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NAHOST/1428: Großbritannien will sich am Syrien-Krieg beteiligen (SB)


Großbritannien will sich am Syrien-Krieg beteiligen

Anschläge von Paris bieten London den ersehnten Vorwand


Medien und Politik Großbritanniens befinden sich wieder im Kriegsrausch. Auslöser sind diesmal die schrecklichen Anschläge von Paris, die am 13. November 130 Bistrogänger und Konzertbesucher das Leben gekostet haben und zu denen sich die "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) bekannt hat. Durch das schreckliche Massaker mitten in Europa sieht London angeblich die nationale Sicherheit des Vereinigten Königreiches akut gefährdet. Darum will die konservative Regierung von Premierminister David Cameron die bislang auf den Irak beschränkte Teilnahme der britischen Streitkräfte an der von den USA angeführten Anti-IS-Koalition auf das Nachbarland Syrien ausweiten.

Der Drang der britischen Polit- und Militärelite zum Mitmachen beim Syrien-Krieg hat jedoch weniger mit sicherheitspolitischen geschweige denn humanitären Erwägungen zu tun, sondern speist sich ausschließlich aus deren Wunsch, beim Ringen der Großmächte um Einfluß im Nahen Osten nicht das Nachsehen zu haben. Seit Tagen fliegt die französische Luftwaffe Vergeltungsangriffe auf die IS-Hochburg Rakka im Osten Syriens, während Paris den nuklear angetriebenen Flugzeugträger Charles de Gaulle in das östliche Mittelmeer entsandt hat. Rußland unterstützt seit September mit Kampfjets die Bodentruppen der Syrischen Arabischen Armee (SAA), der iranischen Revolutionsgarden und der schiitisch-libanesischen Hisb-Allah-Miliz im Kampf gegen IS, Al Nusra und andere aufständische Milizen und hat somit das "Regime" Baschar Al Assads in Damaskus vor dem drohenden Untergang bewahrt.

Die USA fliegen bereits seit August 2014 im Irak und Syrien Luftangriffe gegen den IS und haben vor kurzem 50 Elitesoldaten an die Grenze zur Türkei geschickt, welche die Peschmerga-Kämpfer der Autonomen Region Kurdistan und die syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) bei Operationen gegen die sunnitischen Dschihadisten koordinieren sollen. Seit einigen Monaten gehen die türkischen Streitkräfte in Ostanatolien gewaltsam gegen die kurdische Arbeiterpartei PKK - Schwesterorganistion der syrischen YPG - vor. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat offen mit einer Invasion gedroht, um die Entstehung eines eigenständigen kurdischen Ministaats im Norden Syriens zu verhindern. Durch die zunehmende Präsenz auf dem irakisch-syrischen Schlachtfeld wollen die imperialistischen Großmächte ihre Verhandlungsposition im Vorfeld der internationalen Bemühungen um eine Beilegung des Konflikts verbessern. Und da will Großbritannien, dessen Verteidigungsminister Philip Hammond am 1. November den ersten Spatenstich zum Bau eines neuen Marinestützpunkts für die Royal Navy, HMS Juffair, in Bahrain gemacht hat, nun mit Frankreich, Rußland, der Türkei und den USA gleichziehen.

Die Militaristen in London haben jedoch ein Problem. In der britischen Bevölkerung herrscht eine große Abneigung gegenüber Militärabenteuern im Ausland. Bis heute wirkt die katastrophale Entscheidung Tony Blairs, Großbritannien am illegalen, weil von den Vereinten Nationen nicht mandatierten, Irak-Einmarsch der USA im Jahr 2003 zu beteiligen, die allgemein als schwerster außenpolitischer Fehler Londons seit der Suez-Krise 1956 gilt, nach. Im September ist mit Jeremy Corbyn ein ausgesprochener Kriegsgegner mit überwältigender Mehrheit von der Parteibasis zum neuen Chef der oppositionellen britischen Sozialdemokraten gewählt worden. Corbyn, der zum linken Flügel der Labour Party gehört, stand zuletzt der Antikriegskampagne Stop the War Coalition vor und hatte maßgeblich jene Friedensdemonstration am 15. Februar 2003 mitorganisiert, die mit rund zwei Millionen Teilnehmern zur größten Massenkundgebung in der Geschichte Großbritanniens avancierte.

Seit Wochen wird daher seitens der Regierung, des Militärs und der Medien gegen den Abgeordneten für den Londoner Wahlbezirk Islington North gehetzt. Finanzminister George Osborne hatte noch den innerparteilichen Wahlsieg Corbyns zu verhindern versucht, indem er ihn im Vorfeld als möglichen künftigen Labour-Chef zur "Bedrohung der nationalen Sicherheit" hochstilisierte. Wenige Tage nachdem die Wahl Corbyns feststand, erschien bei Rupert Murdochs Sunday Times ein Interview mit einem nicht namentlich genannten General, der mit einem Militärputsch für den Fall drohte, daß bei der nächsten Parlamentswahl die Labour-Partei gewänne und Corbyn in die Downing Street 10 zöge. Als Corbyn bei seinem ersten öffentlichen Auftritt als neuer Labour-Vorsitzender auf einer Gedenkveranstaltung zu Ehren der Helden der Luftschlacht um England nicht lautstark in die Nationalhymne "God Save The Queen" mit einstimmte, fiel die gesamte britische Boulevardpresse wegen Majestätsbeleidigung über ihn her.

Kaum ein Tag vergeht, an dem die britischen Hurrapatrioten nicht etwas an Corbyn auszusetzen haben. Am 8. November empörten sich jene Kreise erneut über den demokratischen Sozialisten und bekennenden Republikaner, weil er sich bei der Gedenkveranstaltung zum Ersten Weltkrieg angeblich nicht tief genug vor dem Cenotaph im Herzen Londons verneigt hatte. Am nächsten Tag hat Großbritanniens oberster Militär, General Sir Nicholas, sich in einem Interview mit der BBC "besorgt" darüber geäußert, daß dem Land nach den nächsten Parlamentswahlen mit Corbyn ein Regierungschef drohe, der sich weigern könnte, den Befehl zum Einsatz der britischen Atomraketen vom Typ Trident zu geben. Zuvor hatte sich Houghton gegenüber dem privaten Nachrichtensender Sky News, der ebenfalls dem erzreaktionären australo-amerikanischen Verleger Murdoch gehört, darüber beschwert, daß Großbritannien seine engsten NATO-Verbündeten USA und Frankreich dadurch "im Stich lasse", daß man noch immer nicht bei der Bombardierung des IS in Syrien dabei sei.

Nach den Ereignissen von Paris will Cameron diesen Umstand so schnell wie möglich beheben und bereitet deshalb eine entsprechende Kriegsermächtigung vor, die alle großen Parteien im Londoner Unterhaus gemeinsam verabschieden sollen. Die Abstimmung könnte jedoch zur Spaltung der Labour Party führen. Die Mehrheit der Labour-Fraktion, die weitestgehend aus opportunistischen Technokraten und Blair-Zöglingen besteht, droht Corbyn bereits damit, die Gefolgschaft zu verweigern, sollte er ihnen nicht erlauben, bei der Abstimmung "nach Gewissen" - konkret heißt das für den Krieg - zu entscheiden. Bei Unterhausdebatten muß sich Corbyn dieser Tage gefallen lassen, von den Labour-Hinterbänklern und Mitgliedern des eigenen Schattenkabinetts öffentlich kritisiert zu werden, weil er in Reaktion auf die Ereignisse von Paris dafür plädiert, mutmaßliche "Terroristen" in Großbritannien von der Polizei verhaften und von Gerichten verurteilen zu lassen, statt sie auf der Stelle zu erschießen. So ergeht es dem Volksvertreter, der in "Kriegszeiten" an die Vernunft appelliert und sich des billigen Populismus enthält.

20. November 2015


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