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LAIRE/1339: Ernährung - Zukunft ungewiß ... (SB)



Die Pandemien von Übergewicht, Unterernährung und Klimawandel sind drei der schwerwiegendsten Bedrohungen der menschlichen Gesundheit und des Überlebens. Diese Pandemien bilden eine Globale Syndemie, beruhend auf ihr Zusammentreffen in Zeit und Ort, ihren Interaktionen auf der biologischen, psychologischen und sozialen Ebene sowie der Gemeinsamkeit der breit aufgestellten gesellschaftlichen Kräfte und bestimmenden Faktoren.

Eine internationale Kommission, die vom Medizinjournal "The Lancet" eingesetzt wurde, empfiehlt eine umfassende Umstrukturierung der globalen Nahrungsmittelproduktion, um die "Globale Syndemie" aus den drei Pandemien Unterernährung, Übergewichtigkeit und den Gesundheitsfolgen des Klimawandels zu bekämpfen. In "The Global Syndemic of Obesity, Undernutrition, and Climate Change: The Lancet Commission report" (z. Dt.: Die Globale Syndemie aus Übergewicht, Unterernährung und Klimawandel: Der Lancet-Kommission-Bericht) [1] wird unter anderem eine Reduzierung der kommerziellen Interessen der Konzerne bei der Nahrungsmittelproduktion, eine stärkere Einbindung der lokalen Ebene und der Zivilgesellschaft sowie des indigenen Wissens bei politischen Entscheidungen rundum die Nahrungsmittelproduktion und den landwirtschaftlichen Anbau empfohlen.

Der Bericht wurde am 27. Januar veröffentlicht. Seitdem hat man nichts weiter von ihm gehört; Stellungnahmen oder andere Reaktionen politischer Entscheidungsträger blieben bislang aus. Das Rad der Geschichte dreht sich weiter. Hat die Lancet-Kommission, wie so viele andere, die Mahnungen, Überlegungen und Konzepte zur Verhinderung einer wachsenden globalen Hungerlage formuliert haben, bloß in den Wind gesprochen?

Der ursprüngliche Auftrag an die Lancet-Kommission sah vor, daß sie einen Bericht zum weltweiten Phänomen des Übergewichts erarbeitet. Aus eigenen Stücken hat sie jedoch den Rahmen der Untersuchung auf jene Globale Syndemie erweitert und ist zu Empfehlungen gelangt, die weder einzigartig noch revolutionär sind, aber dennoch die Probleme der Menschheit umfassender in Angriff nehmen als andere Untersuchungen, die dem Tunnelblick ihrer jeweiligen Fachrichtung unterworfen geblieben sind.

Um ein aktuelles Beispiel zu nennen, das hier, ungeachtet der unterschiedlichen Ausgangsbedingungen und Zielsetzungen, stellvertretend genannt werden soll: Die deutsche Kohlekommission - offiziell Kommission für Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung genannt - besaß nicht den Mut oder das Interesse, ihren Auftrag dahingehend zu erweitern, daß sie gesagt hätte, wir als Vertretung des Industriestaats Deutschland müssen auch das Thema Klimagerechtigkeit (Nord-Süd-Gerechtigkeit) in unseren Empfehlungen berücksichtigen. Bevorzugt wurde dagegen die nationale Sichtweise.

"Mangelernährung in all ihren Formen, einschließlich Fettleibigkeit, Unterernährung und anderer Ernährungsrisiken sind die wichtigsten Faktoren für die schlechte Gesundheit weltweit", beginnt der Bericht der Lancet-Kommission. "In naher Zukunft werden die gesundheitliche Auswirkungen des Klimawandels diese gesundheitlichen Herausforderungen verstärken." Von den drei einander beeinflussenden Pandemien sind alle Menschen in allen Regionen weltweit betroffen.

Die Lösungsvorschläge der Lancet-Kommission deuten auf ein modernes Politikverständnis, bei dem auf mehreren Ebenen, der globalen, nationalen, regionalen und lokalen, angesetzt wird, damit gesellschaftliche Veränderungen erzielt werden. Diese sollen nicht mehr von oben herab dirigiert werden, sondern man soll der Zivilgesellschaft mehr Einfluß einräumen. Dahinter steht die Vorstellung, daß, wenn eine Veränderung nur von genügend Menschen mitvollzogen wird, von unten nach oben so viel Druck entsteht, daß die Politik nicht anders kann, als darauf zu reagieren. Ein Schlagwort hierzu, das in anderen Kontexten gerne verwendet wird, lautet, daß die gesellschaftliche Transformation nicht mehr "top down", sondern "bottom up" eingeleitet werden soll.

Dieses Konzept hatte sich in Folge des von vielen Menschen als gescheitert angesehenen UN-Klimagipfels 2009 in Kopenhagen herausgebildet. Damals war deutlich geworden, daß die Regierungen nicht willens oder nicht in der Lage sind, das globale Klimaproblem konstruktiv in Angriff zu nehmen und eine enkeltaugliche Welt zu hinterlassen.

Seitdem setzt sich bei vielen engagierten Menschen in der Zivilgesellschaft die Vorstellung durch, daß das persönliche Verhalten etwas bewirken kann. Wenn beispielsweise Eltern an der Schule ihrer Kinder durchsetzen, daß diesen nicht nur Fast Food oder Fertiggerichte vorgesetzt wird, sondern daß auch gesündere Lebensmittel angeboten und diese so attraktiv gemacht werden, daß die Kinder bereit sind, zuzugreifen, dann verändert sich etwas an dieser einen Schule. Machen das viele Eltern, verändert sich was an vielen Schulen, und es wächst eine Generation von Kindern heran, die eine andere Einstellung zur Ernährung haben. "Agents of change" nennt die Lancet-Kommission solche "Entscheidungsträger" in der Gesellschaft, deren kollektives Handeln dieser Vorstellung zufolge eine Veränderung bewirken kann.

Immer mit Blick auf die drei Pandemien gelangt die Lancet-Kommission zu dem Befund:

- Unterernährung ist zwar rückläufig, aber das genügt nicht, um die UN-Nachhaltigkeitsziele (SDG 2030) zu erreichen. Deren zweites Ziel sieht vor, den Hunger in der Welt bis zum Jahr 2030 zu beenden. Andere Ziele sind eng mit der Ernährung der Menschen verknüpft.
- Seit Beginn der 1980er Jahre hat sich eine Pandemie der Übergewichtigkeit und Fettleibigkeit entwickelt. Im Jahr 2015 galten weltweit zwei Milliarden Menschen als zu schwer im Verhältnis zu ihrer Körpergröße, was der Hauptfaktor für nicht-übertragbare Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Typ 2 Diabetes und bestimmte Krebsarten ist.
- Die Landwirtschaft ist ein sehr wichtiger Faktor für klimarelevante Treibhausgasemissionen. Aber auch hochverarbeitete Lebensmittelprodukte und zuckerhaltige Getränke tragen zur Emissionssteigerung bei.

Die veranschlagten finanziellen Kosten für die hier nur in wenigen Sätzen erläuterte dreiteilige Globale Syndemie sind riesig:

- Die direkten Gesundheitskosten und Verluste der ökonomischen Produktivität durch Übergewicht werden mit zwei Billionen Dollar jährlich angegeben, was 2,8 % des globalen BIP ausmacht.
- Unterernährung schlägt für Afrika und Asien mit 3,5 Bio. Dollar pro Jahr zu. Laut der Weltbank wären über zehn Jahre hinweg 70 Mrd. Dollar erforderlich, um die SDGs hinsichtlich des Punkts der Unterernährung einzuhalten. Den ökonomischen Rückfluß dieser Ausgaben beziffert die Weltbank auf 850 Mrd. Dollar.
- Der Klimawandel wird fünf bis zehn Prozent des globalen BIP in Anspruch nehmen, könnte aber durch den rechtzeitigen Einsatz von nur einem Prozent des BIP abgemildert werden.

In ihrem 56seitigen Report gibt die Lancet-Kommission neun zentrale Empfehlungen ab, die sich wiederum auf 20 Unterpunkte aufteilen. Abgesehen von sehr allgemein gehaltenen Ratschlägen wie, daß der Blick für das Zusammentreffen der gemeinsamen Faktoren der drei genannten Pandemien geschärft werden müsse, wird die Kommission an einigen Stellen konkreter. So stellt sie fest, daß große Nahrungsmittelkonzerne und Hersteller von Süßgetränken einen zu großen Einfluß auf die Politik besitzen und in vielen Ländern die Verhängung allzu strenger Regularien verhindert haben. Zwar habe die Lebensmittelindustrie in der Vergangenheit dazu beigetragen, daß mehr Lebensmittel produziert werden, aber ausgerechnet diese Strukturen seien inzwischen überholt. Die Großindustrie habe sich zu sehr darauf verlegt, besonders energiereiche Nahrung herzustellen, wohingegen ein zu geringer Wert auf die Versorgung mit lebenswichtigen Nährstoffen (Vitamine, Mineralien) gelegt worden sei.

Die Unternehmen müßten von ihrer reinen Profitorientierung zu sozial- und umweltverträglichen Geschäftsmodellen wechseln. Auch der von Umweltorganisationen regelmäßig vorgebrachte Punkt, daß die Industrie die Profite einheimst, aber die Kosten auf die Allgemeinheit abwälzt (externalisiert), wird von der Kommission aufgegriffen:

"In Wirtschaftssystemen, in denen die Eigeninteressen mächtiger transnationaler Unternehmen finanzielle Vorteile erbringen, die maximal privatisiert sind, fallen die sozialen und ökologischen Kosten oder Externalitäten den Verbrauchern, Steuerzahlern, Hausbesitzern und zukünftigen Generationen zu. Die größten Risiken für die Gesellschaft und die wirtschaftliche Entwicklung in der Zukunft werden stark vernachlässigt." (S. 12)

Die Bandbreite eines Ansatzes, bei dem drei globale Probleme zugleich in Angriff genommen werden, wird daran deutlich, daß sich der Report ebenfalls sehr deutlich gegen die Diskriminierung von übergewichtigen Menschen in der Gesellschaft wendet. Beispielhaft schildert eine Frau, die Mitglied der Lancet-Kommission ist, daß sie, als sie starke Hüftschmerzen hatte, von Ärzten mit der Diagnose "Übergewicht" abgespeist worden war, bis endlich ein Orthopäde herausgefunden habe, daß die Schmerzen von einer Verformung des Rückgrats ausgingen. Erst aufgrund dieser Diagnose sei die Behandlung erfolgreich verlaufen, und das Problem ihres Übergewichts habe sie nun auch im Griff. (S. 6)

Der Begriff "obesogenic environment" (Übergewicht fördernde Umwelt), von dem in dem Report immer wieder die Rede ist, verdeutlicht den bevorzugten antidiskriminatorischen Ansatz der Autorinnen und Autoren. Weg von der Bezichtigung des einzelnen sind mit "obesogenic environment" die gesellschaftlichen Bedingungen gemeint, die eine Entwicklung zu Übergewicht, das meist im Kindesalter anfängt, begünstigen. Gleich an erster Stelle steht, daß gesündere Lebensmittel in der Regel teurer sind. Zudem bewirbt die Lebensmittelindustrie ihr "convenient food" und ihre energiereichen Süßgetränke massiv. Hinzu kommt aber auch, daß Kinder von Eltern, die beide in Schichtarbeit tätig sind, häufiger vorgefertigte Lebensmittel, die sie nur noch in den Ofen schieben müssen, essen.

Bestätigt wird der Befund der Lancet-Kommission durch Beobachtungen, wonach beispielsweise Stadtviertel von London mit überwiegend einkommensschwachen Haushalten, was die Einkaufsmöglichkeiten von gesunden Lebensmitteln betrifft, unterversorgt sind und die Menschen einen vergleichsweise weiten Weg zum Einkaufen zurücklegen müssen, wollten sie sich gesünder ernähren. Und aus der kürzlich veröffentlichen Umfrage der National Health and Nutrition Examination Survey der USA geht hervor, daß dort zwischen 2013 und 2016 36,6 Prozent der Erwachsenen älter als 20 Jahre an einem Stichtag Fast Food gegessen haben. [2] Seitdem weist der Trend in den USA noch mehr in Richtung Fast-Food-Verzehr. [3]

Der vorliegende Bericht ist in diesem Jahr schon die zweite Publikation einer Lancet-Kommission zum übergreifenden Thema der globalen Transformation der Nahrungsmittelproduktion. Die erste erschien am 16. Januar unter dem Titel "Food in the Anthropocene: the EAT-Lancet Commission on healthy diets from sustainable food systems" (z. Dt.: Lebensmittel im Anthropozän: die EAT-Lancet-Kommission zu den Themen gesunde Ernährung aus nachhaltigen Ernährungssystemen). [4]

Die hier beispielhaft wiedergegebenen Empfehlungen wurden gewiß nicht mit der Absicht eines gesellschaftlichen Umsturzes verfaßt, wohl aber mit der einer Transformation, bei der einige Grundpfeiler der Gesellschaft umgestoßen und neu aufgerichtet werden. Vergleichbar beispielsweise mit den Empfehlungen, wie sie auch der WBGU, der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen, im Jahr 2011 mit seinem Hauptgutachten "Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine große Transformation" [5] formuliert hat.

Die Lancet-Kommission wie auch der WBGU verfolgen einen Ansatz der Mehrebenenpolitik und beide bemühen sich um eine übergreifende gesellschaftliche Lösung globaler Probleme, die insbesondere aufgrund des Klimawandels entstehen. Auch empfehlen beide eine Verringerung des Fleischkonsums aus Gründen des Gesundheits- und Klimaschutzes. Dazu schreibt der WBGU, und es hätte auch die Lancet-Kommission sein können:

"Neben der Verschwendung von Nahrungsmitteln in Haushalten sollten vor allem sich verändernde Ernährungsgewohnheiten zugunsten tierischer Produkte verstärkt kritisch betrachtet werden. Die Viehwirtschaft beansprucht insgesamt bereits etwa drei Viertel der landwirtschaftlichen Flächen und gilt neben der Bevölkerungsentwicklung als dynamischster Faktor in der Landnutzung. Daher hätten Erfolge bei entsprechender Lenkung der Nachfrage eine erhebliche transformative Wirkung und damit ein hohes Ambitionsniveau." [WBGU, 2011, S. 15]

So unterstützenswert all die hier genannten und auch unerwähnt gebliebenen Vorschläge der Lancet-Kommission sind, soll abschließend auf die Gefahr hingewiesen werden, daß zwar das alte System abgeschafft wird, aber daß die dahinterstehenden Interessen wie zum Beispiel der weitere Ausbau der administrativen Verfügungsgewalt zwecks Sicherung der vorherrschenden Eigentumsordnung nicht in Angriff genommen, geschweige denn aus der Welt geschafft werden. Das könnte darauf hinauslaufen, daß sie im neuen Gewand weiter tätig sind und sogar gestärkt aus solch einer Großen Transformation hervorgehen.

Indes kann von einer Kommission, die von dem etablierten Medizinjournal The Lancet eingesetzt wurde und deren Mitglieder meistenteils auf gut dotierten Posten in etablierten Institutionen sitzen, nicht erwartet werden, daß sie die Eigentumsfrage stellt und im Zweifelsfall ihre eigene Funktion als mögliche Wegbereiterin einer Transformation von der gegenwärtigen Diktatur der Marktwirtschaft, die über 840 Millionen Menschen hungern läßt, hin zur Diktatur einer globalen Verteilungsordnung, in der die zu knappen Nahrungsressourcen für alle Menschen unter Titeln wie "ausgewogen" und "gerecht" an die Bedürftigen ausgegeben und in der Konsequenz den zu Nicht-Bedürftigen erklärten Menschen vorenthalten werden, in Frage stellt.

Diese Aufgabe bliebe wohl jenen Kräften vorbehalten, die sich jeglichen Versuchen der Einbindung zum Zwecke ihrer Entmündigung und Entmachtung entziehen, ohne darauf zu verzichten, den eigenen Einfluß auszubauen und die alten Strukturen zu schleifen. Wo das Diktat des Profits durch das Diktat des unmittelbaren administrativen Zugriffs ersetzt wird, kann man nicht sagen, was am Ende verheerendere Folgen für die Mehrheit der Menschen zeitigt.


Fußnoten:

[1] tinyurl.com/y9caf9aw

[2] https://www.cdc.gov/nchs/data/databriefs/db322-h.pdf

[3] https://www.statista.com/statistics/561297/us-average-fast-food-consumption-per-week/

[4] https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(18)31788-4/fulltext

[5] https://www.wbgu.de/fileadmin/user_upload/wbgu.de/templates/dateien/veroeffentlichungen/hauptgutachten/jg2011/wbgu_jg2011.pdf

6. Februar 2019


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