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NAHOST/1476: Leiten Obama und Erdogan die Teilung Syriens ein? (SB)


Leiten Obama und Erdogan die Teilung Syriens ein?

Ankara steckt seine Claims mit einer "Antiterror"-Offensive ab


Auf dem G20-Treffen am 4. und 5. September im chinesischen Hangzhou haben die Präsidenten der USA, Rußlands und der Türkei den Medien und der Weltöffentlichkeit großes diplomatisches Theater geboten. Nach außen hin wurden Hoffnungen geweckt, Barack Obama und Wladimir Putin könnten sich mit Hilfe Recep Tayyip Erdogans auf die Bedingungen für einen tragfähigen Waffenstillstand im Syrienkrieg verständigen. Doch die von Moskau und Washington gleichermaßen in Aussicht gestellte Einigung erwies sich als Fata Morgana. Die sich gegenseitig belauernde, wenig herzliche Körpersprache von Obama und Putin nach ihrem 90minütigen Gespräch, das "hart", aber "sachlich" verlaufen sein soll, war eindeutig negativ. Obama sprach von "fehlendem Vertrauen" der amerikanischen Seite gegenüber der russischen. Entgegen der herausgegebenen Schutzbehauptung, Russen und Amerikaner trennten in der Syrien-Frage nur noch einige Details, mit denen sich die Außenminister John Kerry und Sergej Lawrow in den kommenden Tagen befassen sollten, scheint es grundsätzlich unterschiedliche Interessen in bezug auf die Krise in Syrien zu geben.

Bereits im Februar hatten sich in Genf Vertreter der "internationalen Gemeinschaft", des "Regimes" Baschar Al Assads in Damaskus sowie der wichtigsten "gemäßigten" Rebellengruppen auf einen Waffenstillstand geeinigt, der jedoch zu keinem Zeitpunkt richtig gegriffen hat. Lawrow und Kerry verhandeln seit Monaten über eine neue Vereinbarung, ohne ihr spürbar näherzukommen. Während dieser Zeit hat Obamas Chefdiplomat mehrmals damit gedroht, daß die USA, sollte bis Ende August keine Kompromißlösung mit Rußland in seiner Funktion als militärischer Verbündeter des Assad-"Regimes" gefunden werden, statt dessen zur Verwirklichung eines eigenen "Plans B" übergehen könnten. Hinter Kerrys ominösem "Plan B" steckt nach Meinung vieler Beobachter ein Entwurf, den das Washingtoner Brookings Institute bereits im Juni 2015 unter der Überschrift "Deconstructing Syria: A New Strategy for America's Most Hopeless War" vorgelegt hat. Die Studie aus der den US-Demokraten nahenstehenden Denkfabrik sieht den Verzicht auf den einheitlichen Staat Syrien zugunsten einer losen Konföderation kleinerer ethnisch- und religiös begründeter Verwaltungseinheiten vor.

Am 5. September hat Starkolumnist Bret Stephens im einflußreichen Wall Street Journal die Teilung Syriens als "einzige Lösung" empfohlen und ihre Durchsetzung mit amerikanischer Waffengewalt gefordert. Als vermeintliches Erfolgsmodell verwies Stephens auf die Erfahrungen der NATO auf dem Westbalkan, ohne dabei die großen ethnischen Säuberungen und das ungeheure Blutvergießen zu erwähnen, die mit der Demontage der ehemaligen sozialistischen Bundesrepublik Jugoslawien und der komplizierten politischen Reorganisation auf deren früherem Staatsgebiet einhergingen.

Seit Monaten treten in den USA neokonservative Militaristen und humanitäre Interventionisten für ein stärkeres Engagement Amerikas in Syrien. Sie werfen Obama vor, zu zaghaft vorzugehen, und setzen auf einen Sieg Hillary Clintons bei der Präsidentenwahl im November. Als Außenministerin hatte Bill Clintons Gattin 2011 als erste den Rücktritt Assads zur Bedingung für Frieden und Stabilität erklärt. Zusammen mit dem damaligen CIA-Chef David Petraeus sorgte sie dafür, daß nach dem Sturz Muammar Gaddhafis größere Mengen Waffen sowie zahlreiche gewaltbereite Dschihadisten aus Libyen über die Türkei nach Syrien gelangten. Clinton will eine Flugverbotszone über Syrien durchsetzen, um die syrische Luftwaffe funktionsunfähig zu machen. Die Maßnahme wird als Mittel zum Schutz der Zivilbevölkerung verkauft, soll aber in erster Linie den Aufständischen zugute kommen.

Vor diesem Hintergrund sieht der Einmarsch der türkischen Streitkräfte in den Norden Syriens Ende August nach dem ersten Schritt hin zur Teilung aus. Mit diesem Angriff wollte Ankara nach eigenen Angaben gegen die "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) vorgehen und zugleich die syrischen Kurden auf das Ostufer des Euphrat zurückdrängen. Der Kampf der türkischen Streitkräfte gegen die vom US-Militär unterstützten Syrischen Verteidigungskräfte (SDF), deren 50.000 Freiwillige hauptsächlich von den kurdischen Volkverteidigungseinheiten gestellt werden, ist in vollem Gange. Der IS ist jedoch der türkischen Armee bislang weitgehend ausgewichen - siehe die kampflose Einnahme der Stadt Dscharabulus. Darum besteht der Verdacht, daß die große Sicherheitszone, welche die Türken an der Nordgrenze Syriens einrichten, vor allem dazu dienen soll, ein Kappen der Nachschubwege für die gewaltbereiten Assad-Gegner zu verhindern, die angesichts der jüngsten Erfolge der von Rußland und dem Iran unterstützen Syrisch-Arabischen Armee (SAA) um Aleppo ins Hintertrffen geraten sind.

Nach dem gescheiterten Putschversuch gegen Erdogan Mitte Juli hat es den Anschein gehabt, als wende sich die Türkei von den USA ab, dafür Rußland und dem Iran zu. Schließlich haben sich Moskau und Teheran recht zügig, noch als der Putschversuch lief, hinter Erdogan gestellt und nicht erst danach, wie es Washington, Berlin, London und Paris taten. In den Wochen danach haben sich die Türkei und der Iran auf eine gemeinsame Basis für eine Beilegung des Krieges geeinigt, deren Kernpunkt das Bekenntnis zur Einheit Syriens war. Es besteht Grund zu Zweifeln, ob der Einfall der Türken in Syrien mit diesem Bekenntnis zu vereinbaren ist. Eher hat man den Eindruck, daß Ankara rechtzeitig seine Claims abstecken will, bevor das große Feilschen um Einfluß- und Mandatsgebiete beginnt. Bekanntlich sieht der Befriedungsplan des Brookings Institute die Entsendung von UN-Blauhelmen am Boden, die hauptsächlich aus islamischen Ländern wie der Türkei, Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Saudi-Arabien kommen, vor.

Die kurdischen YPG lehnen es ab, sich auf das Ostufer des Euphrat zurückzuziehen. Gut möglich, daß es deshalb zwischen ihnen und der türkischen Armee eine lange und harte Auseinandersetzung ähnlich derjenigen zwischen der PKK und Ankaras Sicherheitskräften im Osten Anatoliens geben wird. In einer solchen Situation droht die bisherige Allianz zwischen US-Spezialstreitkräften und YPG zu zerbrechen. Soll dann an Stelle letzterer die türkische Armee die Bodentruppen für die geplante Offensive des Pentagons gegen die IS-Hochburg in ostsyrischen Rakka stellen? Was wird dann aus den beiden Luftwaffenstützpunkten, welche die US-Streitkräfte im syrischen Kurdengebiet eingerichtet haben?

Rußland hat sich jedenfalls durch die Aufstockung seines Mittelmeerhafens in Tartus und den Ausbau des Militärflughafens Khmeimim bereits jetzt langfristig als Schutzmacht eines eventuellen alewitischen Zwergstaats auf dem Territorium des Gouvernements Latakia etabliert. Im Norden Syriens rücken die Türken auf breiter Front nach. Nach dem von den tonangebenden Kreisen herbeigesehnten Einzug Hillary Clintons ins Weiße Haus im Januar 2017 - vorausgesetzt, der Republikaner Donald Trump gewinnt nicht doch die Präsidentenwahl im November - werden die USA mit ihren europäischen NATO-Verbündeten und den arabischen Golfstaaten zur großen Flurbereinigung in Syrien aufrufen, die von einer Umwandlung des kriegs- und krisengeschüttelten Irak in eine Konföderation aus kurdischen, sunnitischen und schiitischen Teilen begleitet werden könnte. Immer stärker treten die Großmächte mit eigenem Militärpersonal und Waffensystemen auf dem Schlachtfeld Syrien in Erscheinung. Dies könnte zu einer Stabilisierung der Lage führen. Leider ist eher das Gegenteil zu befürchten.

7. September 2016


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