Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

AFRIKA/2004: Repressionen gegen Sahrauis - Marokkos Militär umstellt "Lager der Würde" (SB)


Westsahara - ein vergessener Konflikt

Sahrauis bringen sich mit Errichtung eines Lagers der Würde in Erinnerung


Wenn ein Staat seine Armee über die eigenen Landesgrenzen hinaus in Marsch setzt, nennt man das erobern. Wenn diese Armee in dem fremden Territorium bleibt, wird dies Besatzung genannt. So unkompliziert verhält es sich mit dem, was das Königreich Marokko mit der Westsahara gemacht hat. Bis 1975 von den Spaniern besetzt, waren nach dem Abzug der europäischen Kolonialherren mauretanische und marokkanische Streitkräfte auch unter Einsatz von Napalm- und Phosphorbomben in das Gebiet vorgedrungen. Sahrauis, die den bewaffneten Kampf gegen die neuen Kolonialherren aufgenommen und sich der Frente Polisario angeschlossen hatten, wurden nach Osten abgedrängt und mußten über die Grenze in die abgelegene algerische Geröllwüste fliehen. Dort, südlich der Stadt Tindouf, hat die Widerstandsbewegung die Sahrauische Arabische Demokratische Republik (SADR) ausgerufen. Sahrauis, die diese Lager besuchen und nach Westsahara zurückkehren, oder die den Status des Gebiets als zu Marokko gehörig in Frage stellen, droht Verhaftung, Gefängnis und Folter. Viele Sahrauis sind spurlos verschwunden.

Die Polisario hat die marokkanischen Besatzer bekämpft und 1991 einem Waffenstillstand zugestimmt. Seitdem sind die Vereinten Nationen im Rahmen der Mission MINURSO in der Westsahara präsent. Heute setzt sich die UN-Mission aus 500 Personen zusammen, davon 276 Zivilisten. Die wesentliche Aufgabe der UN-Soldaten besteht darin, den Waffenstillstand zu überwachen und ein Referendum vorzubereiten. Mit Hilfe der Vereinten Nationen wurde die Frente Polisario 1991 erfolgreich davon abgehalten, ihren bewaffneten Kampf gegen die Besatzung durch Marokko fortzusetzen und wird seitdem vertröstet. Nicht etwa in der Hinsicht, daß Marokko irgendwann seine Soldaten wieder abzieht, sondern lediglich, daß die Besatzungsmacht ein Referendum über das Selbstbestimmungsrecht der Sahrauis abhalten läßt. Dazu ist es bis heute nicht gekommen.

Der UN-Beobachtungsauftrag bezieht noch nicht einmal die Einhaltung der Menschenrechte ein. Würde er es, genügte vermutlich diese Personalstärke nicht, um all die Menschenrechtsverletzungen aufzuschreiben, die von Seiten der marokkanischen Besatzer begangen wurden und werden. Das Mandat der MINURSO wurde am 30. April 2010 um ein Jahr verlängert.

Marokko ist ein wichtiger Handelspartner der Europäischen Union. Es sichert den Fischfang der EU-Trawler vor der westsaharischen Küste und beliefert die ganze Welt mit dem wichtigen Düngemittel Phosphat, das in den besetzten Gebieten abgebaut wird. Auch Erdöl und Erdgas werden auf westsaharischem Territorium vermutet. Marokko tut sich ebenfalls als wichtiger Partner der EU bei der Flüchtlingsabwehr hervor, und es hat dem US-Geheimdienst gestattet, von seinem Boden aus den sogenannten Globalen Kampf gegen den Terror zu organisieren. Damit sichert sich das Königreich einflußreiche Verbündete.

Das bei der Eroberung Westsaharas deutlich zutage getretene Hegemonieinteresse Marokkos steht nicht im Widerspruch zu den globalen Hegemonieinteressen der EU und der USA, die bezeichnenderweise keine nennenswerten Anstrengungen zur Beendigung der Besatzung unternehmen. Da bleibt ein "unwichtiges" Volk wie die Sahrauis auf der Strecke. Ein 2800 Kilometer langer Grenzwall trennt das Gebiet der von Marokko besetzten Westsahara vom kleineren Polisario-Gebiet ab. Gesichert wird der Wall von 100.000 bis 150.000 marokkanischen Soldaten. Zahllose Tretminen sind hier und in anderen Regionen der Westsahara ausgestreut. Ihnen fallen immer wieder Menschen zum Opfer.

Seit 19 Jahren halten die unterdrückten Sahrauis still. Mit jedem Jahr, das abwartend verstreicht, nimmt die Wahrscheinlichkeit ab, daß eine Volksbewegung entsteht, die zu den Waffen greift. Zeitgleich mit der Hinhaltetaktik betreibt Marokko ein forciertes Ansiedlungsprogramm und verlockt marokkanische Untertanen mit lukrativen Anreizen zur Umsiedlung nach Westsahara. Dadurch wandelt sich die Bevölkerungsstruktur. Umgekehrt gilt zumindest für die 160.000 Flüchtlinge, die teils in der dritten Generation in vier größeren Lagern in der algerischen Wüste leben und nahezu vollständig auf die Versorgung von außerhalb angewiesen sind, daß sie wenig Neigung verspüren, Nachwuchs in eine solche Welt zu setzen.

Von Staaten, die ebenfalls andere Länder überfallen und mit Bombenterror überziehen und dies ebenso mit schönen Worten wie Befreiung, Demokratisierung, Verteidigung (Deutschlands am Hindukusch) umschreiben, ist nichts anderes zu erwarten, als daß sie die Annektion der Westsahara letztlich legitimieren. Selbst die zahlreichen Folterberichte, die auch von internationalen Menschenrechts- und Hilfsorganisationen Jahr für Jahr aus Westsahara bestätigt werden, finden ihre Entsprechung in Berichten aus Abu Ghraib, Guantánamo, Bagram und zahllosen weiteren Folterstätten von CIA und Co. in aller Welt. Marokko war eine wichtige Drehscheibe für Folterflüge (rendition flights) des US-Geheimdienstes CIA und stellt noch heute einen wichtigen Stützpunkt der Vereinigten Staaten im Globalen Krieg gegen den Terror dar.

Es besteht seitens der EU und USA nicht das Interesse, Marokko so sehr unter Druck zu setzen, daß es das Referendum abhält, geschweige denn daß es sich aus Westsahara zurückzieht. Und auch dort wurden inzwischen Marokkaner geboren und leben in dem besetzten Gebiet in der zweiten oder dritten Generation, was eine zwangsweise Rücksiedlung verbieten sollte. Es müßten über Marokkos Zugeständnis eines Autonomiestatus hinausgehend Formen der Selbstbestimmung des sahrauischen Volks gefunden werden, bei denen Marokko sein Ansiedlungsprogramm stoppt und die bereits seit längerem in der Westsahara lebenden Marokkaner als Teil des neuen Staats unter Verwaltung der Sahrauis anerkannt werden. Das setzte allerdings voraus, daß Marokko dazu gebracht wird, seine Okkupationspolitik aufzugeben. Denkbar wäre eine politische Isolierung des Königreichs und ein wirtschaftlicher Boykott ähnlich dem Südafrikas (wenngleich ohne die heimlichen Geschäfte auch der deutschen Industrie mit dem Apartheidregime). Daß solche Vorschläge weltfremd wirken, zeigt, wie weit es Marokko und seinen Verbündeten gelungen ist, der Besatzung ein pseudolegitimes Antlitz zu verleihen.

Marokko nutzt geschickt "grüne" Projekte wie Desertec, um den Besatzungsstatus der Westsahara vergessen zu machen. Das Königreich will fünf Solarkraftwerke errichten, bei denen Sonnenlicht von Reflektoren auf ein Wärmeleitmedium fokussiert wird und es erhitzt, was wiederum einen Generator in Betrieb setzt. Zwei Solarkraftwerke sollen in dem besetzten Gebiet an den Standorten El-Aaiún und Cap Boujdour aufgebaut werden, und es sollte nicht wundern, wenn ausgerechnet hierauf die angekündigte Zusammenarbeit Marokkos mit dem Industriekonsortium, das unter dem Namen Desertec firmiert und von deutschen Unternehmen dominiert wird, entfällt.

Um dem steten Strom des Vergessens Einhalt zu gebieten und die Weltöffentlichkeit auf ihre mißliche Lage aufmerksam zu machen, unternahmen die Sahrauis schon viele Anstrengungen. Bei einer aktuellen Aktion haben 20.000 Einwohner die Städte El-Aaiún, Smara und Bojador verlassen und rund 15 Kilometer von der westsaharischen Hauptstadt El-Aaiún entfernt ein "Lager der Würde" errichtet. Abgesehen von der ungelösten Grundsatzfrage über den Status der Westsahara richtet sich der Protest speziell gegen die permanente soziale Benachteiligung der Sahrauis unter marokkanischer Herrschaft und unter anderem auch gegen die Europäische Union, die zur Zeit ein neues Fischereiabkommen mit der Besatzungsmacht aushandelt, da das alte im März 2011 ausläuft.

Schon bald nach Gründung des "Lagers der Würde" zog das marokkanische Militär auf und hat es abgeriegelt; der Handyempfang wurde unterbunden. Als der 14jährige Elgarhi Nayem Foidal Mohamed Sueid und sieben weitere Personen in der Nacht vom 24. auf den 25. Oktober mit einem Geländewagen Lebensmittel, Wasser und Medikamente in das Lager bringen wollten, wurde das Fahrzeug verfolgt und beschossen. Dabei starb der Junge, die anderen wurden verletzt. Marokko setzt auf Härte und will die Lagerbewohner aushungern, eine lokale und internationale Solidarisierung soll verhindert werden.

Eine neue Verhandlungsrunde zwischen Marokko und der Frente Polisario ist für den 3. bis 5. November angesetzt. "Verhandlung" scheint allerdings nicht der richtige Begriff, wenn Besatzer und Besatzungsopfer an einem Tisch sitzen. Erst wenn man sich auf Augenhöhe gegenüber sitzt, könnte man von Verhandlungen sprechen.

Unzählige Mahnungen, Appelle, UN-Resolutionen und Bemühungen von europäischen und US-amerikanischen Unterhändlern, von Nichtregierungsorganisationen, Kirchenvertreten und anderen zivilgesellschaftlichen Personen oder Gruppen haben Marokko nicht einmal zum Minimalkonsens bewegen können, ein Referendum abhalten zu lassen, ob die Bewohner der Westsahara seinem Vorschlag für einen Autonomiestatus oder der Selbstbestimmung den Zuschlag geben. Ohne die aktive und passive Unterstützung durch einflußreiche Staaten der EU oder die USA könnte sich Marokko diese sture Haltung nicht herausnehmen. Das Beispiel zeigt, wie wenig belastbar Begriffe wie "internationale Gemeinschaft" sind, wenn es um den Schutz von Gemeinschaften geht, die kaum über Einfluß verfügen und letztlich auch keine größeren Verbündeten haben, die ihre Interessen durchsetzen.

Die Sahrauis stehen hier modellhaft für viele Gemeinschaften, Ethnien oder Völker, deren Selbstbestimmungsrecht entweder gar nicht erst anerkannt oder aber formal anerkannt wird, ohne daß darauf eine Umsetzung in konkrete Politik folgte. In einer abweichenden Variante wird das Selbstbestimmungsrecht von Hegemonialmächten zur Durchsetzung des eigenen Anliegens instrumentalisiert und gegen Kontrahenten in Stellung gebracht. Die Mitglieder der Europäischen Union erweisen sich als einflußreiche Kräfte im Hintergrund. Es fällt allemal leichter und tangiert die eigenen Verwertungsinteressen weniger, wenn man sich an der Versorgung der Flüchtlingslager in der algerischen Wüste beteiligt, als sich beispielsweise entschieden für die Freiheit der politischen Gefangenen der Sahrauis unter marokkanischer Herrschaft einzusetzen.

1. November 2010