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AFRIKA/2073: Das Marikana-Massaker - Südafrikanische Polizei erschießt 35 Bergarbeiter (SB)


Tödliche Antwort auf berechtigte Forderung nach mehr Lohn

Lonmin-Platinmine in Südafrika bestreikt



Am Donnerstag hat die südafrikanische Polizei mehr als dreißig streikende Arbeiter einer Platinmine erschossen und Dutzende verletzt. Offiziellen Berichten zufolge waren die Sicherheitskräfte angegriffen worden und haben sich nur verteidigt. Der Zusammenhang des Gewaltausbruchs damit, daß die Polizei zuvor bereits angefangen hatte, die auf einem Hügel Versammelten mit Stacheldrahtbarrikaden einzupferchen [1], nachdem sie die Streikenden mit Wasserwerfern und Tränengas beschossen hatte, wird von den Mainstream-Medien nicht als Angriff gewertet.

Überhaupt zeichnet sich die allgemeine Berichterstattung durch das Ausblenden des eigentlichen Widerspruchs dieses Konflikts aus. Der hat sich nur vordergründig an der Rivalität zwischen zwei Gewerkschaften, der alteingesessenen Bergarbeitergewerkschaft NUM (National Union of Mineworkers) und der neueren Vereinigung von Berg- und Bauarbeitern AMCU (Association of Mineworkers and Construction Union) entzündet. Im Kern geht es jedoch darum, daß Menschen dazu gebracht werden, gesundheitlich ruinöse und gefährliche Arbeit zu verrichten, um die wachstumsgetriebene Industrie mit Platin zu versorgen.

Da der Bedarf an diesem Rohstoff in letzter Zeit abgenommen hat, versuchen die südafrikanischen Unternehmen, die rund 80 Prozent des Weltmarkts abdecken, die strukturell bedingten Einnahmeverluste auf die Arbeiter abzuwälzen. Lohnerhöhungen bleiben gering und werden von den Preissteigerungen für Grundnahrungsmittel und Energie aufgefressen, Arbeitsbedingungen kaum verbessert, Personal wird abgebaut. Wer "illegal" streikt, wird entlassen - bei einer Arbeitslosigkeit von 25 Prozent in Südafrika steht eine Reserveheer an willigen Bergarbeitern bereit, die Aufmüpfigen zu ersetzen.

Seit dem 10. August wurde in dem von dem in London und Johannesburg gelisteten Aktienunternehmen Lonmin betriebenen Marikana-Bergwerk, rund 70 Kilometer nordwestlich von Johannesburg, gestreikt. Vier Tage darauf kamen sechs streikende Arbeiter, zwei Polizisten und zwei Wachleute bei gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Mitgliedern der beiden miteinander konkurrierenden Gewerkschaften ums Leben. Am Donnerstag waren schließlich rund 3000 Arbeiter auf einem Hügel versammelt. Zu den Forderungen der Streikenden gehört eine 200prozentige Lohnerhöhung auf 12.500 Rand (ca. 1200 Euro). Da erklärte die Polizei die Verhandlungen für gescheitert - wen wundert's, daß das die Stimmung aufgepeitscht hat. Zumal die Behörden bereits vor diesem Zeitpunkt angekündigt hatten, daß, sollten die Verhandlungen scheitern, der Streik gewaltsam beendet werde. Die FAZ zitiert einen Polizeisprecher mit den Worten: "Heute ist leider der Tag X."

Als die Polizei begann, Stacheldrahbarrikaden aufzubauen, mußten die Bergarbeiter da nicht annehmen, daß dies der Auftakt zur behördlich angekündigten Gewalt bilden werde? Die Polizei verteidigt ihren Schußwaffeneinsatz mit "legitimer Selbstverteidigung". Falls es sich tatsächlich so zugetragen hat, daß die Streikenden auf die Polizei zugelaufen sind und geschossen haben, könnten sie nicht dennoch mit gleicher Berechtigung von "legitimer Selbstverteidigung" sprechen, da sie eingepfercht werden sollten und mit Tränengas beschossen wurden? Waren die polizeilichen Maßnahmen wirklich zwingend oder hätte man nicht weitere Versuche der Deeskalation machen können?

Der Betreiber der Platinmine hat die Produktion in ganz Südafrika gestoppt und angekündigt, es werde seine Produktionsziele übers Jahr gerechnet verfehlen. Doch wer kann schon ausschließen, daß der Streik nicht ein sowieso schlechteren Geschäftsverlauf überdeckt hat und nun als Erklärung für die Verluste herhalten muß, obgleich das Problem tiefer sitzt. Die Aktien des Unternehmens brachen um sieben Prozent ein, doch der Weltmarktpreis für Platin stieg umgekehrt um gut 2 Prozent bzw. 30 Dollar je Unze. Das verringert wiederum die Verluste aufgrund des Streiks.

Das Gemetzel am Marikana-Bergwerk stellt den vorläufigen Höhepunkt eines älteren Konflikts dar, der bis in die Zeit der Apartheid, und, wenn man so will, bis in die Ursprünge des Kolonialismus im südlichen Afrika zurückreicht. Denn es waren die europäischen Eindringlinge und Eroberer, welche einst die Landbevölkerung von ihrem Grund und Boden vertrieben haben, damit dem industriellen Bergbau überhaupt genügend Arbeitskräfte zur Verfügung standen. Der Verbrauch an Menschen war enorm.

Während der jahrzehntelangen Rassenherrschaft der Weißen im vorigen Jahrhundert war diese strukturelle Gewalt, die sich aus dem Widerspruch zwischen Arbeitern und den eigentliche Profiteuren der Arbeit, die den geleisteten Mehrwert abgreifen, ergibt, häufiger in seine akute Variante in Erscheinung getreten und durch scharfe Repressalien unterdrückt worden.

Schon im Februar dieses Jahres war in einer anderen südafrikanischen Platinmine, die von Impala Platinum in Rustenburg, etwa 100 Kilometer von Johannesburg entfernt, betrieben wird, sechs Wochen lang gestreikt worden. Damals hatte jenes Unternehmen in Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft NUM ein Bonusprogramm für langjährige Betriebszugehörigkeit beschlossen, das aber beispielsweise nicht für jene Arbeiter galt, die unter Tage mit schwerem Gerät das Erz aus dem Berg stemmen. Das hat sie erbost, woraufhin rund 5000 Arbeiter die Arbeit niederlegten. [2]

Der Streik, der von der Unternehmensführung ebenfalls als "illegal" erklärt worden war - eine Perversion, denn wieso haben ausgerechnet jene, die bestreikt werden, darüber zu entscheiden, ob ein Streik legal oder illegal ist? - weitete sich aus, so daß die gesamte Arbeit zum Erliegen kam. Daraufhin entließ das Unternehmen Impala Platinum 17.000 Arbeiter fristlos und begann etwas später mit Neueinstellungen. Da kochte die Stimmung regelrecht über, zumal die Entlassenen sämtliche Ansprüche auf Bonuszahlungen, die sie über Jahre gesammelt hatten, durch den "illegalen" Streik verloren. Auch in diesem Fall hatte der Streik und Produktionsausfall einen Anstieg des Weltmarktpreises bewirkt. Satte 15 Prozent war die Unze Platin plötzlich mehr wert.

Seit dem Ende der Apartheid und dem Beginn der Machtübernahme durch den ANC (African National Congress) im Jahr 1994 hat sich an der Lage der Bergarbeiter wenig geändert. Der ANC und mit ihm der an der Regierung beteiligte größte südafrikanische Gewerkschaftsdachverband COSATU (Congress of South African Trade Unions) haben die Arbeitsbedingungen zwar etwas verbessert, aber an dem Grundkonflikt hat sich nichts geändert: Noch immer fahren Tag für Tag Tausende Arbeiter tief in die Erde hinab oder arbeiten in staubigen offenen Gruben, während es im Management lediglich einen leichten Farbwechsel gegeben hat und die Profite weiterhin von Unternehmern und Aktionären eingestrichen werden.

Über die wesentliche Funktion von Gewerkschaften braucht man sich nichts vorzumachen. Sie sollen zwischen Arbeitern und Unternehmer vermitteln und dafür sorgen, daß der Betrieb läuft. Gewerkschaften sind Teil der Befriedungsmaßnahmen, um die Verwertung der menschlichen Arbeitskraft sicherzustellen. Das bedeutet jedoch nicht, daß alle Gewerkschaften über einen Kamm zu scheren sind. Wer so eng mit den politischen Entscheidungsträgern verbunden ist wie die NUM, die dem Dachverband COSATU angeschlossen ist, läuft Gefahr, sich vereinnahmen zu lassen. Da wundert es nicht, wenn mit der AMCU eine Konkurrenz heranwächst, die behauptet, bei den Verhandlungen mit dem Unternehmen mehr für die Arbeiter herausschlagen zu können.

Es kann und soll hier nicht beurteilt werden, ob an der von der NUM vorgebrachten Bezichtigung, AMCU bediene sich krimineller Mittel, um Druck auf die Arbeiter auszuüben, damit sie sich ihr anschließen, etwas dran ist. Aber angesichts des Zulaufs, den AMCU offenbar in der Impala- und der Lonmin-Mine erfahren hat, ist es schwer vorstellbar, daß dies ausschließlich auf Zwang basieren soll. Die Kumpanei zwischen NUM und der Unternehmensführung von Impala Platinum, bei der vereinbart worden war, nicht alle Arbeiter am Bonussystem teilhaben zu lassen, läßt es plausibel erscheinen, daß Arbeiter freiwillig von NUM zu AMCU abgewandert sind.

Ebenfalls schwer zu beurteilen ist der genaue Ablauf des jüngsten Gewaltausbruchs. Die Polizei hat natürlich ein reges Interesse daran, sich ins rechte Licht zu rücken, indem sie behauptet, sie sei von den streikenden Arbeitern beschossen und angriffen worden. Da habe man sich wehren müssen. Eine ähnliche Version verbreitet auch der Dachverband COSATU, der NUM, nicht aber die AMCU vertritt. Demnach habe die Polizei versucht, die Macheten schwingenden und Kriegslieder singenden Streikenden auf einem Hügel mit Tränengas und Wasserwerfern auseinanderzutreiben. Der Versuch ist schließlich in einen dreiminütigen Schußwechsel zwischen Arbeitern und Sicherheitskräften gemündet. [3]

An dem südafrikanischen Bergarbeiterkonflikt wird die uralte Technik des Teilens und Herrschens deutlich. Die Arbeiter haben sich spalten und gegeneinander ausspielen lassen. Die Unternehmensführung von Lonmin hat mit der NUM, nicht aber mit der AMCU verhandelt und deren Streik für illegal erklärt. Die NUM wiederum bewertet den Streik ähnlich, obgleich die Vermutung naheliegt, daß eine geschlossene Arbeiterschaft mehr Schlagkraft entfaltet, höhere Löhne durchgesetzt und besser Arbeitsbedingungen erstritten hätte.

Bereits im Juli waren 400.000 südafrikanische Arbeiter aus dem Gold- und Diamantenbergbau in den Streik getreten. Der Konflikt im Platinbergbau könnte den Auftakt einer Welle von gewaltsamen Arbeitskämpfen in der gesamten Branche bilden, da sich die Lebensverhältnisse vieler Einwohner verschlechtert haben. Der staatliche Stromkonzern Eskom hat die Preise für elektrischen Strom um 31 Prozent erhöht. Die Inflationsrate lag 2011 bei vermutlich 5,0 Prozent und wird für dieses Jahr auf 5,8 Prozent geschätzt. Besonders Grundnahrungsmittel verteuern sich deutlich. Damit ähnelt der aktuelle Arbeiterkonflikt den Auseinandersetzungen in anderen Ländern Afrikas, in denen Menschen aufgrund einer wachsenden wirtschaftlichen Not auf die Straße gehen und gegen ihre Regierungen protestieren. In Südafrika sieht der "arabische Frühling" gänzlich anders aus, doch die Wut der Menschen über die zunehmend angespannten Lebensverhältnisse gleicht sich.

Das könnte die Chance des Julius Sello Malema werden. Er war von 2008 bis April 2012 Präsident des Jugendverbands ANC Youth League (ANCYL) und hat sich durch radikale Forderungen an die eigene Regierung hervorgetan und versucht, durch eine beleidigende Sprache bei seinen vorwiegend jungen Anhängern zu punkten. Er trieb es so weit, daß ihn der ANC schließlich ausschloß. Die Lebensverhältnisse, in denen sich Malema bewegt, geben indes wenig Anlaß zu der Hoffnung, er habe mehr als nur die Verfolgung persönlicher Interessen im Sinn.


Fußnoten:

[1] "Südafrika Mehr als 30 Tote bei Gewalt in Platinmine", Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 17. August 2012
http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/suedafrika-mehr-als-30-tote-bei-gewalt-in-platinmine-11858842.html

[2] "Illegaler Streik Ausnahmezustand in südafrikanischer Platinmine", Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 19. Februar 2012
http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/illegaler-streik-ausnahmezustand-in-suedafrikanischer-platinmine-11655342.html

[3] "COSATU condemns violence at Lonmin and breakaway `union´ NATAWU", 16. August 2012
http://www.cosatu.org.za/show.php?ID=6421

17. August 2012