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NAHOST/1014: Kriegsgefahr nach israelisch-libanesischem Scharmützel (SB)


Kriegsgefahr nach israelisch-libanesischem Scharmützel

Atomstreit mit dem Iran läßt Spannungen im Nahen Osten steigen


Nach der ersten blutigen Auseinandersetzung zwischen den Streitkräften Israels und des Libanons seit dem Krieg 2006 grassiert in der Levante die Angst vor einem größeren militärischen Konflikt im Nahen Osten. Vor vier Jahren waren rund 1600 Libanesen, die meisten von ihnen Zivilisten, und rund 150 Israelis, die meisten von ihnen Militärangehörige, gewaltsam ums Leben gekommen. Bei dem Feuergefecht an der gemeinsamen, sogenannten blauen Grenze am 3. August wurden ein israelischer Offizier, zwei libanesische Soldaten und ein libanesischer Journalist getötet. Derzeit bemühen sich die Regierungen in Beirut und Tel Aviv um Deeskalation, wohlwissend, daß ein Krieg an der israelisch-libanesischen Grenze leicht in einen Flächenbrand ausarten könnte, der auch den Iran, die USA, Syrien und den Irak erfassen würde.

Wie es zu dem Feuergefecht gekommen ist, ist derzeit unklar. Fest steht, daß die Israelis ohne Absprache mit den Libanesen Bäume entlang der Grenze, die potentiellen Angreifern Schutz böten, zu fällen begonnen haben. Die Bäume stehen zwar nach Angaben der UN-Mission vor Ort (UNIFIL) auf israelischer Seite der Grenze, jedoch hinter einem von den Israelis errichteten Zaun. Die Israelis hatten einen Kran an den Zaun gefahren und mit seiner Hilfe angefangen, die Bäume auf der anderen Seite abzusägen. Weil die Libanesen offenbar den Verlauf des Zauns als die eigentliche Grenze betrachten und die Bäume daher auf ihrem Territorium wähnten, haben sie nach eigenen Angaben Warnschüsse abgegeben, um eine Beendigung der Abholzaktion zu bewirken. Dabei sollen sie den israelischen Oberstleutnant Dov Harari getötet haben. Als Reaktion auf diesen Beschuß haben die israelischen Streitkräfte einen libanesischen Grenzposten nahe dem Dorf Adaisseh bombardiert. Infolge des israelischen Bombardements kamen die beiden libanesischen Soldaten Abdullah Tufeili und Robert al-Ashi sowie der Journalist Assaf Abu Rahhal, der für die Zeitung Al-Akbar über die Lage an der Grenze berichtete, ums Leben. Des weiteren sollen fünf Libanesen verletzt worden sein. Wie viele von ihnen Dorfbewohner und wie viele Militärangehörige sind, ist unbekannt.

Beide Seiten behaupten, in legitimer Selbstverteidigung gehandelt zu haben. Während sich der UN-Sicherheitsrat "zutiefst besorgt" über den Vorfall äußerte und die US-Regierung Beirut und Tel Aviv zu "äußerster Zurückhaltung" aufrief, kochten in Israel und im Libanon die Emotionen hoch. Der israelische Verteidigungsminister Ehud Barak warf den Libanesen vor, einen "mörderischen" Überfall auf seine Soldaten gestartet zu haben. Der libanesische Präsident und Ex-Generalstabschef Michel Sleiman berief am selben Abend eine Krisensitzung des Nationalen Sicherheitsrats ein, der im Anschluß erklärte, die Streitkräfte des Landes hätten die Anweisung erhalten "jede Aggression ... mit allen Mitteln" und "ungeachtet möglicher Verluste" zurückzuschlagen. Hassan Nasrallah gab im Namen der Hisb Allah eine Erklärung heraus, in der es hieß, die Kämpfer der schiitischen Miliz stünden bereit, jeder Zeit an der Seite der libanesischen Streitkräfte in den Krieg zu ziehen. "Der Widerstand [die Hisb-Allah-Miliz] wird die Hand eines jeden, der es wagt, die libanesische Armee anzugreifen, abhacken", so Nasrallah.

Seit Monaten steigen die Spannungen zwischen dem Libanon und Israel. Grund ist der laufende "Atomstreit" mit dem Iran. Die israelische Staatsführung unterstellt der Regierung in Teheran, unter dem Vorwand der Nutzung der zivilen Kernenergie ein geheimes Atomwaffenprogramm zu betreiben, und erwägt offen einen präemptiven Angriff auf die iranischen Nuklearanlagen. In einem solchen Fall ist mit einem massiven Entlastungsangriff der Hisb-Allah-Miliz auf den Norden Israels zu rechnen. Es gibt aber auch das Szenario, daß Israel einen offenen Konflikt mit der bekanntlich teherannahen Hisb Allah provozieren könnte, um einen Vorwand für ein militärisches Vorgehen gegen das "Mullah-Regime" des Irans herbeizuführen.

Seit 2008 sind 70 Bürger des Libanons unter dem Verdacht der Spionage für Israel festgenommen worden. In den letzten Wochen hat es in diesem Zusammenhang mehrere spektakuläre Verhaftungen gegeben. Viele der mutmaßlichen Spione arbeiteten im Bereich der Telekommunikation. Sie werden verdächtigt, Israel Informationen zukommen gelassen zu haben, auf die die Israelis unter anderem bei ihren wochenlangen, massiven Luftangriffen auf Beirut und andere libanesische Städte im Juli und August 2006 zurückgegriffen haben. Es besteht sogar der Verdacht, daß einige der israelischen Spione im libanesischen Telekommunikationssektor Datenmanipulationen vorgenommen haben, um den Verdacht der Verantwortung für den Autobombenanschlag, der am 14. Februar 2005 im Stadtzentrum von Beirut dem früheren libanesischen Premierminister Rafik Hariri und 22 anderen Menschen das Leben kostete, auf Syrien bzw. die Hisb Allah zu lenken.

Angesichts der weltweiten Empörung über die Ermordung Hariris sah sich nur wenige Wochen danach Syrien gezwungen, seine Streitkräfte, die 29 Jahre zuvor als unparteiische Friedensmacht gekommen waren, aus dem Libanon abzuziehen. Es dürfte kein Zufall gewesen sein, daß im darauffolgenden Jahr der Libanonkrieg ausbrach, wenige Tage nachdem die Regierung in Beirut den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wegen einer Reihe schwerer Bombenanschläge angerufen hatte, die offenbar von libanesischen Agenten Israels im Auftrag des Mossads durchgeführt worden waren.

Auch der jüngste Grenzzwischenfall fand in einer Phase steigender Spannungen statt. Seit Mitte April der israelische Präsident Shimon Peres Syrien bezichtigte, die Hisb Allah mit Scud-Raketen zu beliefern, reißt die Serie der wechselseitigen Drohungen zwischen Tel Aviv auf der einen Seite sowie Damaskus und der Hisb Allah auf der anderen nicht mehr ab. Mitte Juli hat Nasrallah vom libanesischen Premierminister Said Hariri, dem Sohn des vor fünf Jahren ermordeten Baumagnaten, erfahren, daß das vom UN-Sicherheitsrat eingesetzte Sondertribunal für den Libanon (STL), das die Hintergründe des Attentats beleuchten sollte, demnächst Anklagen gegen mehrere Hisb-Allah-Mitglieder erheben wird. Nach Erhalt dieser brisanten Informationen hat Nasrallah mit schwerwiegenden Konsequenzen gedroht, sollte das Tribunal, das er als "israelisches Projekt" verdammte, tatsächlich "Schurkenelemente" innerhalb der Hisb-Allah-Miliz für den Tod von Rafik Hariri verantwortlich machen.

Um zu verhindern, daß es im Libanon wegen der Arbeit des STL bald wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den ethnischen und religiösen Gruppen kommt, reisten am 30. Juli Syriens Präsident Baschar Al Assad und der saudische König Abdullah bin Abdel-Aziz eigens nach Beirut, um die politische Kaste dort zur Mäßigung und Geschlossenheit aufzufordern. Die Tatsache, daß es sich hierbei um den erstmaligen Besuch eines saudischen Monarchen im Libanon seit 1957 handelte, unterstreicht die Bedeutung des Treffens wie zugleich die steigende Kriegsgefahr. Leider hat man den Eindruck, daß diejenigen neokonservativen Kräfte, die seit Jahren in den USA und Israel für einen Krieg gegen den Iran eintreten, bald ihr Ziel erreicht haben könnten.

Nach der jüngsten Verhängung schwerer Wirtschaftssanktionen gegen den Iran durch den UN-Sicherheitsrat, die USA und die Europäische Union erscheint eine friedliche Lösung des "Atomstreits" immer unwahrscheinlicher. Am 22. Juli haben im US-Repräsentantenhaus 47 republikanische Abgeordnete eine Resolution verabschiedet, in der sie Israel das Recht auf den Einsatz "jeglicher Mittel" zur Beseitigung des angeblich vom Iran ausgehenden "nuklearen Bedrohung" zusprachen, während am 1. August Amerikas ranghöchster Soldat, Generalstabschef Admiral Michael Mullen, bei einem Interview für den Fernsehsender NBC auf die Existenz eines zur Anwendung gegen die Islamische Republik konzipierten Angriffsplans hinwies.

4. August 2010