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NAHOST/1205: Mohammed Mursi versagt als Präsident "aller Ägypter" (SB)


Mohammed Mursi versagt als Präsident "aller Ägypter"

Nachfolger Hosni Mubaraks bleibt größtem koptischen Festakt fern



Überschattet vom erneuten Krieg zwischen dem von der Hamas-Bewegung regierten palästinensischen Gazastreifen und Israel ist es am 18. November in Ägypten zu einem Eklat gekommen, der von der internationalen Presse kaum zur Kenntnis genommen wurde, dafür jedoch extrem negative Folgen für das gesellschaftliche Miteinander im bevölkerungsreichsten Land der arabischen Welt haben dürfte. Zu der feierlichen Inthronisierung des neuen Papstes der orthodoxen koptischen Kirche Ägyptens, Tawadros II, in der Kairoer Sankt-Markus-Kathedrale ist Mursi trotz Einladung nicht erschienen. Nach seiner Wahl zum Staatsoberhaupt im Juni ist Mursi demonstrativ aus der Moslembruderschaft ausgetreten, um Präsident "aller Ägypter" und nicht nur der eigenen Glaubensbrüder bzw. politischen Gefährten zu sein. Durch sein Fernbleiben bei der Einführung des neuen Oberhaupts der orthodoxen koptischen Kirche ist Mursi am eigenen Anspruch dermaßen kläglich gescheitert, daß man Angst um die Zukunft der christlichen Gemeinde in Ägypten haben muß.

Aktuell wird Mursi als großer Staatsmann gefeiert. Gleich nach Beginn der israelischen Angriffe auf den Gazastreifen am 14. November verurteilte Ägyptens erster ziviler Präsident diese als "inakzeptable Aggression" und rief aus Protest den ägyptischen Botschafter Atef Mohamed Salem aus Israel ab. Am 16. November beorderte Mursi den ägyptischen Premierminister Hischam Kandil nach Gaza-Stadt, wo sich dieser mit der Hamas-Führung traf und sich solidarisch mit den Menschen in der Mittelmeerenklave erklärte. Währenddessen machte Mursi in telefonischer Absprache mit US-Präsident Barack Obama Kairo zum Zentrum der Bemühungen um einen Waffenstillstand. In der ägyptischen Hauptstadt sucht er mit dem türkischen Premierminister Recep Tayyip Erdogan, dem Hamas-Chef Khaled Maschaal, den Außenministern Katars und der Vereinigten Arabischen Emirate sowie angeblich sogar einem Gesandten der Regierung Israels nach einen Ausweg aus der Krise, um zu verhindern, daß es zur angedrohten Bodenoffensive der israelischen Streitkräfte im Gazastreifen kommt. Denn aus einer solchen Eskalation, die sehr blutig zu werden verspricht, könnte ein größerer Regionalkrieg entstehen. Ägypten könnte sich beispielsweise wegen des Drucks der eigenen Bevölkerung gezwungen sehen, militärisch einzugreifen. Dies käme einer Aufkündigung des Camp-David-Friedensabkommens von 1978 gleich.

Bei allem Verständnis für Mursis derzeitigen Arbeitspensum sind die diplomatischen Verhandlungen in der Gaza-Krise kein ausreichendes Argument für sein Nicht-Erscheinen bei der Inthronisierung von Tawadros II. Da er sich am fraglichen Tag ohnehin in Kairo aufhielt, hätte ihm ein kurzer Abstecher in der Sankt-Mark-Kathedrale höchstens ein bis zwei Stunden gekostet. Der Amtsantritt des neuen Führers der orthodoxen koptischen Kirche ist ein Ereignis von großer symbolischer Bedeutung. Der letzte Papst, Schenouda III, war im März nach vier Jahrzehnten als Hirte seiner Gemeinde, die größte und mithin die älteste in der arabischen Welt, gestorben. Von den 82 Millionen Ägyptern sind zwischen 10 und 14 Millionen Kopten. Seit dem Sturz des Diktators Hosni Mubarak im Februar 2011 sehen sich Ägyptens Kopten verstärkt Übergriffen sunnitischer Fanatiker, vor allem seitens der stets gewaltbereiten Salafisten, ausgesetzt.

Die Salafisten, deren Partei des Lichts - schon der Name spricht für den Eigendünkel ihrer Mitglieder - bei den Parlamentswahlen zur Jahreswende 2011/2012 zweitstärkste Kraft hinter Mursis Freiheits- und Gerechtigkeitspartei wurde, drängen darauf, daß die neue ägyptische Verfassung, die derzeit ausgearbeitet wird, ausschließlich auf die islamische Rechtsprechung, die Scharia, basiert. Gegen dieses Vorhaben laufen die säkularen und christlichen Kräfte Ägyptens Sturm, haben sich jedoch nicht durchsetzen können. Offenbar hält Mursis angeblich gemäßigte Moslembruderschaft es für wichtiger, sich gegenüber den Salafisten in Sachen Scharia keine Blöße zu geben, als sich für den gesellschaftlichen Konsens mit den Christen, muslimischen Säkularisten und Atheisten einzusetzen. Innerhalb der 100köpfigen, verfassungsgebenden Versammlung haben Salafisten und Moslembrüder quasi eine Zweidrittelmehrheit und setzen diese offenbar rücksichtslos durch. Entnervt haben die vier Vertreter der drei größten christlichen Gemeinden Ägyptens - der orthodoxen koptischen Kirche, der katholischen koptischen Kirche und der anglikanischen Kirche - am 16. November die Zusammenarbeit in der Versammlung aufgekündigt.

Enttäuschend, wenn nicht gerade überraschend war Präsident Mursis Fernbleiben von der Messe zur Inthronisierung von Tawadros II. Die Enttäuschung wiegt um so schwerer, da Mursi ursprünglich zu erscheinen versprochen hatte, sollte er eingeladen werden. Trotz der förmlichen Einladung hat er sich dann anders entschieden. Nach dem Sturz des säkularen "Regimes" Saddam Husseins 2003 haben die meisten Christen des Iraks ihrem Land wegen der ausgebrochenen religiösen Kämpfe den Rücken kehren müssen. Im laufenden Bürgerkrieg in Syrien kommt es immer wieder zu Massakern salafistischer Dschihadisten in christlichen und alewitischen Dörfern und Stadtteilen. Auch in Syrien besteht die Sorge, daß die Christen dort nach fast 2000 Jahren vor der endgültigen Vertreibung stehen. Sollte es irgendwann demnächst zu einem ähnlichen Szenario am Nil kommen, dann nicht zuletzt, weil Mohammed Mursi es im entscheidenden Moment nicht für nötig hielt, mit einer kleinen Geste den religiösen Graben zwischen Muslimen und Christen zu überwinden.

19. November 2012