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LAIRE/1327: Hunger - leugnen durch versprechen ... (SB)



Will man den Hunger in der Welt beenden, sollte man nicht versäumen, auch die UN-Hilfsorganisationen abzuschaffen

In heutigen Zeiten sich verschärfender Vorverteilungskämpfe um die letzten Überlebensressourcen, die dem Planeten und seinen tierischen wie auch pflanzlichen Bewohnern im fortschreitenden Maße und mit wachsendem Aufwand abgenötigt werden, erweisen sich auch UN-Hilfsorganisationen als Sachwalter einer gesellschaftlichen Ordnung des Oben und Unten, des Wohlstands und der Armut, der Sattheit und des Hungers.

Noch vor rund zehn Jahren war den herrschenden Kräften der Schreck gehörig in die Glieder gefahren, als sich in einem jener seltenen Momente der Geschichte Menschen erhoben und in mehreren Dutzend Staaten Unruhen ob des nicht mehr zu übersehenden Nahrungsmangels ausbrachen. Regierungen wankten, wurden gestürzt oder gerieten zumindest in Erklärungsnot. Der ungeschriebene Gesellschaftsvertrag, wonach "die da oben" ihre Legitimation daraus ableiten, daß sie "denen da unten" vom Wohlstand abgeben - was unerwähnt bleibt: mittels Tröpfcheninfusion oder Krümelapplikation -, wurde durch den weltweiten Nahrungsmangel demaskiert und als das enttarnt, was der "Vertrag" ist, ein nährstofffreier Dauerlutscher für die breite Verfügungsmasse.

Nicht die Heere an Hungerleidern in den konfliktreichen oder klimatisch benachteiligten Regionen dieser Welt hatten sich erhoben, sondern vor allem der aufstrebende urbane Mittelstand war es, der nunmehr statt zwei oder drei Mahlzeiten pro Tag sich nur noch eine leisten konnte und zu spüren bekam, was als überwunden erhofft war, einen unwirsch knurrenden Magen, der gefüllt werden wollte.

Heute hat die gleiche Erhebung eine andere Form angenommen, die der Migration. Die Menschen erheben sich nicht, um diejenigen zu verjagen, die vom Elend anderer profitieren, sondern um selber ihre Heimat zu verlassen. Während jedoch abenteuerlustige Menschen, die mit dem Auto oder Segelboot einmal um die Welt fahren und alle Fährnisse und Widrigkeiten auf ihrem Weg glücklich überstehen, gefeiert und in den Medien herumgereicht werden, legen andere Menschen, die sicherlich keine geringeren Strapazen auf sich nehmen, nur mit einem Notgepäck versehen Tausende Kilometer, teils durch wüstenartige Unwirtlichkeiten zurück und sind dabei extremen Gefährdungen gleichermaßen durch Ordnungskräfte wie auch Wegelagerer ausgesetzt - nur um anschließend gleich eingedosten Sardinen mit weiteren Leidensgenossen in einen sich kaum über Wasser haltenden Notbehelf gequetscht zu werden, der sie an das rettende Ufer auf der anderen Seite des Meeres bringen soll. Dort werden sie im Falle des erfolgreichen Abschlusses ihrer "Reise" entweder zwecks späteren Gebrauchs als billige und willige Lohnarbeitssklaven "eingelagert" oder aber ohne Zwischenstopp zurück auf Los geschickt.

Zeitgleich mit der steigenden Zahl an Hungernden befinden sich mehr und mehr Menschen auf der Flucht. 68,5 Millionen Menschen waren 2017 gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, drei Millionen mehr als im Jahr davor. Seit jeher treibt Hunger die Menschen um. Der jüngste Welternährungsbericht, der von fünf UN-Organisationen erstellt wurde, gibt für 2017 die Zahl der Hungernden mit 821 Millionen an. Das dritte Jahr in Folge steigt die Zahl derjenigen, die nicht genügend zu essen haben. Damit wird jedoch der Nahrungsmangel nur unzureichend wiedergegeben, denn zusätzlich dazu gilt eine Milliarde Menschen als mangelernährt. Und im Gegensatz zu der sich wachsender Beliebtheit erfreuenden Andeutung, daß 600 Millionen Menschen übergewichtig sind - beinahe so, als könne man den einen was wegnehmen und den anderen geben -, wäre auch hiervon noch ein erheblicher Anteil der Seite der Mangelernährten zuzurechnen, da sich die Betroffenen die nährwertigen, vitaminreichen und zumeist teureren Lebensmittel nicht leisten können. Man könnte dies durchaus als "versteckten Hunger" bezeichnen.

Der von den UN-Organisationen an eine nicht näher spezifizierte Adresse gerichtete Appell, daß die Zunahme des Hungers in der Welt "eine noch größere Aufforderung zu handeln" erzwingt, und die in Aussicht gestellte Beendigung des Hungers durch Formulierungen wie, daß "wir die Anstrengungen verdoppeln müssen", um Klimaresilienz zur Nahrungssicherheit und Ernährung aufzubauen, oder daß mit den Welternährungsberichten "eine neue Ära in der Erfassung des Fortschritts in Richtung einer Welt ohne Hunger und Mangelernährung" eingeleitet worden sei, verkehren den Rückschritt in einen Fortschritt und unterstellen, daß man schon auf dem richtigen Weg ist.

Damit verschleiern die UN-Organisationen einen gesellschaftlichen Dauerwiderspruch. Vor zwanzig, vierzig oder sechzig Jahren klang es ähnlich aus den vollklimatisierten Führungsetagen der Hilfsorganisationen. Das Versprechen, den Hunger zu beenden, wird aufrechterhalten, das vorgebliche Ziel der Abschaffung des Mangels dagegen immer weiter in die Zukunft verlegt. Das jüngste Ziel nennt sich Sustainable Development Goal 2 (SDG 2), z. Dt.: Nachhaltigkeitsziel 2. Es ist eines von 17 Zielen und besagt unter anderem, daß bis zum Jahr 2030 der Hunger beendet werden soll.

Schon mit dem Aufkommen der Grünen Revolution in den 1960er Jahren wurde die Hoffnung formuliert, bis Ende des Jahrhunderts alle Menschen ausreichend mit Nahrung versorgen zu können. Im Jahr 2000 hatte man das Ziel grandios verfehlt, doch war keineswegs Besinnung eingekehrt. Im Gegenteil, nun wurde ein neues Ziel ausgewiesen, das Millenniumsziel. Bis 2015 sollte die Zahl der Hungernden weltweit halbiert werden. Wurde sie aber nicht. Um erst gar keine ernsthafte Diskussion über die vorherrschende Ordnung von Roß und Reiter aufkommen zu lassen, wurde ein noch größeres Versprechen aufgebaut, die Agenda 2030 bzw. SDGs mit besagtem Ziel 2 der Hungerbeendigung. Fünfzehn Jahre Zeitgewinn, um ungestört so weitermachen zu können wie bisher. Die Anstrengungen zu verdoppeln, wie es die UN-Organisationen im Welternährungsbericht fordern, hieße, daß überhaupt schon Anstrengungen unternommen worden sind.

Mit dem verwendeten "Wir" delegiert der Welternährungsbericht die Hungerbeendigung ausgerechnet an jene gesellschaftlichen Gruppen (Politiker, Unternehmer, Wissenschaftler, NGO-Manager und sonstige Funktionseliten), die von der bestehenden Ordnung profitieren, während die, um deren Los man sich angeblich so sehr besorgt zeigt, logischerweise den Hunger nicht beenden können, denn das hätten sie ansonsten längst getan. Sie sollen ihn sogar gar nicht beenden. Sie sollen stillhalten, sich nicht erheben und in Bewegung setzen, sondern statt dessen brav darauf hoffen, daß ihnen irgendwann geholfen wird. Wenn das nicht passiert, das sollen sie solche Welternährungsberichte glauben machen, kann es sich wohl nur um ein höheres Schicksal - hier: bewaffnete Konflikte, Klimawandel - handeln.

Will man ernsthaft den Hunger in der Welt beenden, darf man nicht versäumen, die UN-Hilfsorganisationen abzuschaffen. Jedoch nicht in dem Sinne, daß stattdessen das Hungerproblem dem ominösen "Markt" überlassen wird, wie dies neoliberale Wirtschaftskreise mitunter propagieren - jene Marktkräfte profitieren geradezu von der Not und haben nicht zuletzt ihren Reichtum auf der Verarmung anderer aufgebaut -, sondern im Sinne der endgültigen Beseitigung der Feigenblattfunktion von Hilfsorganisationen. Für das, was danach kommt, gibt es keine Beispiele, doch eines ist gewiß: In einer Welt ohne Hunger können Institutionen keinen Bestand haben, die von dem Problem des Nahrungsmangels ablenken und faktisch dazu aufrufen, zur Tagesordnung überzugehen, indem sie den Eindruck erwecken, man befinde sich auf dem richtigen Weg und könne in immer die gleiche Richtung weitergehen.

14. September 2018


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