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NAHOST/1437: NATO blendet Warnungen vor Libyen-Intervention aus (SB)


NATO blendet Warnungen vor Libyen-Intervention aus

Nordatlantiker schlagen einheimische Lösung der Krise in Libyen aus


Ungeachtet dringender Warnungen namhafter libyscher Politiker und ausländischer Experten bereitet die NATO eine großangelegte Militärintervention in Libyen vor. Begründet wird die bevorstehende Operation mit dem Hinweis auf die Flüchtlingsproblematik im Mittelmeer, auf die zunehmenden Aktivitäten der "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) und auf die von ihm ausgehende Bedrohung für den libyschen Ölexport. Während Washington, London, Paris, Rom und Berlin das Militärabenteuer als Versuch verkaufen, Libyen zu stabilisieren, dürfte das Ergebnis genau das Gegenteil sein: mehr Krieg, mehr Tote, mehr Flüchtlinge, mehr "Terrorismus" und mehr Chaos. Aber wer weiß, möglicherweise ist dies genau das, was die NATO damit bezwecken will. Schließlich bezieht die Nordatlantische Allianz ihre Daseinsberechtigung aus dem Vorhandensein bzw. der Gefahr von Krieg, Chaos et cetera.

Seit Monaten versuchen die rivalisierenden Lager um den General National Congress (GNC) in Tripolis und das House of Representatives (HoR) im östlichen Tobruk ihre Differenzen beizulegen und den seit einem Jahr tobenden Bürgerkrieg zu beenden. Auf die Vermittlung der Vereinten Nationen verzichteten sie, als vor einigen Wochen bekannt wurde, daß der UN-Sondergesandte Bernardino Leon in heimlicher Absprache mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) Tobruk bevorzugte und Tripolis benachteiligte. Aus Dokumenten, die der Zeitung Middle East Eye zugespielt und von ihr veröffentlicht wurden, geht hervor, daß der spanische Diplomat beabsichtigte, eine Spaltung zwischen den Tripolis-Fraktionen, in erster Linie zwischen den Milizionären aus Misurata und der Moslem-Bruderschaft, herbeizuführen, um so eine Beteiligung der letzteren an der geplanten Regierung der nationalen Einheit zu verhindern.

Darum haben sich Vertreter von GNC und HoR am 6. Dezember in Tunis auf einen eigenen, von Leon und dessen Nachfolger als UN-Vermittler Martin Kobler völlig unabhängigen Plan zur Beilegung der politischen Krise geeinigt. Doch weil dieser Plan nicht die rasche Bildung einer Übergangsregierung vorsieht, welche die wartenden NATO-Mächte nach Libyen einlädt, wurde er von der "internationalen Gemeinschaft" schlichtweg für unannehmbar erklärt. Auf dem "Libyen-Gipfel" am 13. November in Rom haben sich die Außenminister von 17 Nationen - darunter die Großmächte USA, Großbritannien, Frankreich, Italien, Rußland, China, Ägypten und die Türkei - auf das von Leon erarbeitete, in Libyen selbst umstrittene UN-Befriedungskonzept als den einzigen akzeptablen Lösungsweg festgelegt und allen libyschen Anführer und Gruppierungen mit UN-Reise- und Finanzsanktionen gedroht, die diesen Kurs nicht mittragen wolllen.

Die Präsidenten beider Parlamente, sowohl des GNC in Tripolis und des HoR in Tobruk, Nouri Abusahmain und Aguila Saleh Issa, reisten am 14. Dezember nach Malta, um dort erstmals gemeinsam gegen eine Annahme des UN-Friedensplans zu protestieren. Vor Journalisten äußerte sich Abusahmain wie folgt: "Wir sind hierher gekommen, um der Welt zu erklären, daß wir in der Lage sind, mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft unsere Probleme zu lösen, daß wir aber eine ausländische Intervention gegen den Willen des libyschen Volkes ablehnen." Dessen ungeachtet haben NATO, EU und Vereinte Nationen die Führung in Tripolis und Tobruk dermaßen unter Druck gesetzt, daß unter der Aufsicht Koblers am 16. Dezember im marokkanischen Badeort Skirhat rund 30 Vertreter des GNC und des HoR ihre Unterschrift unter dem UN-Friedensplan geleistet haben.

Derzeit ist unklar, über welchen politischen Rückhalt diejenigen verfügen, die hier im Namen des libyschen Volkes gehandelt haben wollen. Fakt ist, daß die Annahme des UN-Friedensplans in Libyen selbst auf ein geteiltes Echo gestoßen ist. Sowohl in Tripolis als auch in Tobruk gab es nicht wenige Politiker und Milizionäre, welche gegenüber den Medien die Veranstaltung in Skirhat als selbstherrliche, illegitime Einmischung in die libyschen Angelegenheiten kritisierten. Nach dem UN-Friedensplan soll nun aus "gemäßigten" GNC- und HoR-Vertretern ein Präsidialrat gebildet werden, der die NATO formell um Hilfe bei der Bekämpfung des IS bittet, dessen Anhänger die Stadt Sirte und Umgebung kontrollieren und von dort aus die Ölregion Libyens zu erobern drohen.

Nach den schrecklichen, von IS-Freiwilligen verübten Anschlägen in Paris am 13. November waren es vor allem der britische und der französische Premierminister David Cameron und Manuel Valls sowie deren Verteidigungsminister Michael Fallon und Jean-Yves Le Drian, die der Notwendigkeit eines militärischen Eingreifens in Libyen im Rahmen des westlichen Anti-IS-Kreuzzugs das Wort geredet haben. Den jüngsten Medienberichten zufolge bereitet die NATO die Entsendung von bis zu 6.000 Soldaten unter einem italienischen Oberkommando nach Libyen vor, die befreundete libysche Streitkräfte bzw. Milizen ausbilden und im Kampf gegen den IS unterstützen sollen. Bereits jetzt ist absehbar, daß die Präsenz westlicher Truppen in Libyen nicht wenige Gruppen, vornemlich aus dem islamischen Spektrum, die dem IS bisher skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden, dazu veranlassen werden, dem Ruf des Kalifats zu folgen. Sobald sich der NATO-Vampir seine Einladung ins libysche Haus verschafft hat, werden die blutigen Folgen nicht ausbleiben.

21. Dezember 2015


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