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AFRIKA/2177: Kontinentale Verträge - Wettlauf der Vorwände ... (SB)



Im März dieses Jahres haben 44 von 55 Mitgliedsländern der Afrikanischen Union bei ihrem Gipfeltreffen in Kigali, Ruanda, beschlossen, binnen 18 Monaten eine kontinentweite Freihandelszone zu schaffen. Davon will nun auch die Europäische Union profitieren und ihrerseits einen Freihandelsvertrag mit der AU abschließen. Dafür warb EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker in seiner Abschiedsrede am 12. September in Strasbourg, zwei Tage darauf wurde das Thema von der EU-Außenbeauftragten Federica Mogherini noch einmal vor der Presse in Brüssel aufgegriffen.

Die Zeit drängt, weil China Anfang September zugesagt hat, in Afrika Investitionen in Höhe von 60 Milliarden Dollar tätigen zu wollen, und entgegen der Darstellung, daß sich damit die afrikanischen Staaten in eine Schuldenfalle begeben, soll nur ein kleiner Teil der Summe als Kredit mit entsprechender Verzinsung vergeben werden. Die Zeit drängt aber auch deshalb, weil im Jahr 2020 das Cotonou-Handelsabkommen der Europäischen Union mit den AKP-Staaten endet, an dem u.a. 48 afrikanische Staaten beteiligt sind. Will die EU nicht vor dem Scherbenhaufen ihrer auf Übervorteilung ausgerichteten Afrikapolitik stehen, muß sie schleunigst etwas bewegen.

Juncker entwarf das Bild, daß die zahlreichen bilateralen Handelsabkommen zwischen afrikanischen und europäischen Ländern in eine kontinentalweite Freihandelszone münden sollten, einer Wirtschaftspartnerschaft zwischen "gleichen Partnern". Das Verhältnis zwischen EU und Afrika allein durch die Brille der Entwicklungshilfe zu sehen, genüge nicht und sei für Afrika erniedrigend, sagte er.

Bemerkenswert, wann sich der EU-Kommissionspräsident dafür entscheidet, die (mutmaßliche) Sichtweise der afrikanischen Länder einzunehmen. Hierzu nur eine kleine Korrektur: Was bislang als Entwicklungshilfe deklariert wurde, hat sich mal als heiße Luft (nicht eingehaltene Zusagen), mal als indirekte Subventionierung der eigenen Exportwirtschaft, mal als Zuchtmittel der afrikanischen Bevölkerung (u.a. durch den geforderten Abbau staatlicher Lebensmittelhilfe und Einführung von Schulgeld), mal als Hebel für die eigenen hegemonialen Absichten erwiesen. In den wenigen Fällen, in denen Entwicklungshilfe allenfalls ihren Namen verdiente, handelte es sich vorwiegend um Begünstigungen einer lokalen Bevölkerung durch Einzelprojekte, wie die Verlegung einer Wasserleitung, den Bau eines Brunnens oder Gemeindehauses und ähnliches. Man kann mit Fug und Recht sagen, daß der Großteil der sogenannten Entwicklungshilfe in die eigenen Taschen zurückfließt, und sei es auch nur darüber, daß man sich eine sehr entwickelte Entwicklungshilfebranche hält.

Mogherini behauptete, die EU habe ein neues Kapitel aufgeschlagen, weg von dem traditionellen Geber-Nehmer-Verhältnis und zuallererst in Richtung einer politischen Partnerschaft. 60 Prozent der Bevölkerung Afrikas seien unter 25 Jahre alt. Darin sehe sie eine Chance für mehr Wachstum und Wohlstand und umgekehrt weniger Korruption und Menschenrechtsverletzungen.

Die EU will die Berufsausbildung in Afrika in den nächsten zwei Jahren mit 750.000 Euro fördern. Außerdem sollen bis 2020 35.000 afrikanische Studenten und Forscher und bis 2027 insgesamt 105.000 junge Menschen am Erasmus-Stipendienprogramm teilnehmen. Darüber hinaus soll die Förderung der öffentlichen und privaten Investitionen in Afrika durch die EU von vier Milliarden Euro (2016) in den nächsten Jahren auf 44 Milliarden Euro erhöht werden. Die Europäische Union ist der größte Investor in Afrika. Die ausländischen Direktinvestitionen betrugen im Jahr 2016 291 Milliarden Euro. Die meisten Mittel gingen nach Ägypten, Kenia, Marokko und Südafrika. Laut Juncker steht die EU für 36 Prozent des afrikanischen Handels, China für 16 Prozent und die USA für sechs Prozent. Dieser Vorsprung genügt ihm jedoch nicht.

Der Luxemburger vermied es allerdings zu erwähnen, daß weder der Beitritt der meisten afrikanischen Staaten zur Welthandelsorganisation noch das im Jahr 2003 beschlossene Cotonou-Abkommen auch nur nennenswerte Handelserfolge für die beteiligten afrikanischen Länder gebracht haben. Unerwähnt ließ Juncker ebenfalls, daß die EU weniger als fünf Prozent ihrer Waren aus Afrika bezieht, und daß dessen Anteil am Welthandel im unteren einstelligen Bereich liegt. Von diesem geringen Prozentsatz wiederum entfällt der mit Abstand größte Teil auf den Export von Rohstoffen, insbesondere fossilen Energien (Erdöl, Erdgas). Letzteres erfordert jedoch nur vergleichsweise wenige Arbeitsplätze und sorgt auch nur in geringem Ausmaß für die Bildung einer lokalen Zulieferindustrie. Wenn von Entwicklungsförderung Afrikas die Rede ist, dann ist damit in der Regel ein Raubzug zu Lasten der afrikanischen Bevölkerung gemeint.

Daß Afrika seinen "Partnern" nicht zuletzt als Ressourcenkontinent dient, zeigt sich auch daran, daß das innerafrikanische Handelsvolumen im Jahr 2016 - unterschiedlichen Schätzungen zufolge - bei zehn oder 18 Prozent lag. Selbst wenn man den höheren Wert zugrundelegt, fällt der Handel innerhalb Afrikas weit gegenüber dem Binnenhandel der EU zurück, der 65 Prozent des gesamten Handelsvolumens ausmacht. Hinzu kommt ein weiteres, äußerst folgenschweres Phänomen: James Zhan, Leiter der Investment-Abteilung der UNCTAD (Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung) schätzt den Kapitalabfluß aus Afrika in dem Zeitraum von 2002 bis 2012 auf sage und schreibe 530 Milliarden Dollar.

Wenn man diesen Abfluß eindämmte, bräuchte man weder Entwicklungs- noch humanitäre Hilfe, und die Menschen erhielten Löhne, von denen sie leben könnten. "Auf Augenhöhe", wie von den EU-Oberen angekündigt, würden sich die EU und die AU aber nicht nur wegen des gigantischen Kapitalabflusses, von dem ein Teil nach Europa geht, sondern allein wegen der hohen Agrarsubventionen der EU nicht begegnen. Diese verschaffen europäischen Unternehmen heute schon einen enormen Konkurrenzvorteil, denn sie können ihre Waren auf den afrikanischen Märkten billiger anbieten als die örtlichen Produzenten. Je größer das Handelsungleichgewicht, desto zerstörerischer für die heimischen Märkte.

Die Agrarsubventionen der EU werden sich im Zeitraum 2021 bis 2027 auf 365 Milliarden Euro belaufen, aber für die Afrikapolitik sind nur 39 Milliarden Euro vorgesehen, bestätigte Entwicklungsminister Gerd Müller gegenüber der FAZ (8.8.2018). Sieht man von den Waren ab, die von den 32 ärmsten Ländern Afrikas und den zwölf Ländern, mit denen EPAs abgeschlossen wurden, zollfrei in die EU ausgeführt werden, sind laut Müller die EU-Importe aus dem übrigen Afrika in den letzten Jahren um fast 40 Prozent zurückgegangen. Hierzu ist allerdings anzumerken, daß, selbst wenn die EU ihre Subventionen striche oder zumindest ausgehandelt würde, daß die afrikanischen Staaten auf jene Exportprodukte weiterhin Zölle erheben dürfen, die von der EU subventioniert werden, noch immer eine extreme Schieflage zwischen den kapitalstarken Konzernen Europas und den afrikanischen Unternehmen bestünde.

Im Juni dieses Jahres haben die afrikanischen Handelsminister bei ihrem Treffen in Niger beschlossen, daß in ihrer innerafrikanischen Freihandelszone CFTA (continental free trade area) 90 Prozent der Waren zollfrei die Grenzen passieren sollen. Selbst dieser Beschluß ging nicht widerspruchsfrei über die Bühne. Ausgerechnet das wirtschaftliche Schwergewicht Nigeria unterzeichnete das Abkommen nicht, und das industriell weit entwickelte Südafrika zeigte sich äußerst zurückhaltend, wenngleich das Abkommen vom südafrikanischen Präsidenten Cyril Ramaphosa unterzeichnet wurde. (Inzwischen sind 49 Staaten der CFTA beigetreten.)

Die EU dürfte weiterhin erpicht darauf sein, ihre Agrarprodukte nach Afrika zu verkaufen. Im vergangenen Jahrhundert war der Kontinent ernährungsmäßig noch Selbstversorger. Spätestens mit den Strukturanpassungsprogrammen der 1990er Jahre mußten zunehmend mehr Agrarprodukte eingeführt werden. Im Zeitraum 2000 bis 2004 hatte das Nahrungsmitteldefizit einen Wert von jährlich 144 Millionen Dollar angenommen. Im Zeitraum 2013 bis 2016 war die Summe auf 2,1 Milliarden Dollar gestiegen. Rechnet man davon das Agrarprodukt Kakao ab - denn es handelt sich dabei um kein Grundnahrungsmittel -, fällt das Defizit noch höher aus. Es stieg in den gleichen Vergleichszeiträumen von 2,5 Mrd. auf 7,5 Mrd. Dollar. Bei anhaltend hohem Bevölkerungswachstum werden gegen Mitte dieses Jahrhunderts rund doppelt so viele Menschen in Afrika leben wie heute. Bei dann mehr als zwei Milliarden Einwohnern dürfte das Nahrungsmitteldefizit noch zunehmen.

Letztlich erhofft sich die EU, Afrika als ihren "Hinterhof" funktionalisieren zu können, um erstens die Flüchtlingsabwehr, zweitens Absatzmärkte für europäische Waren und drittens den Rohstoffnachschub zu sichern. Auf einer vordergründigen Ebene wäre eine einzige europäisch-afrikanische Freihandelszone ein Schlag gegen die Konkurrenten China und USA. Von weitreichenderer und zugleich tiefgreifenderer Bedeutung jedoch wäre, daß dadurch der Druck auf die Menschen im Norden wie im Süden zunimmt, ihre Arbeitskraft immer billiger zu Markte tragen zu müssen. Es ist kein Zufall, daß die Initiative unter dem Titel Africa-Europe Alliance for Sustainable Investment and Jobs firmiert. Die afrikanisch-europäische Allianz soll nicht nur für (nachhaltige) Investitionen, sondern eben auch für Arbeitsplätze gelten. Die EU-Kommission verheißt die Schaffung von zehn Millionen neuen Arbeitsplätzen in den ersten fünf Jahren nach Inkrafttreten des CFTA. Ob diese Zahl herbeiphantasiert ist oder nicht, sie sagt jedenfalls noch nichts darüber aus, unter welchen Bedingungen die Menschen in Zukunft arbeiten sollen und wie hoch sie dafür entlohnt werden.

Wie eingangs erwähnt zählt die Abwehr von Flüchtlingsströmen zu den wichtigsten Anliegen der EU bei dem Bemühen, mit Afrika ins Geschäft zu kommen. Würden die Europäer hingegen das Feld China, USA, Brasilien, Rußland, Indien oder Japan überlassen, die alle ihr eigenes Süppchen auf dem schwarzen Kontinent kochen, wären die afrikanischen Staaten sicherlich nicht so motiviert, Menschen davon abzuhalten, nach Europa abzuwandern. Unter dem EU-Ratsvorsitz Österreichs findet Anfang Dezember ein EU-Afrika-Gipfel in Wien statt, bei dem voraussichtlich zu beiden Themen, Flüchtlingsabwehr und Freihandel, weiterverhandelt wird.

Durch den Abschied des Vereinigten Königreichs von der EU im kommenden Jahr werden die Karten neu gemischt, denn die Briten unterhalten mit den Commonwealth-Staaten, unter anderem Ghana, Nigeria, Südafrika, Kenia, Namibia, Sambia, bereits enge Wirtschaftsbeziehungen und werden sich natürlich auf die Suche nach neuen Handelsmöglichkeiten begeben. Ab 2019 begegnen sich EU und UK auf afrikanischem Boden als direkte Konkurrenten. Das dürfte den einen oder anderen Staat Afrikas zögern lassen, sich langfristig auf Partnerschaften festzulegen. Dazu kommt noch ein weiterer Unsicherheitsfaktor. Die EU ist als Staatenprojekt gefährdet. Die Grenzen werden zur Zeit dichtgemacht und nicht geöffnet - das widerspricht auch dem behaupteten Interesse an einer bi-kontinentalen Freihandelszone.

Wenn die afrikanischen Staaten durch die Aufhebung der Zollschranken weniger einnehmen und sie versuchen sollten, ihre Haushaltslöcher durch eine Senkung der Staatsquote und Verstärkung der Privatisierung zu kompensieren, begeben sie sich in eine Abwärtsspirale, deren Ende nicht abzusehen ist. Wer wird dann dafür herhalten? Werden die europäischen "Partner" auf ihre Ansprüche verzichten oder werden sie, wie Juncker, Entwicklungs- und humanitäre Hilfe als obsolet darstellen und auf ihre Forderungen an den "politischen Partner" bestehen?

Die EU erarbeitet seit Jahren bilaterale Freihandelsabkommen, beispielsweise mit Kanada und Japan, so daß die Handelsvorteile, die man sich davon erhofft, nach und nach egalisiert werden. Sollte es einmal geschehen, daß sämtliche Länder der Erde alle ihre Handelsschranken aufheben, wäre der Konkurrenzvorteil des Freihandels hinfällig. Nicht hinfällig wäre indessen die Konkurrenz, denn das kapitalistische Wirtschaftssystem bestünde weiter. Dann würden die verschiedenen Produktionsstandorte ihren systemimmanenten Konkurrenzkampf auf andere Weise und voraussichtlich mit noch größerer Härte austragen, und das liefe darauf hinaus, daß die Lohnkosten enorm gedrückt werden.

Das, was die EU mit ihren Wirtschaftspartnerschaftsabkommen (EPA) nicht oder nur nach sehr zähen Verhandlungen, teils begleitet von erpresserischen Methoden, erreicht hat, wird nun umetikettiert und durch einen noch größeren Popanz als "Vision" feilgeboten.

19. September 2018


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