegen seiner Drohung, den Flüchtlingsdeal aufzukündigen, falls die EU den Visumszwang für türkische Staatsbürger bei der Einreise nach Europa nicht aufhebt, hat er zu seinem Wort gestanden. Für diese Ehrenhaftigkeit lieben ihn die Massen in der Türkei und mit dieser Haltung machte er politische Karriere, weil er sich zumindest in seiner Zeit als Oberbürgermeister von Istanbul tatsächlich für die Belange der einfachen Menschen eingesetzt hat. Als Machtpolitiker schrieb er eine andere Geschichte, über die zu urteilen jedoch nur dem türkischen Volk zusteht, das ihn verfassungsgemäß durch eine Wahl zum Staatsoberhaupt legitimiert hat. Deswegen kann Erdogan per Definition kein Diktator sein. Ob er diktatorisch regieren wird, nun, wo er das Parlament nach Belieben auflösen und seinen Willen per Dekret durchsetzen kann, ist denkbar, aber nicht mehr als ein Windhauch im spekulativen Raum. Als Islamist reinsten Wassers, als der er angeschwärzt wurde, hätte er längst den Gottesstaat ausrufen können. Er tat es nicht.

Ganz anders verhält es sich mit Gülen, der im Falle eines erfolgreichen Putsches möglicherweise alle Staatsgewalt in seiner Hand gebündelt hätte, und das ohne jede demokratische Legitimierung und durch klandestine Strukturen des Umsturzes erschlichen. Die Menschen in der Türkei wollen nicht unter der Scharia leben oder sich einem Kalifen beugen. Dies ist aber die Handschrift orientalischer Potentaten, daß sie ein ganzes Volk in Beugehaft nehmen und Lebensentwürfe jenseits der Koranexegese ins Feuer der Apostasie werfen. Daß eine junge Frau mit Kopftuch nicht an einer Universität studieren durfte, weil eine Staatsdoktrin dies verbot, griff tief in die Individualrechte einer säkularen Gesellschaft ein, als die sich die moderne Türkei selbst bezeichnet. Unter anderem hat Erdogan den Türken die zivile Selbstbestimmung über ihr Leben auch in Religionsfragen zurückgegeben. Für seine Verfehlungen und das Blut an seinen Händen wird er sich verantworten müssen, nicht vor Allah oder der Geschichte, sondern gegenüber den Menschen, die ihm ihr Vertrauen geschenkt haben. Gülens Lebensaufgabe besteht statt dessen darin, die fortschrittlichen Errungenschaften der Moderne zu islamisieren und damit das Leben zwanghaft nach dem Gebetsruf auszurichten. Unterm Strich gefragt: Ist das drohende Inquisitionsgericht des Imams aus Korucuk wirklich weniger gefährlich als die politischen Machtspiele und Selbstinszenierungen eines Recep Tayyip Erdogan?


Quellenangaben:

Ceyhun, Ozan, Politik im Namen Allahs:
https://issuu.com/aypa/docs/politik-im-namen-allahs

Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste, Die Fethullah-Gülen-Bewegung in Deutschland: https://www.bundestag.de/blob/415274/2af148cebcf872537ad7a68408bc6ba/wd-1-072-08-pdf-data.pdf

Agai, Bekim, Fethullah Gülen - Ein moderner türkisch-islamischer Reformdenker?: https://de.qantara.de/inhalt/fethullah-guelen-ein-moderner-tuerkisch-islamischer-reformdenker?

Ghadban, Ralph, Die Sufi-Dimension der Gülen-Bewegung: http://www.ghadban.de/de/wp-content/data/die-sufi-dimension-der-gülen-bewegung1.pdf

14. Juli 2017


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang