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LAIRE/1095: Welttierschutztag - zwischen Empathie und Verdrängung (SB)


Vom Tierschutz zur Tierbefreiung zur Befreiung des Menschen


Wer sich die Frage stellt, wie Tiere geschützt werden können, und nicht bereit ist, sie einer bequemen Lösung zu überantworten, könnte sich in ernsthafte Schwierigkeiten bringen. Denn die Frage reicht weiter, als es auf den ersten Blick den Anschein hat.

Hat ein Huhn, dessen Käfig auf das doppelte Ausmaß vergrößert wird, ein lebenswerteres Leben? Dem wird leicht zuzustimmen sein, aber wäre das Tier damit geschützt? Nach wie vor ist sein Leben vorgezeichnet, es dient dem Verzehr. Das Schwein, das nicht mehr kastriert wird, der Affenkäfig im Zoo, der vergrößert wird, und der Hund, der nicht mehr scharf gemacht wird, um ihn in Kämpfen gegen seinesgleichen antreten zu lassen, für sie alle verbessern sich die Lebensverhältnisse aufgrund von Tierschutzmaßnahmen. Wo aber endet Tierschutz, wo wäre er erfüllt? Müßte man nicht konsequenterweise sagen, daß ein Tier erst dann geschützt ist, wenn es keinerlei Verwertung durch den Menschen mehr erfährt? Hieße das nicht, vollständig auf tierische Nahrung zu verzichten, keinerlei Leder zu tragen und auch keinen tiervernichtenden Naturschutz, keine Safari, kein Robbenschlachten, keine Rattenvernichtung, etc. zu betreiben?

Die Ausrufung eines Welttierschutztages am heutigen 4. Oktober beweist, daß solche Fragen auf gesellschaftlicher Ebene nicht gestellt werden. Andernfalls würde am heutigen Sonntag nicht der Welttierschutztag, sondern der Welttierbefreiungstag begangen werden. Tierbefreier könnte man die radikalere Variante der Tierschützer nennen. Tierbefreier leben meist vegetarisch, wenn nicht vegan, tragen keine Lederkleidung und werden hin und wieder handgreiflich, um ihre Vorstellung von einer tierbefreiten Welt durchzusetzen. Je nach Fraktion innerhalb der Tierbefreiungsbewegung kann das darauf hinauslaufen, daß sie Nerze und Marder aus ihren Käfigen befreien, Kampagnen gegen die Tierverbrauchsforschung betreiben oder gegen die Herstellung und den Verkauf von Pelzen und Pelzersatz demonstrieren.

Nach der Vorstellung von vermutlich der Mehrheit der Tierbefreier steht der Mensch nicht über dem Tier, und sie unterstreichen diesen Standpunkt, indem sie Kategorien wie "menschliche und nicht-menschliche Tiere" verwenden. Folgerichtig dürfte die Tierbefreiung nicht vor der Befreiung des menschlichen Tiers haltmachen - schon befinden wir uns inmitten einer brisanten Debatte. Denn auch hier stellt sich die Frage, wie und von was der Mensch alles befreit werden soll und ob Befreiung im umfassenden Sinne nicht konsequenterweise das politische System einschließen und sogar darüber hinausgehen müßte.

Nach dem Ende der Ost-West-Blockkonfrontation und des real existierenden Sozialismus wurde die Systemfrage scheinbar beantwortet. Das kapitalistische Verwertungsmodell hat sich weltweit durchgesetzt, letzte Widerstandsnester wie Kuba oder Nordkorea werden womöglich über kurz oder lang assimiliert. Mit dem südamerikanischen Bolivarismus und der islamischen und christlichen Sozialethik beispielsweise existieren zwar noch Entwürfe, die den Kapitalismus daran hindern, sich zu seiner vollsten, blutroten Blüte zu entfalten, der Befreiungsgedanke innerhalb dieser Richtungen wird jedoch relativiert ("gerechte" Verteilung der Einkommen im Bolivarismus) oder mit dem Konzept einer jenseitigen Erlösung verknüpft (in den Religionen). Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, daß innerhalb dieser so verschiedenen Ansätze nicht Ideen des gesellschaftlichen Miteinanders stecken, die dem kapitalistischen System fremd sind und das Leben vieler Menschen erträglicher machen könnten. Indes kann von einer Befreiung der menschlichen und der nicht-menschlichen Tiere weder beim Bolivarismus noch der islamischen oder christlichen Sozialethik die Rede sein. Zwischen der Idee der uneingeschränkten Befreiung von Tier und Mensch, und politischen oder religiösen Vorstellungen zum Umbau der Gesellschaft klafft eine riesige Lücke.

Ideen oder Denkkonzepte aus Religion (Paradies) oder Mythen (Feenberg) halten die Erinnerung an den Wunsch nach einer Brücke hin zu einer verwertungsfreien Koexistenz wach - doch wer weiß solche Spuren der Überlieferung zu lesen oder gar in konkrete Handlungsoptionen umzusetzen? Sicherlich niemand, der zwischen Tierschutz und Tierbefreiung und zwischen Tierbefreiung und Befreiung des Menschen unterscheidet.

Die Befreiung von allem, was den Menschen beherrscht, verweist auf Bedingungen, die über gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse hinausreichen. Denn auch in einer verwirklichten Anarchie, in der sich alle Mitglieder vegan ernährten, besäßen die Menschen noch Zähne und einen Verdauungsapparat. Der Zwang zur Verstoffwechselung beherrscht den Menschen fundamental, so daß sich Befreiung nicht allein auf tierische Nahrung beschränken dürfte, sondern pflanzliche mit einschlösse. Schließlich zeigen auch Pflanzen eindeutige Überlebensreaktionen. Man könnte sagen, daß sie einen eigenen Standpunkt vertreten, und nur weil sie nicht weglaufen können, bedeutet das nicht, daß es ihnen gleichgültig ist, ob sie verzehrt werden oder nicht ...

Wie eingangs gesagt, wer sich die Frage stellt, wie Tiere geschützt werden können, bringt sich womöglich in Schwierigkeiten. Das Begehen eines Welttierschutztags bewegt sich somit zwischen Empathie mit Tieren und Verdrängung weitergehender Fragen, wie sie hier bestenfalls angerissen werden konnten.

4. Oktober 2009