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NAHOST/1079: NATO-Krieg gegen Libyen löst humanitäre Katastrophe aus (SB)


Zivile Opfer, Flüchtlingsströme, sterbende Migranten


Der Angriffskrieg der NATO zur Erzwingung des Regimewechsels in Libyen - legitimatorisch verkürzt auf die Beseitigung Muammar al-Gaddafis einschließlich seiner gezielten Tötung - produziert eine humanitäre Katastrophe, deren Urheberschaft systematisch ausgeblendet wird. Die durch die Luftunterstützung der beteiligten westlichen Mächte zugunsten der Rebellen befeuerten Kämpfe mit den Regierungstruppen fordern zahlreiche Opfer, Zehntausende Libyer versuchen sich vor den Auseinandersetzungen in Sicherheit zu bringen, im Mittelmeer ertrinken, verdursten und verhungern Flüchtlinge zu Hunderten. Ungerührt beharren führende Repräsentanten der NATO auf der vom UN-Sicherheitsrat mandatierten Doktrin, der Einsatz militärischer Mittel diene ausschließlich dem Zweck, die Zivilbevölkerung vor Übergriffen durch die Gaddafi-Truppen zu schützen.

Bei erneuten Luftangriffen auf Ziele in der libyschen Hauptstadt Tripolis sind in der Nacht zum Dienstag vier Gebäudekomplexe bombardiert worden, darunter offenbar auch ein Anwesen der Familie Gaddafis. Dessen jüngster Sohn und drei seiner Enkel waren Ende April bei einem solchen Überfall getötet worden. Nach Angaben libyscher Behörden wurden beim jüngsten Raketenangriff vier Kinder zum Teil schwer verletzt. Die Behörden zeigten Medienvertretern ein zerstörtes Gebäude, das die libysche Hochkommission für Kinder beherbergt haben soll. Wie eine Bewohnerin der Stadt dem arabischen Nachrichtensender Al-Dschasira telefonisch berichtete, würden die Lebensumstände in Tripolis immer schwieriger, da es an Nahrungsmitteln, Treibstoff und Medikamenten fehle. [1]

Unterdessen bedrohen die Kämpfe in Misrata das Hafengebiet der Stadt, so daß Hilfsschiffe wegen der Gefechte kaum anlegen können. Nach Angaben des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes konnte am Montag ein Schiff mit medizinischen Gütern und Babynahrung in Misrata anlegen. Es war das erste Schiff seit Mittwoch vergangener Woche, das die Stadt erreichte. UN-Nothilfekoordinatorin Valerie Amos rief alle am Konflikt beteiligten Seiten zu einer Waffenruhe auf, um die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrung, Wasser, medizinischer Hilfe und sonstigen Hilfsgütern zu ermöglichen. Wie sie dem UN-Sicherheitsrat in New York sagte, würde eine Kampfpause den Hilfsorganisationen zudem erlauben, noch immer im Land festsitzende ausländische Arbeiter zu evakuieren. [2]

Die Britin entwarf ein düsteres Bild der humanitären Situation in Libyen, wo seit Beginn der Kämpfe Mitte Februar fast eine dreiviertel Million Menschen aus dem Land geflohen und weitere 65.000 im eigenen Land auf der Flucht seien. Viele von ihnen hätten kaum Nahrung und Wasser, die medizinische Versorgung sei unzureichend. Da auch Benzin knapp sei, hingen Zehntausende an den Grenzen fest. Der weitreichende Mangel lähme das ganze Land, und dieser Notstand werde den überwiegenden Teil der Bevölkerung noch über Monate in Mitleidenschaft ziehen. Die humanitären Probleme nähmen mit jedem Tag zu.

Die Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks, Melissa Fleming, forderte die europäischen Länder, deren Schiffe im Mittelmeer vor Libyen patrouillieren, zu aktiverer Hilfe für Flüchtlingsboote auf. Wie sie in Genf anmahnte, müsse jedes Boot, das Libyen verläßt, vom ersten Moment an als hilfsbedürftig angesehen werde. Man dürfe nicht auf einen Notruf warten, sondern solle die Flüchtlinge sofort retten. Nach Informationen eines somalischen Diplomaten seien die Leichen von 16 Flüchtlingen geborgen worden, deren mit 600 Personen besetztes Boot am Freitag vor Tripolis unterging. Flüchtlinge auf Lampedusa hatten zuvor der Nachrichtenagentur Ansa berichtet, daß ein überfülltes Boot noch in Ufernähe gekentert sei. Man habe beobachtet, daß "Dutzende und Dutzende" Menschen ertrunken seien, die sich schwimmend ans Ufer zu retten versuchten. [3]

Spanische Patrouillen hatten am Freitagmorgen ein mit afrikanischen Flüchtlingen besetztes Boot rund 30 Seemeilen vor der südspanischen Stadt Motril entdeckt. Das vollbesetzte Boot war in Seenot geraten, doch konnte nur ein Teil der Passagiere gerettet werden. Die Behörden leiteten die Suche nach 19 Männern, einer Frau und zwei Kindern ein, die seit der Havarie vermißt werden. [4]

UNHCR-Sprecherin Laura Boldrini zufolge haben in den vergangenen Monaten mindestens drei Flüchtlingsschiffe Libyen verlassen und Italien nie erreicht. Bis zu 1.000 Menschen könnten dabei ums Leben gekommen sein. Unterdessen wurden vor Lampedusa die Leichen von drei Flüchtlingen geborgen, welche die Küstenwache bei Bergungsarbeiten unter einem Boot entdeckt hatte, das am Vortag mit rund 500 Passagieren aus Libyen an Bord vor dem Hafen auf Felsen aufgelaufen war. Viele der verzweifelten Menschen hatten sich in einer Massenpanik ins Wasser gestürzt.

Auf der 20 Quadratkilometer großen Mittelmeerinsel sind seit Beginn der Umwälzungen in Nordafrika im Januar etwa 30.000 Flüchtlinge gelandet, davon rund 25.000 aus Tunesien. Da viele Tunesier nach Frankreich wollen, hatte die italienische Regierung Visa für den Schengen-Raum ausgestellt, was zu einer Kontroverse mit Frankreich und Deutschland führte. Frankreich und Italien erhoben wenig später gemeinsam die Forderung, wieder Grenzkontrollen innerhalb der Schengen-Staaten zuzulassen.

Für heftigen Wellenschlag in den Medien sorgte der gestrige Beitrag in der Online-Ausgabe des britischen Guardian, der unter Berufung auf Augenzeugen berichtete, daß zwischen dem 25. März und 10. April 61 von insgesamt 72 Passagieren eines libyschen Flüchtlingsbootes, das nach Treibstoffverlust manövrierunfähig zwischen Libyen und Italien auf offenem Meer trieb, verdurstet und verhungert seien. Besonders brisant war bei dieser Katastrophe der unmittelbare Nachweis, daß die Flüchtlinge von europäischen Behörden und der NATO ihrem Schicksal überlassen wurden.

Nachdem das Boot in Seenot geraten war, rief der aus Ghana stammende Kapitän per Satellitentelefon die Flüchtlingsorganisation Habeshia an, die daraufhin die italienische Küstenwache informierte. Deren Generalkommando bestätigte den Eingang des Notrufs, den man jedoch an die Kollegen in Malta weitergeleitet habe, da sich das Flüchtlingsboot angeblich außerhalb der italienischen Such- und Rettungszone befand. Den Überlebenden zufolge näherte sich kurz nach dem Notruf ein Militärhubschrauber unbekannter Herkunft, dessen Piloten Wasser und Kekse abwarfen und versicherten, Hilfe sei auf dem Weg. Dann sei die Maschine mit dem Schriftzug "Army" wieder verschwunden. Ein Sprecher der maltesischen Armee bestätigte die Kontaktaufnahme durch die italienischen Behörden, doch habe sich das fragliche Boot außerhalb der maltesischen Such- und Rettungszone befunden, weshalb die libyschen Behörden verantwortlich gewesen seien. Er bestritt zugleich, daß maltesische oder italienische Armeehubschrauber über dem Flüchtlingsboot gekreist seien.

Während die Menschen an Bord des manövrierunfähig treibenden Bootes ohne Wasser und Lebensmittel vergeblich auf Rettung warteten, näherte sich am 29. oder 30. März ein Flugzeugträger, bei dem es sich laut Guardian vermutlich um den atomgetriebenen Träger der französischen Marine, Charles de Gaulle, handelte. Zwei Flugzeuge sollen über dem Boot gekreist und wieder abgedreht sein. Der Sprecher der französischen Armee, Colonel Thierry Burkhard, erklärte dazu, die Charles de Gaulle habe zu keinem Zeitpunkt Kontakt mit dem genannten Boot gehabt. Auch kein anderes französisches Schiff sei in der Nähe gewesen.

Laut NATO-Sprecherin Carmen Romero stand mit dem italienischen Kriegsschiff Garibaldi nur ein Flugzeugträger unter NATO-Kommando, und dieser habe sich über hundert Seemeilen von der Küste entfernt befunden, so daß er das Flüchtlingsschiff nicht bemerken konnte. Wie Romeo hinzufügte, hätten Schiffe der NATO schon Hunderte von Leben gerettet und seien sich ihrer Verantwortung voll bewußt, die sie gemäß des Internationalen Übereinkommens zum Schutz des menschlichen Lebens auf See (SOLAS) tragen.

Als das im Stich gelassene Flüchtlingsboot schließlich am 10. April mit nur elf Überlebenden an der libyschen Küste in der Nähe von Sliten bei Misrata an Land gespült wurde, starb noch ein Mann, während wenig später ein weiterer im Gefängnis, in dem die libyschen Behörden die Flüchtlinge vier Tage lang festhielten, den Strapazen erlag. "Das Mittelmeer darf nicht zum Wilden Westen werden", wurde eine Sprecherin des UN-Flüchtlingskommissars zitiert, doch muß man davon ausgehen, daß niemand wegen dieses Zwischenfalls zur Rechenschaft gezogen wird, da die am Angriff auf Libyen beteiligten NATO-Staaten nicht das geringste Interesse daran haben, zur Aufklärung beizutragen.

Die Bürde der Verantwortung für alle Untaten in diesem Konflikt wird allein Gaddafi und dessen Truppen aufgelastet, gegen die man nicht nur mit militärischen Mitteln vorgeht, sondern auch die juristischen Messer wetzt. Amnesty International kommt in einem aktuellen Bericht zu dem Schluß, daß die Regierungstruppen bei ihren Angriffen auf die Stadt Misrata und anderswo im Land Kriegsverbrechen begehen. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hatte bereits im April behauptet, daß die Streitkräfte Gaddafis Streubomben gegen Wohngebiete einsetzten. Wenngleich außer Frage steht, daß zahllose Zivilisten von den Kämpfen in Mitleidenschaft gezogen werden, muß man den genannten Menschenrechtsorganisationen doch attestieren, wie so oft auf einem Auge blind zu sein.

Bei einer Sondersitzung des UN-Sicherheitsrats in New York hat der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, Luis Moreno-Ocampo, angekündigt, er werde in den kommenden Wochen offiziell Haftbefehl gegen drei Libyer wegen Verstoßes gegen das humanitäre Völkerrecht beantragen. Die drei Regimegrößen, deren Namen er nicht nannte, sollen "umfassend und systematisch" friedliche Demonstranten getötet haben.

Wer an dieser Stelle gleiches Recht für alle reklamieren wollte und sich Haftbefehle gegen hochrangige Repräsentanten der NATO wegen der Bombardierung in libyschen Städten, der einseitigen Parteinahme in einem Bürgerkrieg, der gezielten Tötungsversuche gegen einen Staatschef oder der Auslösung einer humanitären Katastrophe mit Tausenden Toten und Hunderttausenden Flüchtlingen wünscht, unterschlägt den entscheidenden Punkt: Recht kann nur auf Grundlage der Gewalt, es durchzusetzen, in Erscheinung treten, weshalb militärische Übermacht und deren legalistische Verankerung immer unverhohlener ihren Schulterschluß vollziehen.

Anmerkungen:

[1] Kämpfe in Libyen: Nato fliegt erneute Luftangriffe auf Tripolis (10.05.11)
http://www.stern.de/politik/ausland/kaempfe-in-libyen-nato-fliegt-erneute-luftangriffe-auf-tripolis-1683216.html

[2] Libyen-Konflikt. Nato fliegt Angriffe auf Tripolis (10.05.11)
http://www.focus.de/panorama/vermischtes/libyen-konflikt-nato-fliegt-angriffe-auf-tripolis_aid_625804.html

[3] Flüchtlingsboot im Mittelmeer. Küstenwachen sollen Schiffbrüchige im Stich gelassen haben (09.05.11)
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,761467,00.html

[4] Auf dem Weg von Libyen nach Italien. Vorwurf: Nato soll Flüchtlinge nicht gerettet haben (09.05.11)
http://www.abendblatt.de/politik/ausland/article1883522/Vorwurf-Nato-soll-Fluechtlinge-nicht-gerettet-haben.html

10. Mai 2011