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NAHOST/1486: Irak und Türkei streiten vor der Schlacht um Mossul (SB)


Irak und Türkei streiten vor der Schlacht um Mossul

Bagdad wehrt sich gegen die Einmischung Ankaras in Iraks Innenpolitik


Um den 19. Oktober herum soll die Offensive zur Rückeroberung von Mossul und zur Vertreibung der "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) von dort beginnen. Vor den Toren der zweitgrößten Stadt des Iraks ist der Aufmarsch der hierfür erforderlichen Militäreinheiten - US-Spezialstreitkräfte, Peschmerga-Kämpfer der Kurdischen Autonomieregion Nordiraks, sunnitische Stammesmilizionäre und Freiwillige der mehrheitlich schiitischen Volksmobilisierungskräfte samt Kriegsgerät - praktisch abgeschlossen. Wenngleich es das Ziel der Operation ist, Mossul noch vor dem Ende der zweiten Amtszeit von US-Präsident Barack Obama im Januar befreit zu haben, soll der eigentliche Befehl zum Auftakt der Bodenoffensive vom irakischen Premierminister Haider Abadi kommen. Dieser liegt aktuell im Streit mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, weil Ankara mit von der Partie sein will und sich damit aus Sicht Bagdads auf unzulässige Weise in die irakische Innenpolitik einmischt. Der Disput läßt Befürchtungen aufkommen, daß nach dem Sieg über den IS die Offensive zur Rückeroberung von Mossul in einen regelrechten Krieg zwischen dem Irak und die Türkei ausarten könnte.

Bereits Ende August waren türkische Truppen unter dem Vorwand der Bekämpfung des IS in den Norden Syriens einmarschiert, um ein weiteres Vordringen der syrischen Kurden westlich des Euphrat zu verhindern. In diesem Zusammenhang verlangte Ankara von Washington, daß reguläre türkische Streitkräfte und nicht die von US-Militärberatern unterstützten syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) an der ebenfalls vom Pentagon geplanten Offensive zur Vertreibung des IS aus dessen Hochburg Rakka im Osten Syriens beteiligt sein sollten. In einer Meldung der Nachrichtenagentur Reuters vom 30. September begründete ein nicht namentlich genannter Vertreter der türkischen Regierung die Einwände Ankaras wie folgt: "Rakka ist eine arabische Staat mit einer Million Menschen. Führt man eine Operation um diese Stadt mit 7000 bis 8000 kurdischen Kämpfern durch, so wird dies einen ethnisch-religiösen Konflikt auslösen. Ein solcher Konflikt könnte die ganze Grenzregion in Brand setzen."

Seit Dezember 2015 hält Ankara ungeachtet der Proteste Bagdads mehrere hundert türkische Soldaten auf einem Stützpunkt nahe der Ortschaft Bashika im Norden des Iraks stationiert und beruft sich dabei auf die Einladung des Präsidenten der Autonomen Kurdenregion, Massud Barsani, der schon länger im nördlichen Nachbarstaat eine Art Schutzmacht sieht und in den letzten Jahren auf dessen Unterstützung bei Streitereien mit der irakischen Zentralregierung um die Aufteilung der Einnahmen aus dem Ölexport zählen konnte. Interessanterweise bilden die türkischen Militärs in Bashika eine rund 4500 Mann starke sunnitische Miliz aus, die Athil Al Nudschaifi, der letzte Gouverneur von Mossul, nach dem Fall der Hauptstadt der Provinz Ninawa an IS im Juni 2014 aufgestellt hatte. Die schiitisch dominierte Regierung in Bagdad wirft Al Nudschaifi vor, damals die Verteidigung von Mossul vernachlässigt und damit den Fall der Stadt wesentlich verschuldet zu haben. Al Nudschaifi führt seinerseits den damals miserablen Widerstand der irakischen Streitkräfte gegen IS darauf zurück, daß die in Mossul stationierten Soldaten zum größten Teil Schiiten aus dem irakischen Süden waren, die sich sozusagen im sunnitischen Feindesland fühlten und deshalb rasch den Rückzug antraten.

Der sunnitische Regionalpolitiker fordert für seine Truppe eine Führungsrolle, wenn nicht zwingend bei der Einnahme, so doch zumindest später bei der Sicherung Mossuls und der Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung. Rückendeckung erhält er hierbei von der politischen Führung in der Türkei, allen voran von Erdogan. Als am 1. Oktober das Parlament in Ankara das Mandat für die türkischen Militärinterventionen in Syrien und dem Irak um 12 Monate verlängerte, erklärte das muslimisch-konservative Staatsoberhaupt, die Türkei dürfe bei der bevorstehenden Mossul-Offensive "nicht außen vor gelassen" werden. Man werde sich mit der Rolle des "Zuschauers" nicht begnügen; die Türkei sei Nachbarstaat und müsse an allen Entscheidungen der Anti-IS-Koalition mitwirken. Anstatt es hierbei zu belassen, ging Erdogan noch weiter, indem er vollmundig erklärte, nach der Rückeroberung von Mossul "sollen nur sunnitische Araber, Turkmenen und sunnitische Kurden dort bleiben".

Im Irak haben die Äußerungen des Vorsitzenden der türkischen AK-Partei einen gewaltigen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Am 2. Oktober hat der schiitische Prediger Ajatollah Kassim Al Tai - ein ehemaliger Mitstreiter Muktada Al Sadrs, der inzwischen als Bewunderer des Regierungssystems der Islamischen Republik Iran gilt - in einer Fatwa irakischen Schiiten erklärt, es sei deren "religiöse, moralische und gesellschaftliche Pflicht, sich der Präsenz türkischer Streitkräfte" im Zweistromland "militärisch zu widersetzen". Darüber hinaus rief Al Tai zum Boykott türkischer Produkte und Unternehmen auf.

Am 4. Oktober hat das Parlament in Bagdad formell die türkischen Streitkräfte im Irak als "feindliche Besatzungstruppen" bezeichnet und deren Ausweisung formell beschlossen. Daraufhin wurden die Botschafter beider Länder jeweils in das Außenministerium in Ankara und Bagdad einbestellt und über die Unzufriedenheit der Regierung des Gastlandes in Kenntnis gesetzt. Am 5. Oktober hat Premierminister Abadi seine Verärgerung über die Anwesenheit türkischer Streitkräfte im Nordirak freien Lauf gelassen und dabei eine deutliche Warnung abgegeben: "Wir haben mehr als einmal die türkische Seite gebeten, sich nicht in irakische Angelegenheiten einzumischen, und ich befürchte, daß sich das türkische Abenteuer in einen Regionalkrieg verwandeln könnte. ... Das Verhalten der türkischen Führung ist inakzeptabel, und wir wollen nicht in eine militärische Konfrontation mit der Türkei geraten." Am 6. Oktober hat das Außenministerium in Bagdad eine Sondersitzung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen zum Thema der fortgesetzten Verletzung der staatlichen Souveränität des Iraks durch die Türkei beantragt.

Während der stellvertretende türkische Premierminister Numan Kurtulmus den Standpunkt vertritt, daß "niemand das Recht gegen die türkische Präsenz im Irak zu protestieren" habe, "wo doch das Land ohnehin stark fragmentiert" sei, sehen die Iraker das natürlich ganz anders. In einer eigenen Stellungnahme hat das Pressebüro der Volksmobilisierungskräfte in Reaktion auf Erdogans Aussage zu Mossul erklärt: "Niemand hat das Recht - insbesondere nicht die Vertreter ausländischer Staaten - eine Diskriminierungspolitik über irgendeinem Teil von Irak zu verhängen und darüber zu befinden, wer in seine Häuser zurückkehren darf oder nicht." In einem Artikel, der am 7. Oktober beim Onlineportal Middle East Eye unter der Überschrift "Iraqi forces threaten to attack Turkish troops as Mosul battle looms" hat Ahmad Al Assadi, der Sprecher der Volksmobilisierungskräfte, die "illegale" Anwesenheit der türkischen "Besatzungstruppen" nahe Mossul scharf kritisiert und ein militärisches Vorgehen gegen sie als eine mögliche Option genannt. "... wir haben das Recht, alle uns zur Verfügung stehenden Mittel gegen die Besatzer einzusetzen", so Al Assadi. Es hat den Anschein, als würde die Offensive gegen IS in Mossul lediglich der Beginn eines blutigen Ringens um die ölreiche Region Ostsyrien/Nordirak einläuten.

7. Oktober 2016


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