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AFRIKA/2008: Testfall Somalia - Die NATO im Weltordnungskrieg (SB)


Weltordnungskrieger NATO

Kampf gegen Seeräuberei als Vorwand - Aufhebung der nationalen Souveränität als Bestandteil von Weltordnungspolitik


Das westliche Militärbündnis NATO stand nie ernsthaft vor seiner Auflösung, nachdem 1991 der Kalte-Krieg-Gegner Sowjetunion und damit der Warschauer Pakt zerfallen war. Die Strategen in den westlichen Metropolen hatten einen Ersatz für den verloren gegangenen Gegner gesucht und rasch in Feindbildern wie "failed states", internationaler Terrorismus und Islamismus gefunden. Das ostafrikanische Land Somalia erfüllt alle drei Kriterien. Seit 1991 existiert dort keine Zentralregierung mehr, die tatsächlich die Kontrolle über das gesamte Territorium ausübte. Als erfolgreichste Ordnungsmacht erwies sich noch die Union der Islamischen Gerichte, die zwischen Juni und 26. Dezember 2006 weite Teile Südsomalias kontrollierte, eine strenge Auslegung der Scharia vertrat, den internationalen Hafen von Mogadischu in Betrieb setzte, Hilfsgüter anlanden ließ und das Piratentum weitgehend unterband.

Doch am zweiten Weihnachtstag drang das äthiopische Militär in Somalia ein, beendete die Phase relativer Ruhe und Erholung von fünfzehn Jahren Bürgerkrieg und brachte gewaltsam eine im Exil gebildete, westlich orientierte Übergangsregierung an die Macht. Die Kämpfer der Union der Islamischen Gerichte verhielten sich taktisch, boten kaum Widerstand und diffundierten in die Zivilbevölkerung. Von dort aus führten sie einen Partisanenkampf, verübten regelmäßig Selbstmordattentate, eroberten Städte, gaben sie wieder auf, aber boten nur selten ein festes Ziel, das durch den an sich überlegenen Militärapparat Äthiopiens hätte aufgerieben werden können.

Nach der Vertreibung der Islamisten nahm die Piraterie wieder zu und lieferte der westlich dominierten internationalen Gemeinschaft eine hervorragende Vorwandslage, um ihre militärischen Konzepte der Ordnungspolitik unter Realbedingungen zu erproben und zu verbessern. Abgesehen von der von den USA angeführten NATO und der Operation Enduring Freedom (OEF), die vor der ostafrikanischen Küste "Piraterie bekämpfen", richtete auch die Europäische Union mit "Operation Atalanta" der EU NAVFOR eine eigene Kriegsmission in dem Seegebiet ein. Darüber hinaus nutzten auch Rußland, China, Indien, Japan, Iran, Saudi-Arabien, Malaysia und weitere Staaten die günstige Gelegenheit, die ihnen eine Reihe von UN-Resolutionen, in denen die Souveränität Somalias nicht nur auf See, sondern auch an Land außer Kraft gesetzt wurde, um sich an diesem Testfall für Konfliktbewältigung zwecks Vertiefung der Weltordnung zu beteiligen. Selbstverständlich wurde die NATO auch Mitglied der Contact Group on Piracy off Somalia (CGPS), die am 14. Januar 2009 in Folge der UN-Sicherheitsratsresolution 1851 gegründet wurde. [1]

Auch wenn weder die Kommandostrukturen noch die ausführenden Organe vor Ort von NATO, OEF und EU NAVFOR identisch sind, stehen die drei Militärmissionen doch für sehr ähnliche Interessen. Bedenkt man jetzt noch, daß der UN-Sicherheitsrat, der die Resolutionen zur Aufhebung der nationalen Souveränität am Beispiel Somalia vollzogen hat, von den gleichen Nationen dominiert werden - den Veto-Staaten USA, Großbritannien und Frankreich - tritt der globalhegemoniale Charakter der Kompetenzaneignung zu Lasten einer nationalen Souveränität deutlich hervor. Dieser Trend wird in der neuen Strategie auf der Basis des Reports "NATO 2020: Assured Security; Dynamic Engagement", der dieser Tage auf der Jahreskonferenz der NATO in Lissabon beschlossen werden soll, befestigt und weiter ausgebaut.

Die neue NATO-Strategie wurde von einer Arbeitsgruppe unter Leitung der früheren US-Außenministerin Madeleine Albright ausgearbeitet. Im Mai diese Jahres

berichtete sie im landesweit ausgestrahlten National Public Radio (NPR) der USA, daß die Bekämpfung der Piraterie zu den Hauptaufgaben der NATO gehören und in Verbindung mit Partnern erfolgen sollte. [2] Die im August dieses Jahres von der NATO gebildete Emerging Security Challenges Division, deren rund 35 Analysten neue Gefahren des 28 Nationen umfassenden Militärbündnisses ausfindig machen sollen, zählt ebenfalls Piratenangriffe - in diesem Fall auf Öltanker - als eine schwere Bedrohung der Sicherheit. [3]

Die NATO sichert die somalische Küste, den Golf von Aden und westliche Teile des Indischen Ozeans nicht nur mit Kriegsschiffen ab, sondern auch mit auf den Seychellen stationierten Drohnen vom Typ MQ-9 Reaper, die ausgerüstet werden können, um Boote mit mutmaßlichen Seeräubern zu beschießen. [4] Bis zu einem Dutzend Bomben und Raketen kann der zwölf Meter lange Reaper befördern. Ob es sich im Falle eines Waffeneinsatzes tatsächlich um Seeräuber handelt oder nicht doch um örtliche Fischer, wird sich im Zweifelsfall nicht klären lassen, da die Berichterstattung nicht in den Händen der Somalier liegt.

Die NATO war es auch, die Soldaten der Afrikanischen Union (AU), welche im Rahmen der AU Mission on Somalia (Amisom) in Mogadischu die Übergangsregierung beschützen, eingeflogen hat. Wirft man den Blick ein wenig über den Tellerrand hinaus, wird erkennbar, daß der Militärpakt bereits etwas praktiziert, was der frühere deutsche Bundespräsident Horst Köhler und der heutige Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg zu den Aufgaben der Bundeswehr gerechnet haben: Sicherung der See- und Handelswege, damit der Rohstoffnachschub nicht ins Stocken und die Wirtschaft nicht in Stottern gerät.

Heute ist Piraterie und die Erpressung von Lösegeld ein Millionengeschäft und eine bedeutende Einnahmenquelle für somalische Seeräuber. Angefangen hatte diese Entwicklung jedoch damit, daß nach dem Sturz des somalischen Diktators Siad Barre und dem Ausbruch des Bürgerkriegs 1991 ausländische Trawler in die von keiner staatlichen Gewalt geschützten Küstengewässer Somalias eingedrungen sind und sie leergefischt haben. Dadurch wurde einheimischen Fischern die Lebensgrundlage geraubt. Zudem nutzten internationale Unternehmen die Gelegenheit und "entsorgten" Müll vor der somalischen Küste. Ganze Schiff samt ihrer teils hochtoxischen, chemischen oder radioaktiven Fracht wurden dort versenkt. Das kam durch den verheerenden Tsunami im Indischen Ozean im Jahr 2004 nach dem Superbeben vor Sumatra sprichwörtlich ans Tageslicht, als Giftfässer an somalische Strände geschwemmt wurden.

Wenn Somalia als "gescheiterter Staat" bezeichnet wird, was sind dann die anderen, die ihm ihren Müll aufdrücken und ihn seiner marinen Schätze berauben? Und wo war die NATO, die angeblich Seeräuberei als Bedrohung betrachtet, aber offensichtlich nicht die Plünderung und den Mißbrauch des Meeres? Offensichtlich ist der interventionistische Anspruch des Militärbündnisses interessensgebunden selektiv.

Die NATO im Kampf gegen Seeräuber - ist es Zufall, daß sie sich an einer der weltweit bedeutendsten Seeverbindungen, über die 20 Prozent des seegestützten Welthandels abgewickelt werden, eingerichtet und festgesetzt hat? Und daß das von der NATO überwachte Seegebiet an der Lebensader des "Schurkenstaats" Iran, dem Persischen Golf, liegt? Und daß auch der Krisenherd Jemen nicht weit ist?

Dem Somalia-Einsatz der NATO kommt eine kaum zu überschätzende geostrategische Bedeutung zu. Die Piraten bilden einen willkommenen Anlaß, die Mechanismen der zukünftigen Weltordnungssicherung im Sinne der globalhegemonialen Mächte zu verfeinern. Dabei tritt die NATO nicht zwingend als Konkurrent beispielsweise zu Rußland oder China auf, obgleich beide Staaten in den geostrategischen Plänen der NATO als Widersacher gelten. Aber es werden auch vorübergehende Zweckbündnissen geschlossen, zumal der gegenwärtige Weltordnungskrieg nicht nur ein Krieg der Nationen gegeneinander ist, sondern auch und vor allem ein Krieg nach innen. Der richtet sich im Kern gegen Lebensgemeinschaften, die sich traditionell gegen eine zentralistische Verfügungsgewalt behaupten.

Das Clanswesen Somalias hat zwar längst nicht mehr die Verbindlichkeit von einst, aber nach wie vor bilden die Clans und Sub-Clans für die somalische Bevölkerung den wichtigsten sozialen Bezugsrahmen. Dann erst folgt der Staat in der Prioritätenliste, gegenüber wem ein Somalier loyal ist. Sowohl der westliche Kultur- und Konsumeinfluß als auch die von außen eingebrachte extreme Religiosität der sogenannten Islamisten tragen auf ihre jeweilige Weise zur Auflösung der Clansstruktur bei.

Am Beispiel Somalia wird vieles an ordnungspolitischen Maßnahmen abgearbeitet, das später einmal gebraucht wird, um nach einer Phase an nationalen Weltordnungskriegen nur noch Weltinnenpolitik zu betreiben und die Verfügungsgewalt des Staates auf Bereiche des Lebens auszudehnen, die heute noch unreglementiert sind und von den Menschen als selbstverständliche, vermeintlich unangreifbare Freiheiten in Anspruch genommen werden. An der Qualifizierung dieser Entwicklung wird die NATO mit ihrer für die nächsten zehn Jahre geltenden Strategie einen wesentlichen Anteil haben.


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Anmerkungen:

[1] http://www.state.gov/t/pm/rls/othr/misc/129273.htm

[2] "Madeleine Albright On Redefining NATO", Heard on Talk of the Nation mit Neal Conan, National Public Radio (NPR), 21. Mai 2010
http://www.npr.org/templates/transcript/transcript.php?storyId=127015746

[3] "NATO division created to predict new threats", Stars and Stripes, 8. August 2010
http://www.stripes.com/news/europe/nato-division-created-to-predict-new-threats-1.113830

[4] "U.S. drones to protect ships from Somali pirates", Shipping News, Originalquelle: Associated Press, 26. Oktober 2009
http://bestshippingnews.com/shipping-news/u-s-drones-to-protect-ships-from-somali-pirates/

17. November 2010