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LAIRE/1364: Frankreich - die Atommacht ... (SB)



Entgegen der landläufigen Rezeption der Rede des französischen Präsidenten Emmanuel Macron am 7. Februar an der Militärakademie in Paris bestand der bedeutendere Teil nicht in dessen Absage an den deutschen Vorstoß, die französischen Atomraketen unter die Kontrolle der NATO oder EU zu stellen, sondern in seinem unerschütterlichen Bekenntnis zur nuklearen Abschreckungsdoktrin. Auch wenn Macron häufiger das Wort "Abrüstung" verwendete, sprach er sich nicht gegen, sondern umgekehrt für die Aufrüstung aus. 35 Milliarden Euro steckt die "Grande Nation" in die Modernisierung seiner rund 300 Atombomben, und niemand anderes als der Oberbefehlshaber der französischen Streitkräfte soll weiterhin den roten Knopf drücken dürfen.

Die Europäer sollten sich gemeinsam darüber im klaren sein, daß auf ihrem Boden wieder ein konventionelles oder gar nukleares Wettrüsten einsetzen könnte. Dabei dürfe man sich nicht auf die Rolle des Zuschauers beschränken. Das wäre bei einer Konfrontation mit außereuropäischen Atommächten nicht akzeptabel, verfing sich Macron in der durchaus verbreiteten, indes selbstreferentiellen Logik der Aufrüstungsspirale: Weil andere Nationen finstere Absichten hegen und sich nuklear bewaffnen, darf Frankreich nicht zurückstehen.

Ist es nicht seltsam, daß man die gleichen Reden auch von den Staatsführern in Washington, Moskau und Peking hören kann und alle eigentlich gar nicht das tun wollen, was sie tun, nämlich konventionell und nuklear aufrüsten? Nein, es ist nicht seltsam. In einer nach Nationen geordneten Welt, in der eine mit der anderen konkurriert oder Bündnisse eingeht, um sich gegenüber der Konkurrenz zu behaupten, sind unterschiedlichste Formen von Gewalt und deren Bemittelung von vornherein angelegt. Beispielsweise mit Atomwaffen. Davon wurden schon so viele angehäuft, daß mehrfache Overkillkapazitäten entstanden sind.

Nationenkonkurrenz belebt das Rüstungsgeschäft, drängt Arbeiterinnen und Arbeiter an die Werkbänke und sorgt bei passender Gelegenheit dafür, daß die Bevölkerung einer ganzen Stadt mit Atombomben ausradiert wird. So geschehen im August 1945 an zwei Orten Japans, Hiroshima und Nagasaki, durch die USA. Die dabei zu Hunderttausenden Getöteten standen nicht in Konkurrenz zu den Maisbauern in Kansas, der Zeitungsverkäuferin in New York oder dem diversen Comedian in San Francisco. Es waren die Nationen und deren Sachwalter, die die Abschreckungsdoktrin erfunden und damit ganze Bevölkerungen in Schach gehalten hatten und dies heute noch tun. Jedoch nicht die Bevölkerungen der anderen Staaten, sondern die eigenen! Darin besteht die hauptsächliche Funktion des bislang mächtigsten Zerstörungswerkzeugs, das die menschliche Zivilisation ersonnen hat.

Nicht nur die zum Feindbild auserkorenen Russen oder Chinesen werden durch französische Atomwaffen bedroht, sondern die Menschen in Frankreich. Weil der Einsatz der eigenen Atombombe einen Gegenschlag mit Atomwaffen von der anderen Seite provozieren würde. Und was machen Menschen mit ihren Ängsten ob der wachsenden Kriegsgefahr? Wie gehen sie damit um? Sie wollen beruhigt werden, und da bietet sich die eigene Regierung als Ausweg an. Macron verspricht Stärke. Das tun all die Putin, Trump und Xi dieser Welt gegenüber ihren Bevölkerungen ebenfalls. War nicht das Schüren von Furcht schon immer ein Mittel der Herrschaftssicherung?

Abrüstung an sich könne kein Ziel sei, sondern zuerst müßten die Bedingungen der internationalen Sicherheit verbessert werden, meinte Macron. Als sei Frankreich nie daran beteiligt gewesen, eben jene Bedingungen zu schaffen, die heute für die vermeintliche Notwendigkeit einer starken Militärmacht herhalten müssen!

Es war Frankreich, das am 14. April 2018 an der Seite der USA und Großbritanniens die syrische Hauptstadt Damaskus und die Stadt Homs mit Marschflugkörpern attackierte, weil, so die unbewiesene Behauptung, die syrische Regierung die eigene Bevölkerung mit Giftgas angegriffen hatte. Frankreich war auch 2011 eine der treibenden Kräfte bei der gewaltsamen Beseitigung des libyschen Revolutionsführers Muammar al-Gaddafi. Libyen zählte bis dahin zu den afrikanischen Staaten mit den höchsten Sozialleistungen. Deshalb war es auch lange Zeit ein begehrtes Einwanderungsland für Menschen aus anderen Teilen Afrikas.

Nach dem von einigen NATO-Nationen herbeigeführten Umsturz tauchten libysche Waffen in Sahelstaaten wie Niger und Mali auf und fachten die dortigen Konflikte an, was wiederum Frankreich zum Anlaß nahm, Truppen dorthin zu entsenden. Wie praktisch! Ebenfalls 2011 war Frankreich in der Elfenbeinküste am Beschuß des Präsidentenpalastes beteiligt, in dem sich der bisherige Amtsinhaber Laurent Gbagbo verschanzt hatte, weil er, unterstützt vom Verfassungsrat seines Landes, die umstrittenen Ergebnisse, die zu seiner "Abwahl" geführt hatten, nicht kampflos hinnehmen wollte. In jüngerer Zeit waren oder sind französische Soldaten im Irak, in Afghanistan, Mali, der Zentralafrikanischen Republik und der Sahelzone im Einsatz.

Wenn also Macron eine zunehmend unsicher werdende Welt konstatiert, dann unterschlägt er die Rolle Frankreichs darin. Denn der französische Interventionismus hat, meist im Bündnis mit anderen Nationen, nirgends zu der in Aussicht gestellten Konfliktbewältigung, sondern stets zu dessen Verschleppung oder gar Verschärfung geführt. Außerdem unterstützt Frankreich als ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat Sanktionen gegen Länder, die den Zweck haben, die Versorgungslage der Bevölkerungen massiv zu beeinträchtigen, so daß sich diese gegen ihre Regierungen erheben. Man kann auch sagen, Unsicherheit zu produzieren ist das Ziel von Sanktionen.

Stellenweise besaßen Macrons Ausführungen vor den Offizieren und Offiziersanwärtern an der Kriegsschule (l'école de guerre) den Charakter einer Brandrede. Indem der Staatspräsident behauptete, daß die französische Armee durch ihre Präsenz und ihre Operationen in Übersee zur Stabilisierung von Regionen beiträgt, in denen das "Chaos" zunimmt, hat er die heutigen und zukünftigen militärischen Führungskräfte ideologisch auf bevorstehende kriegerische Auseinandersetzungen eingestimmt. Zugleich versprach er ihnen mehr Waffen. Und zwar reichlich! Alles Gerede um Abrüstung, der Frankreich eigentlich verpflichtet sei, wird durch Bemerkungen hinfällig, wonach die "langsame Erosion unserer militärischen Fähigkeiten" gestoppt und die Streitkräfte an das neue strategische Umfeld angepaßt werden sollen. Im Bereich der Verteidigung würden "beispiellose" haushaltspolitische Anstrengungen unternommen; das sei eine "dauerhafte Anstrengung".

Hinsichtlich des Nutzens von Atomwaffen war die Rede des französischen Präsidenten von einer äußerst gefährlichen Ambivalenz geprägt. Gefährlich deshalb, weil er einerseits die "nukleare Abschreckung" einschränkungslos gutheißt, andererseits aber behauptet, daß er als Verantwortlicher einer "streng defensiven" Doktrin folgt. Doch nur im Diskurs der Abschreckungsapologeten erscheint die Drohung mit Atomwaffen als defensiv. Alle anderen, gegen die sich die Drohung richtet, dürften das anders sehen, nämlich als Aggression, Erpressung oder Mittel der Unterwerfung. So erklärte Macron, daß sein Land schon morgen in einem "großen Konflikt" - sprich: Krieg - zur Verteidigung der kollektiven Sicherheit oder Achtung des Völkerrechts und des Friedens involviert sein könnte.

Jene von ihm reklamierte "Kollektivität" schließt folgerichtig andere Staaten aus, und was die Achtung des Völkerrechts betrifft, so gehört Frankreich zu den Staaten, die das Völkerrecht zu ihren Gunsten interpretieren und gegebenenfalls Vorwände erfinden, Anlässe überhöhen, unklare Sachlagen zum Schaden der anderen Seite auslegen, um sich als UN-Sicherheitsratsmitglied selbst zu mandatieren und "humanitär" zu intervenieren.

Kernwaffen dürfen nicht als Mittel der Einschüchterung, des Zwangs oder der Destabilisierung verstanden werden; sie müßten Instrumente der Abschreckung bleiben, um einen Krieg zu verhindern, behauptete Macron. Wenn aber ein solcher Staatsführer reklamiert, daß seine Verteidigungsstrategie ein kohärentes Ganzes ist und sich konventionelle und nukleare Streitkräfte gegenseitig unterstützen, und eben dieser Staatsführer das Bild einer Welt entwirft, die zunehmend ins Chaos fällt, müßten sich dann nicht alle vor den französischen Atomwaffen fürchten?

Deren Einsatzschwelle könnte niedriger liegen, als man es sich wünscht. Denn bereits bei einer mutmaßlichen Bedrohung "lebenswichtiger Interessen" Frankreichs werden Atomwaffen letztlich zu einem Mittel, diese Interessen zu verteidigen und Frankreichs "Sicherheit" zu garantieren. Die nukleare Abschreckung habe eine grundlegende Bedeutung für die Bewahrung des internationalen Friedens und der Sicherheit gespielt, insbesondere in Europa, führte Macron großspurig aus. Er sei fest davon überzeugt, daß die Abschreckungsstrategie alle ihre stabilisierenden Tugenden behält und in der Welt des Wettbewerbs zwischen den Mächten, der Enthemmung des Verhaltens und der Erosion der Normen, "die sich nun vor unseren Augen abspielt", ein besonders wertvolles Gut bleibt. In solchen Formulierungen wird das vermeintlich Abnorme bereits ins Fadenkreuz genommen.

Die französische Nuklearstrategie ziele im wesentlichen auf die Verhinderung eines Krieges ab, schwadronierte Macron, und man möchte fragen: Und was ist mit dem, was über das "Wesentliche" hinausgeht? Macht es keinen wesentlichen Unterschied im Verhältnis der Staaten untereinander, wenn ein Land über Atomwaffen verfügt, das andere aber nicht? Der Frieden, den Macron anstrebt, ist mit dem Schwert geschaffen, und auf dessen Klinge steht: Liberté, Égalité, Fraternité.

12. Februar 2020


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