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LAIRE/1326: KI - Wachsam begleiten ... (SB)



Vor 50.000 Jahren: Blitzschnell hatte sich Gnak einen handlichen Stein mit einer scharfen Kante ausgesucht. Schwer, aber nicht zu schwer wog er in seiner Hand. Damit würde er Koro den Schädel einschlagen, sobald dieser aus der Höhle trat. Darin hatte dieser sicherlich eine Menge Vorräte versteckt ...

52.025 Jahre später: Admiral Mason blickte kurz hinunter auf die Schaltfläche und drückte entschlossen auf den roten Knopf. Nun konnte er sich zurücklehnen. Zwei Dutzend Minidrohnen verließen das U-Boot und nahmen Kurs auf die gegnerische Hauptstadt. Kurz vor Erreichen ihres Ziels würden sie ausschwärmen, um die Abwehr des Feindes auszutricksen, und den Machthaber aus verschiedenen Richtungen angreifen und liquidieren. Dann endlich wäre der Weg frei, die verstaatlichten Bergbauunternehmen und landwirtschaftlichen Betriebe für die eigene Seite zu öffnen ...

Ob Gnak, Mason oder auch jene programmierten Minidrohnen, ihre Intelligenz unterscheidet sich nicht im geringsten voneinander, allenfalls ihre Intelligenzleistung. Das Wort Intelligenz ist lateinischen Ursprungs, es setzt sich aus den beiden Begriffen "inter" (dt.: zwischen) und "legere" (dt.: lesen, sammeln, wählen) zusammen. Mit Intelligenz ist also nichts anderes gemeint als die Fähigkeit, zwischen vorgegebenen Dingen zu wählen. So ist schon das Kleinkind intelligent, wenn es ausgestanzte Teile wie Stern, Ball, Würfel der passenden Aussparung auf der Unterlage zuordnet. Die Intelligenzleistung gilt als etwas weiter entwickelt, wenn das Kind einige Jahre später ein Puzzle mit 500 Teilen geschenkt bekommt, um daraus ein Bild zu fertigen.

Vielleicht hätte im obigen Beispiel der hochdekorierte Admiral zumindest große Schwierigkeiten, in der gebotenen Eile einen passenden Stein aufzulesen, um seinen Feind zu erschlagen - so wie umgekehrt Gnak, würde er zeitversetzt auf der Brücke eines Spionage-U-Boots landen, nicht wüßte, welchen Knopf er drücken sollte. Intelligenz, also das Erkennen, Lesen und Auswählen, bleibt stets kontextbezogen. Es ist nicht erkennbar, daß sich die Intelligenz des Vorzeitmenschen qualitativ von der des heutigen Menschen in irgendeiner Weise unterscheidet. Selbst hinsichtlich der Motivlage, wofür die Intelligenz "eingesetzt" wird, bedürfte es schon großer Verrenkungen, wollte man dem modernen Menschen andersgeartete Absichten unterstellen als seinen fellbehaarten Vorfahren.

Die Intelligenzleistung, verstanden als die Geschwindigkeit des Lesens und Wählens, dieser beiden fiktiven Personen bleibt weit hinter der Künstlichen Intelligenz (KI) der Minidrohnen zurück. Ausgestattet mit den für ihren Einsatz zweckvollen Sensoren vermögen sie ungleich schneller auf gegebene Situationen zu reagieren als ein Mensch. (Eine Debatte darüber, daß Menschen unter Umständen "instinktiv" und damit vermeintlich zielsicher Entscheidungen treffen, wollen wir uns an dieser Stelle ersparen.)

Minidrohnen, Schachcomputer und andere Geräte, die mit einer Künstlichen Intelligenz ausgestattet wurden, wären somit vom ursprünglichen Wortsinn her nicht intelligenter als der Mensch, da das Prinzip des Lesens und Wählens nicht steigerbar ist. Sie können den Vorgang jedoch ungleich schneller bewältigen. Wenn nun seitens der Wissenschaft, Wirtschaft und übrigen Gesellschaft eindringlich vor der Weiterentwicklung Künstlicher Intelligenz und deren Verwendung in weitgehend autonomen militärischen Waffensystemen gewarnt wird [1][2], dann sind solche Bedenken nachvollziehbar und auch unterstützenswert, weil sie einen geeigneten Anlaß bieten, Fragen stellen und diese weiterzuentwickeln. Künstliche Intelligenz, ob in ihrer sogenannten schwachen Form wie bei den Minidrohnen oder in der starken Form der bis heute noch nicht verwirklichten, jedoch in der Science-fiction beschriebenen Form zum Beispiel einer "Superintelligenz" ist nur deshalb gefährlich, weil der Mensch als des Menschen Feind gefährlich ist und mit der beschleunigten Rechenleistung eine neue Waffe im Arsenal der Herrschenden zur Durchsetzung ihrer Interessen geschaffen wird.

Atomare, biologische und chemische Waffen sind gefährlich, Uranmunition ist gefährlich, Clusterbomben sind gefährlich, Lenkwaffen sind gefährlich, Sturmgewehre sind gefährlich, Interkontinentalraketen sind gefährlich, Panzer sind gefährlich. All diese Waffensysteme sind gefährlich und eine Künstliche Intelligenz ist es selbstverständlich ebenfalls. Doch immer nur, weil der Mensch gefährlich ist. Er hat Zähne, Klauen und einen Verdauungsapparat, und der muß ständig mit Nahrung besänftigt werden, damit er nicht seinen Träger und sich selbst verzehrt. Es geht ums nackte Überleben. Kein anderes Tier hat die Fertigkeit, das Überleben zu Lasten der eigenen Art zu sichern, so weit entwickelt wie der Mensch.

Eine Künstliche Intelligenz, die außer Kontrolle gerät, nicht mehr abzuschalten ist oder gar die Herrschaft über die Menschen ergreift, ist ein beliebter Topos der Science-fiction-Literatur und Filmgeschichte. Bei solchen dystopischen Szenarien wird allerdings die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Wie sieht es denn in der sogenannten Realität aus? Übt der Mensch Kontrolle aus, wenn er beispielsweise die globale Erwärmung antreibt und damit seine eigenen Lebensvoraussetzungen beschädigt? Oder wenn er zigfache Overkillkapazitäten, also die mehrfache Vernichtung des Planeten Erde entwickelt? Oder wenn ausgerechnet das "Gleichgewicht des Schreckens" (nach dem Motto, wenn du mich atomar vernichtest, mußt du wissen, daß das auch deine Vernichtung wäre - Stichwort Zweitschlagskapazität) jahrzehntelang als Spitzenleistung der Friedenssicherung galt und bis heute seine Gültigkeit nicht eingebüßt hat?

Bevor man die Kontrolle an eine KI verlieren kann, muß man die Kontrolle erst einmal ausüben. Daß der Mensch seine Entwicklung kontrolliert, daran bestehen erhebliche Zweifel. Wohingegen keinerlei Zweifel bestehen, daß Herrschaft ausgeübt wird. Die Herrschaft des Menschen über den Menschen wird mit dem Einsatz Künstlicher Intelligenz vorangetrieben. Denn die mit KI ausgestatteten Systeme können die Menschen und ihre Aktivitäten, ihre Vorhaben und ihre Gewohnheiten, mit Lichtgeschwindigkeit und auf vielen parallelen Bahnen durchzählen, sortieren und verknüpfen.

Die Entwicklung Künstlicher Intelligenz steht somit auch für einen gesellschaftlich-technologischen Trend, bei dem die Sozialkontrolle immer mehr verdichtet wird. Diesem Anliegen ist sogar die militärische Ausstattung relativ autonomer Systeme mit superschnellen Rechnern nachgeordnet, anders gesagt, das Militär war und ist Mittel zum Zweck.

Beispielsweise mußte vor rund zweitausend Jahren ein chinesischer Herrscher seine Beamten in die hintersten Winkel des Reichs entsenden, damit sie das Volk - seine Untertanen - zählen. Darüber konnten Wochen und Monate vergehen. Heute läßt sich die genaue Zahl in Bruchteilen einer Sekunde feststellen. Und noch viel mehr. Es läßt sich feststellen und auszählen, ob jemand dem Gemeinwohl dient, wie oft er über bei Rot über die Straße gegangen ist, ob man sich über ihn beschwert hat, usw. Das ist alles im ureigensten Wortsinn intelligent und wird bereits von KIs geleistet. Allein deswegen wären sie durchaus zu fürchten, weil sich über die umfangreiche Auszählung des Menschen in den unterschiedlichsten Facetten Verfügungsgewalt ausüben und verdichten läßt. China, um bei diesem Beispiel zu bleiben, ist darin Vorreiter. Hatte es hier in Deutschland früher bei den Schulzeugnissen noch Kategorien wie "Betragen" und "Ordnung" gegeben, so wurde dies dort zu einer umfassenden Sozialkontrolle weiterentwickelt.

Bislang beschränkt es sich auf einzelne Provinzen, soll aber landesweit ausgedehnt werden, daß alle Bürgerinnen und Bürger soziale Plus- oder Minuspunkte erhalten. Eine schlechte Bewertung führt nicht allein zur allgemeinen Stigmatisierung, was schon leidvoll genug wäre, sie hat auch zur Konsequenz, daß die Person beispielsweise nur schlecht bezahlte Arbeit erhält, keine Fernzüge benutzen darf und andere Repressionen mehr zu erleiden hat. Das alles auf der Basis intelligenter Systeme. Gäbe es Gedankenlesegeräte, die relativ zuverlässig arbeiteten, würden auch diese eingesetzt, um die Menschen zu unterjochen.

Jedoch wird das Prinzip des Herrschens durch die Künstliche Intelligenz nicht neu erfunden. Sollte man deshalb die Warnung vor der gegenwärtigen Entwicklung auf dem Gebiet der Datenverarbeitung ignorieren? Ganz im Gegenteil! Wem daran gelegen ist, die vorherrschenden Verhältnisse und beteiligten Interessen zu hinterfragen und zu bestreiten, sollte nicht säumig werden und keine Gelegenheit ausschlagen, sein Anliegen durchzusetzen. Wer sich jedoch darauf beschränkt, vor KI-Systemen in der Waffenentwicklung zu warnen, legitimiert damit letztlich das Militär, das ja nur auf KI verzichten müßte, um die Kritik gegenstandslos zu machen.


Fußnoten:

[1] tinyurl.com/y8kxktbn

[2] tinyurl.com/y8gz5drw

10. August 2018


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