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NAHOST/1280: Giftgasangriff in Syrien - Belog Obama die Welt? (SB)


Giftgasangriff in Syrien - Belog Obama die Welt?

Seymour Hersh stellt die Kriegstreiber in Sachen Syrien bloß



Seit den Tagen des Vietnamkrieges hat Seymour Hersh mit seinen Enthüllungen - bekannteste Beispiele sind 1969 das Massaker im südvietnamesischen Dorf My Lai und 2004 die Folterpraktiken im irakischen Militärgefängnis Abu Ghraib - zum besseren Verständnis der Außen- und Sicherheitspolitik der USA beigetragen. Es mutet daher merkwürdig an, daß weder die Zeitschrift New Yorker, wo Hersh seit 20 Jahren regelmäßig Artikel veröffentlicht, noch die Zeitung Washington Post etwas vom jüngsten Bericht des Pulitzerpreisträgers wissen wollten. Vor dem Hintergrund der laufenden Affäre um die elektronische Ausspionage Milliarden unbescholtener Bürger weltweit durch die National Security Agency (NSA) scheuten sich die beiden liberalen Blätter offenbar vor der weiteren Demontage ihres demokratischen US-Präsidenten Barack Obama. Statt dessen erschien Hershs spektakulärer Artikel "Whose Sarin?" ("Wessen Sarin?") über Washingtons unzulässige, weil einseitige Bezichtigung der staatlichen Streitkräfte Syriens, sie hätten am 21. August Al Ghouta, einen Vorort von Damaskus, der damals in Rebellenhand stand, mit sarinhaltigen Raketen beschossen und dabei Hunderte von Zivilisten, darunter zahlreiche Frauen und Kinder, getötet, am 8. Dezember bei der London Review of Books.

Nachdem Obama im August 2012 erklärt hatte, falls die Armee von Präsident Baschar Al Assad jemals chemische Waffen gegen die Aufständischen einsetzt, würde sie eine "rote Linie" überschreiten, was unweigerlich das Eingreifen der US-Streitkräfte in den syrischen Bürgerkrieg nach sich zöge, gab es Bestrebungen vor allem seitens Saudi-Arabiens, Israels sowie des militärischen Flügels bei den Republikanern und des interventionistischen Flügels bei den Demokraten, den Ernstfall im Kongreß herbeizuführen bzw. -zureden. Im Frühjahr 2013 wurden von besagten Kräften vier begrenzte Vorfälle - einer im Dezember 2012 bei Homs, zwei bei Aleppo am 19. März sowie ein weiterer am selben Tag in der Nähe von Damaskus - als Überschreiten von Obamas "roter Linie" hochstilisiert. Aus Angst, von fremder Hand in ein Militärabenteuer gestürzt zu werden, hat der US-Präsident Ende April seine Bedingungen qualifiziert: die "rote Linie" wäre erst im Falle des "systematischen" Einsatzes von Chemiewaffen durch die syrischen Streitkräfte überschritten.

Als Anfang Mai Carla del Ponte öffentlich erklärte, die meisten Indizien sprächen dafür, daß bei den genannten Vorfällen in Aleppo und Damaskus die Rebellen selbst die chemiewaffenhaltigen Granaten abgefeuert hätten, widersprach das Weiße Haus der renommierten UN-Ermittlerin aufs heftigste. Als Ende Mai die türkische Polizei bei Razzien nahe der Grenze zu Syrien gegen die islamistische Al-Nusra-Front neben zahlreichen konventionellen Rüstungsgegenständen auch zwei Kilo Sarin beschlagnahmte, wurde dies von der Obama-Regierung offiziell nicht zur Kenntnis genommen - jedenfalls nicht nach außen. Das Gleiche galt für die Aufdeckung dreier Labors zur Herstellung chemischer Kampfstoffe, welche Al-Kaida-nahe Kräfte in Bagdad betrieben, Anfang Juni durch die irakische Polizei.

Dennoch verwunderte es kritische Beobachter, als am 10. September Barack Obama bei einer Live-Ansprache im amerikanischen Fernsehen erklärte, seine Regierung wisse kategorisch, daß am 21. August die syrischen Streitkräfte in Al Ghouta einen verheerenden Giftgasangriff durchgeführt hätten, was eine militärische Antwort seitens der USA zwingend erforderlich mache. US-Außenminister John Kerry war noch weitergegangen, als er in den ersten Tagen nach dem Vorfall die Anzahl der Getöteten genau auf 1429 Menschen, darunter 426 Kinder, bezifferte. Bis heute weigert sich das State Department darzulegen, wie Kerry zu dieser Zahl kam, die dreimal höher als etwaige Schätzungen des britischen Außenministeriums und der in Syrien tätigen Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen lag.

Noch während die Obama-Administration eine großangelegte Kampagne für die bevorstehenden Raketenangriffe startete, brach ihnen bereits das politische Fundament für die Aktion unter den Füßen weg. Schon am 29. August hatte das Unterhaus in London nicht zuletzt wegen der anhaltenden Kontroverse um die eigentliche Urheberschaft für das Massaker von Al Ghouta gegen die Teilnahme der britischen Streitkräfte an der angekündigten Strafmaßnahme in Syrien votiert und damit der konservativ-liberalen Koalitionsregierung von Premierminister David Cameron ihre schwerste außenpolitischen Niederlage zugefügt. Als am 9. September Kerry bei einer Pressekonferenz in London auf die Frage eines Journalisten bemerkte, nur durch den vollständigen Verzicht auf sein Chemiewaffenarsenal könnte Assad den drohenden US-Militärangriff noch abwenden, willigte Damaskus gleich einen Tag später in genau diesen Punkt ein. Angesichts dieser Wende und der großen Gefahr, im Repräsentantenhaus keine Mehrheit für eine Kriegsermächtigung zu bekommen, blieb Obama praktisch keine Wahl, als von dem Vorhaben abzusehen. Seitdem sind die Beziehungen der USA zu Israel und Saudi-Arabien angespannt. Tel Aviv und Riad sowie ihre Freunde im US-Kongreß werfen Obama vor, das Assad-"Regime" davonkommen zu lassen, statt es zu stürzen.

In seinem ausführlichen Artikel für die London Review of Books geht Hersh der Stichhaltigkeit jener Beweise nach, die Ende August, Anfang September Obama, Kerry, die Nationale Sicherheitsberaterin Susan Rice und UN-Botschafterin Samantha Power gegen die syrischen Streitkräfte ins Feld geführt haben. Anhand von Dokumenten sowie Aussagen nicht namentlich genannter ehemaliger sowie heute noch im Dienst befindlicher Angehöriger der US-Geheimdienste kommt Hersh zu mehreren beunruhigenden Feststellungen. Entgegen anderslautenden Behauptungen verfügten die US-Geheimdienste im Vorfeld über keinerlei Hinweise, daß die syrische Armee einen Giftgasangriff auf Al Ghouta vorbereitete. Das Gegenteil ist der Fall. Meßgeräte, welche die CIA in der Nähe entsprechender Militärinstallationen in Syrien plaziert hatten, haben keine ungewöhnlichen Aktivitäten registriert. In Ermangelung konkreter Beweise haben die Verantwortlichen im Nationalen Sicherheitsrat Obamas nach der Tat mit Hilfe der NSA aus alten Funksprüchen der syrischen Streitkräfte einen Ablauf konstruiert, der detailiert aufzeigen sollte, daß die angeblichen Vorkehrungen dazu - beispielsweise die Verteilung von Gasmasken - drei Tage vor dem Vorfall von Al Ghouta erfolgt seien. Ob Präsident Obama selbst von diesen Machenschaften wußte, die stark an den Golf-von-Tonkin-Vorfall 1964 bzw. an Colin Powells berühmt-berüchtigte Präsentation 2003 vor dem UN-Sicherheitsrat zu Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen erinnern, bleibt unklar. Zum Ende seines Artikels schreibt Hersh folgendes:

Die Verzerrung der Tatsachen um den Sarin-Angriff durch die Administration wirft die unvermeidliche Frage auf: Kennen wir die ganze Geschichte von Obamas Bereitschaft, auf seine "rote Linie" und damit auf das angedrohte Bombardement Syriens zu verzichten? Er behauptete, über einen wasserdichten Fall zu verfügen, erklärte sich dann aber plötzlich bereit, sich an den Kongreß zu wenden und später das Angebot Assads zum Verzicht auf seine Chemiewaffen zu akzeptieren. Es erscheint möglich, daß er irgendwann mit gegenteiligen Informationen konfrontiert wurde; Hinweise, die stark genug waren, um ihn dazu zu veranlassen, seinen Angriffsplan aufzukündigen und sich der mit Sicherheit zu erwartenden Kritik der Republikaner auszusetzen.

Mehrere Quellen derlei "gegenteiliger Informationen" kommen in Betracht, darunter Rußland, dessen Geheimdienst angeblich über Beweise für Sarin in den Händen islamistischer Rebellen in Syrien verfügte, und das Pentagon. Schließlich führte in den Monaten vor dem 21. August Generalstabschef Martin Dempsey diejenigen im US-Sicherheitsapparat an, die aus naheliegenden Gründen ein Eingreifen Amerikas in den Syrien-Konflikt ablehnten, wofür er von Kriegstreibern wie dem republikanischen Senator John McCain als Defätist und Zauderer beschimpft wurde. Als Hauptverfechter der These, Assads Truppen hätten Al Ghouta mit Sarin-Gas beschossen, wird im Hersh-Artikel CIA-Chef John Brennan identifiziert. Einer von Hershs Informanten, ein ehemaliger ranghoher Geheimdienstmitarbeiter, spricht in diesem Zusammenhang von einem "enormen politischen Druck", der auf Obama ausgeübt wurde, um den "Rebellen zu helfen." In seiner frühen Karriere arbeitete Brennan als CIA-Stationsleiter an der US-Botschaft in Riad. Das würde vielleicht erklären, warum er sich für eine Operation stark machte, welche den Handlangern Saudi-Arabiens in Syrien zum Sieg gegen die Assad-Truppen verhelfen sollte. Auch sollte die Tatsache nicht vergessen werden, daß Brennan zu den engsten Mitarbeitern George Tenets gehörte, als der damalige CIA-Chef für Präsident George W. Bush 2002 und 2003 die Geheimdiensterkenntnisse zwecks Irak-Invasion manipulierte.

10. Dezember 2013